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Brasilien: Der kurze Flug des goldenen Adlers

Eigentlich hätte es das große Comeback der berühmtesten Sambaschule Rio de Janeiros werden sollen. Seit 34 Jahren hat die Portela nicht mehr die "Grupo Especial" gewinnen können, in der die 14 besten Sambaschulen gegeneinander antreten. Für dieses Jahr hatte man sich viel vorgenommen, extra die alten Geister beschworen. Und es sah auch so aus, als ob die Rechnung aufgehen würde...

Es ist der letzte Mittwoch vor Carnaval. Nur noch vier Tage bis zum Einmarsch ins Sambódromo, in die Arena, durch die seit 20 Jahren die Sambaschulen Rio de Janeiros defilieren.


Auf dem Versammlungsplatz der Portela im Vorort Oswaldo Cruz herrscht gespannte Erwartung. Dieses Jahr, so ist man sich sicher, wird es endlich wieder zu einem der vordersten Plätze, wenn nicht sogar zum Sieg reichen. Die traditionsreiche Schule ist seit einigen Monaten in aller Munde. Vor allem Dank des enormen Erfolges eines ihrer Mitglieder: Zeca Pagodinho.

Der Sänger feiert zurzeit mit seiner CD und DVD "Acústico MTV", auf der die Velha Guarda, die Riege der großen alten Herren der Schule, mitmusiziert, riesige Erfolge.

Er durfte seine CD sogar bei einem der berühmten Barbecue-Abende im Hause des Präsidenten Lula vorführen, der danach verkündete, noch nie eine so gute CD gehört zu haben, und seine ebenfalls eingeladene Ministerriege stimmte dem freudig zu.

Während die bateria, die Rhythmussektion der Schule, sich für die Generalprobe warm trommelt, sitzen Mitglieder der Velha Guarda und der Direktion bei einem Bierchen zusammen, um letzte Absprachen zu treffen. Monarco, Kompositor und so etwas wie der Altmeister des Samba und Aushängeschild der Schule, und Marquinhos, ebenfalls Samba-Kompositor und Sänger der Portela, sind zuversichtlich. "Die bateria der Mangueira ist nicht schlecht," urteilt Marquinhos über eine der stärksten Rivalinnen, "aber warte bis Du die bateria der Portela gehört hast!"

Gegründet wurde die Portela am 11. April 1923. Damit ist sie die zweitälteste Sambaschule Rio de Janeiros. Ursprünglich aus dem Stadtteil Madureira kommend, hat man vor einigen Jahren den Sitz der Schule ein paar hundert Meter die Straße hinunter verlegt.

Hier im Stadtteil Oswaldo Cruz hat die Schule ein großes Gelände erworben und eine Halle mitsamt Vorplatz angelegt, auf dem mehrere tausend Anhänger der Schule regelmäßig zusammen kommen und die Ensaios, die Proben der Schule, verfolgen. So wie heute die Generalprobe für den Carnaval 2004.

Tia Doca ist auch da. Seit über 30 Jahren ist die große alte Dame des Pagode Mitglied in der Portela. Angefangen hat sie als Trägerin der corda, eines Absperrseils, dass bei den Paraden die tanzenden Darsteller der Schule vor allzu lästigen Störenfrieden schützen soll. "Ich war schon alles hier in der Portela, Direktorin, Kompositorin – und jetzt gehöre ich zur Velha Guarda."

Berühmt geworden ist Tia Doca vor einigen Jahren mit ihrer Schallplatte "O canto dos escravos", auf der sie afrobrasilianische Musik aus den Zeiten der Sklaverei einspielte. "Ich habe jetzt erfahren, dass man meine neue CD sogar in Frankreich kaufen kann. Dabei habe selbst ich kein einziges Exemplar von der Plattenfirma bekommen. Ich habe die Aufnahmen gemacht, ohne einen Vertrag zu unterschreiben. Danach hat mir die Plattenfirma gesagt, dass sie mir leider nur 30 Reais für die Background-Gesänge geben könnte. Und das auf meiner eigenen Platte. Kannst Du so was glauben?!"

Die Geheimwaffe der Portela ist Maria das Dores Rodrigues, Dodô genannt.

An allen 21 Siegen der Portela war sie beteiligt, und dieses Jahr, mit 84 Jahren, will sie endlich ihren 22. Sieg feiern. Als Madrinha, als Patin der bateria, wird sie vorneweg ins Sambódromo einmarschieren. "Heutzutage ist der Samba ein bisschen schneller. Früher war der Schritt etwas langsamer, da konnte man noch etwas mehr Samba tanzen."

Vielleicht würde Dodô ja zugute kommen, dass man für dieses Jahr ein altes Sambastück ausgegraben hat. Als ob man die Wiederauferstehung der Portela zu alter Größe beschwören wollte, wählte man die Präsentation aus, die die Portela bereits 1970 zu ihrem letzten Titel geführt hatte: "Legenden und Mysterien des Amazonas".

In ihr sind einige der berühmtesten Märchen des Amazonas miteinander verwoben, wie jenes, welches von der Leidenschaft zwischen Sonne und Mond erzählt, die für immer getrennt voneinander leben müssen. "A lua apaixonada chorou tanto, que do seu pranto nasceu rio-mar…" Der verliebte Mond weinte so sehr, dass seine Tränen den mächtigen Amazonas-Strom bildeten.

Eine andere Geschichte erzählt von dem rosa boto, halb Mensch, halb Delphin, der die jungen Mädchen zum Schwimmen mitnimmt und sie schwanger zurücklässt. Und so stehen sechs im 7. Monat schwangere Frauen auf dem letzten Wagen der Portela, tanzend und winkend.


Der erste der sieben Prunkwagen wird von einem riesigen goldenen Adler dominiert. Der Adler ist das Symbol der Schule, und da der erste Allegorienwagen das Märchen von El Dorado, der mysteriösen goldenen Stadt, erzählt, überzog man den Adler mit goldener Farbe. Drohend hat er seine Flügel ausgebreitet, und ab und zu stößt er einen markerschütternden Schrei aus.

Es ist Montagmorgen. Eigentlich sollte die Portela gegen 3.30 Uhr als letzte von sieben Schulen den ersten Tag der Paraden beschließen. Doch der Zeitplan ist aus den Fugen geraten. Vom langen Warten sind einige Teilnehmer sichtlich benommen, ihre Gesichter von Müdigkeit gezeichnet.

Die Sonne geht bereits auf, als sich die Portela endlich gegen 6.00 Uhr anschickt, ins Sambódromo einzumarschieren. Dodô vorne weg, umgeben von Fotografen und Kamerateams. "Ich weiß wirklich nicht mehr, mein wievielter Carnaval das ist", versichert sie den neugierigen Reportern.

Dann ertönt die Sirene als Zeichen, dass die Mangueira, die vorherige Schule, die Avenida des Sambódromo am anderen Ende verlassen hat. Die ersten Feuerwerkskörper explodieren über den Köpfen der 3.800 Mitglieder der Portela, die sich in einem schier endlosen Zug auf der für den Verkehr gesperrten Avenida Presidente Vargas aufgereiht haben, bereit, im Verlauf der nächsten Stunde ins Sambódromo, auch Marquês de Sapucaí genannt, einzumarschieren. Fünf kurze Trommelschläge geben der bateria das Signal, und sie legt los.

Begeisterung löst die Velha Guarda aus, die nicht, wie sonst üblich, ganz zum Schluss einmarschiert, sondern, in Nachahmung einer Tradition aus alten Tagen, direkt hinter der Eröffnungsgruppe. In einer Reihe schreiten sie daher, Monarco, Tia Doca, Paulinho da Viola. Mit dabei Zeca Pagodinho und die Sängerin Marisa Monte. Erhaben ziehen sie ihre weißen Hüte vor dem begeisterten Publikum.

80 Minuten später erreichen die letzten Gruppen der Portela die Apoteose, den großen Platz am Ende des Sambódromos. Einige sind enttäuscht, dass viele Zuschauer bereits nach Hause gegangen sind. Doch die, die noch da sind, singen das Lied vom verliebten Mond endlos weiter.


Schnell verbreitet sich die Nachricht, dass die Zuschauer von TV Globo der Portela die besten Noten des gesamten ersten Abends gegeben haben. Und auch nach der zweiten Nacht mit den restlichen sieben Paraden behält die Portela den ersten Platz. "Das war die alte Portela", gibt sich Monarco in einem ersten Interview siegesgewiss. "Ich habe heute die Uniform der Portela getragen, weil ich davon überzeugt war. Was sie diese Jahr gesehen haben, war die Portela, die nichts und niemand nachsteht."

Und Dodô, die dieses Jahr anstelle der 30-jährigen Fernsehmoderatorin und Exfreundin von Ayrton Senna, Adriana Galisteu, der Portela voranschritt, zeigte keine Spur von Müdigkeit: "Wenn es nötig ist, mache ich das ganze noch einmal von vorne." Am nächsten Tag schreibt eine große Zeitung, dass die 84-jährige lebendiger gewesen sei als ihre dröge 30-jährige Vorgängerin.

Die Medien feierten die Rückkehr der Portela. Überall wurde sie als der große Favorit auf den Titel gehandelt. Und so erwartete man gespannt die für Aschermittwoch angesetzte Auszählung der Richterstimmen. Und bis zur vierten von 40 Wertungen lag man gemeinsam mit dem alten und neuen Champion Beija-Flor auf dem ersten Platz.


Dann aber begann Portela, Punkte zu verlieren. Und das ausgerechnet in der Bewertung der bateria. "Filho da Puta" hörte man eine Stimme aus den Reihen der Portela-Anhänger rufen, als die erste niedrige Note verkündet wurde. Als Schwachpunkt erwiesen sich zudem die Kostüme und die Allegorienwagen, so dass letztlich nur ein enttäuschender 7. Platz heraussprang. Nicht einmal zur Parade der sechs besten Schulen am Samstag hatte es gereicht.

Und so wird Dodô wohl oder übel nächstes Jahr noch einmal antreten müssen, um endlich mal wieder einen Sieg mit der Portela feiern zu können. Die Zeit hat sie dabei aber auf alle Fälle auf ihrer Seite. "Sie wird mit den Jahren immer besser" ist man sich in der Portela sicher.

Text + Fotos: Thomas Milz druckversion   

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