logo caiman
caiman.de archiv
 

Argentinien: Der Geigenspieler

Es war ein erfolgreicher Tag. Sie hatte genügend zu essen bekommen, einige ihrer Kartons verkauft und vor ein paar Tagen ein Plätzchen zum Schlafen gefunden. Nur um ihren Bruder machte sie sich große Sorgen, der in den letzten Tagen nicht mit zur Arbeit gehen konnte, weil ihn die Grippe erwischt hatte. Aber sie hatten nicht genügend Geld, um das ein oder andere Medikament zu kaufen. Und Diebstahl kam für sie nicht in Betracht. So etwas tut man nicht. Sie betrachtete ihren kleinen Bruder stumm und begann ihn von oben bis unten zu mustern. Er war ein schönes Kind, oder besser, er hätte ein schönes Kind sein können. Die Haare hatte er schon zwei Wochen nicht mehr gewaschen, ebenso den Rest des Körpers mit Ausnahme des Gesichts und der Hände. Das konnte man ganz gut in den Brunnen machen, die in der Stadt verstreut waren. Seit einigen Wochen jedoch war aufgrund der kühlen Temperaturen an eine Ganzkörperwäsche nicht mehr zu denken.


Unter seinem schwarzen Wuschelkopf traten die Augen hervor, die er von seinem Vater geerbt hatte. Sie waren groß und braun und blitzen immer sehr aufmerksam, wenn er versuchte, die große Schwester nachzuahmen oder das aufzunehmen, was sie ihm beibrachte. Im rechten Auge hatte er einen kaum wahrnehmbaren kleinen grünen Fleck, der wohl von der Mutter stammen musste. Auch die Wimpern waren sehr lang für einen Jungen, aber es passte sehr gut zu ihm.


Seine schmale Nase war hübsch anzusehen, doch machte sie es ihm in seinem kranken Zustand nicht leichter damit zu atmen. Ein leichtes, aber beruhigend gleichmäßiges Röcheln war zu hören. Sein Mund war leicht geöffnet und man konnte einen Schneidezahn erkennen. Den anderen konnte man in der Dunkelheit nur erahnen, denn er war nicht mehr weiß, sondern dunkel gefärbt, weil er durch einen kleinen Unfall abgestorben war. Der Rest des Gesichts und des Körpers waren tief eingewickelt in eine doppelte Schicht alter Decken, die sie sich auf der Straße zusammengesucht hatten. Als Kopfkissen diente ein Pullover.

Als der Junge bemerkte, dass seine Schwester von der langen Nacht nach Hause gekehrt war, blinzelte er sie schweigend an und sie nickte mit dem Kopf. Anschließend ließ er sich wieder erschöpft in sein Schlafgemach sinken. Sie legte sich neben ihren Bruder, deckte ihn zu und versuchte sich selbst ein wenig mit Hilfe einer kleinen Decke und ihrer Jacke zu wärmen. Draußen wurde es jetzt hell, aber in dem Untergeschoss dieses Rohbaus herrschte eine angenehme Dunkelheit und sie konnten einigermaßen sicher sein, unentdeckt zu bleiben. Für wie lange, das wussten sie selbst nicht genau, aber für den Augenblick war es ausreichend, um dem Wetter zu entfliehen und sich für die langen Nächte auszuruhen. Während sie noch nachdachte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf und wachte schließlich am frühen Nachmittag auf. Ihr war recht kalt geworden und am Fußende kauerte ein kleiner Hund, der ebenso abgerissen wirkte wie sie selbst. Auch er hatte wenig zu essen, wusste nicht, wohin er gehen sollte und versuchte das Beste aus seinem Leben zu machen. Sie beschloss, ihm ein wenig von dem alten Brot zu geben, das sie in einer kleinen Kiste versteckt hielt.

Dann machte sie sich erneut auf, um die Arbeit der Nacht zu beginnen; allerdings nicht ohne sich zu vergewissern, dass Ihr Bruder gut zugedeckt weiterschlief und auch nicht ohne ihm einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. Sie trat in den eisigen, abendlichen Wind hinaus, rannte zwei Blocks die Straße hinunter und gelangte in den warmen Luftzug des U-Bahneinganges. Hier war es schon eher auszuhalten, aber sie musste sich beeilen, wenn sie noch einen guten Platz erwischen wollte. Sie ging die Treppe herunter und erblickte andere Kinder, die bereits an den "Bettlerplätzen" standen und von den Pendlern Geld verlangten. Sie verachtete diese Jungen und Mädchen, weil sie nichts für ihr Geld taten, sondern einfach nur dastanden und die Hand aufhielten. Manchmal trugen sie mit Absicht ältere Kleidung als sonst und beschmierten ihr Gesicht mit Staub und Dreck von der Straße, um noch mehr Mitleid zu erwecken.

Allerdings hielt sie sich nicht lange mit dieser Art Überlegung auf, da sie mit der U-Bahn ein paar Stationen weiter wollte, dorthin, wo mehr Fahrgäste ein- und ausstiegen. Natürlich würde sie nicht das Geld für ein Ticket haben, aber man konnte ja den einen oder anderen Trick anwenden, wobei man um diese Jahreszeit gar nicht so sehr darauf angewiesen war, da das Aufsichtspersonal am Eingang auch oder gerade wegen der Kinder Mitleid empfand und sie ohnehin ohne Fahrschein passieren ließ. Zwar sollten sie nicht mit der U-Bahn fahren, aber das würde sie nun auch nicht abhalten. Draußen war es lausig kalt und sie konnte schwerlich mehr als 26 Blocks marschieren, um an ihr Ziel zu kommen. Als sie sich näherte, sah sie den Bahnwärter, den sie bereits kannte. Er war ein netter Mann mittleren Alters, der sie nur einmal nicht in das Innere vorgelassen hatte, weil sie zuvor in einem parkenden Müllwagen nach brauchbaren Dingen Aussicht gehalten und fürchterlich gestunken hatte. Heute wurde sie mit einem kleinen Lächeln durch gewunken. Der erste Teil der Hürde war genommen. Nun musste sie nur noch unbemerkt in die Bahn, aber auch das schaffte sie: scheinbar ziellos schlenderte sie zum Zeitungsstand und versteckte sich dahinter. Als dann das Signal der haltenden Bahn ertönte, ehe sich die Türen schlossen, huschte sie schnell hinein. Die einzige Gefahr bestand jetzt nur noch darin, dass sich die Türen erneut öffneten, weil einer der Fahrgäste für einen anderen die Türen blockierte. Doch nichts dergleichen geschah.

Die Menschen im Wagon waren größtenteils desinteressiert, lasen oder starrten sich gegenseitig misstrauisch an. Was sie wohl alle von einander denken mochten? Und von ihr selbst? Ihr selbst war es egal und sie ertappte sich dabei, wie sie gerade über eine junge schwangere Frau nachdachte, als sie den Geigenspieler hörte. Er war ihr schon ein paar Mal aufgefallen und hatte sie mit seiner guten Laune inspiriert. Er besaß dichte Locken, trug die Haare hinten länger als vorne, und dunkle, sehr freundliche Augen in einem runden Gesicht. Meistens, so auch heute, sah man ihn in einem grünen Hemd, ausgestattet mit seiner Geige und dem Geigenkasten, der als Behältnis für das erspielte Geld diente. Seine Melodien klangen phantastisch, auch wenn sie selbst keine davon wirklich kannte. Es waren Stücke, die nicht auf der Straße gespielt wurden und auch nicht im Radio; aber dennoch wunderschön.

Er schaffte es immer wieder, dass der ganze Wagon applaudierte und der eine oder andere ihm eine Münze zuwarf, so dass er eigentlich recht gut leben musste. Der Geigenspieler wollte gerade sein Stück beginnen, als sich ihre Blicke trafen. Nur für einen kurzen Augenblick und dennoch hielt der Musiker inne und sagte dann laut, dass sein nächstes Lied für all die Menschen sei, denen es nicht so gut gehe und dass er dieses Lied einem kleinen Mädchen mit braunen Augen widmen würde. Sie wusste genau, dass er das Lied nur für sie spielen würde und Röte schoss in ihr Gesicht. Dann begann er und es war herrlich.

Im Abteil herrschte absolute Stille, Zeitungen und Bücher waren vergessen. Alle Blicke richteten sich auf den jungen Mann, der seiner betagten Geige die wundervollsten Töne entlockte. Seine Finger flogen über die Saiten und der Bogen wippte gleichmäßig im Rhythmus der Musik. Sie war so gebannt von dem Stück, dass sie selbst nicht bemerkte, wie sie mit ihrem kleinen Körper begann, die Musik in sich aufzusaugen und die Beine sich bereits bewegten. Sie tanzte. Wie in einem riesigen Korridor näherte sie sich dem Musiker und blickte dabei in jedes einzelne der Gesichter, die sie mit großen Augen, offenen Mündern, aber auch mit einem Lächeln oder mit Kopfschütteln bedachten. Sie wusste nicht, wie lang das Lied andauerte, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und sie konnte nicht aufhören zu tanzen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr und als sie schließlich durch den langen Gang des Wagons bei dem Geiger angekommen war und dieser das Stück zu Ende brachte, prasselte riesiger Applaus auf die beiden nieder. Sanft nahm der Musiker die Kleine in den Arm und drückte sie an sich. Es war ein überwältigendes Gefühl für sie gewesen und ihre Beine knickten beinahe ein, als sie durch das Fenster des haltenden Zuges das Schild ihrer Station sichtete. Sie wand sich aus den Armen des Geigers und huschte durch die offene Tür.

Text + Fotos: Andreas Dauerer druckversion   

Weitere Artikel zu Argentinien findet ihr im Archiv.







 
Archiv
nach




© caiman.de - impressum - disclaimer - datenschutz pa´rriba