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[kol_2] Grenzfall: Sandy Klaus und der venezolanische Weihnachtsschwindler
Märchen wider die Businesskasperei zur Festlichkeit

Seit Tagen schon war Sandy Klaus, die Schwester von Mandy Klaus, übler Laune. Wie jedes Jahr um diese Zeit stand ihr großer Arbeitstag bevor. Wie jedes Jahr sollte sie die Details ihres Einsatzes erst bei Abfahrt erfahren.

Der Morgen fing schon beschissen an, ein echter Klassiker, eingeseift im ungeheizten Bad, die Gasflasche leer, Tod durch Erfrieren nahe - Fluchen auf unterstem Niveau aus vollem Hals. Ein Schneeschauer tobte, Hölle, und ihr Erzfeind, Knecht Quäl das Kind mit widerwärtigen, zum Erbrechen reingeknüppelten Gedichten Ruprecht, hatte sich das letzte Quarkbällchen geschnappt.

Doch dann mit Pauken und Trompeten kehrte das Himmelreich auf Erden zurück: Die erst für den Nachmittag erwartete Mitteilung entfaltete ihren Glanz auf dem Bildschirm: Venezuela – drei Schwestern zwischen zwei und sechs Jahre alt. Sandy war auf einen Schlag besser gelaunt und informierte Mandy: "Sie haben mein Flehen erhört, ich darf ins Warme." Ein Urlaub am Strand würde sich anschließen lassen – dachte sie.

Der venezolanische Weihnachtsschwindler

Sie ergriff den gefüllten Sack, der mittlerweile vor ihrer Tür abgestellt worden war und düste los. Pünktlich zum Singen, wenn auch keinem allzu festlichen, wie es zunächst schien, traf sie in ihrem Bestimmungsort in den Anden Venezuelas ein: Die drei Gören hatten sich vor dem Haus in einen Jeep eingeschlossen, die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht und grölten mit MIA, der Stimme vom Band, auf den Sitzen herumtollend: Ein hungriges Herz durchfährt ein bittersüßer Schmerz – sag mir wie weit, wie weit, wie weit willst du geeeeehn...

Sandy Klaus stahl sich um den Wagen herum, aber um überhaupt bemerkt zu werden, hätte sie schon mächtig in die Animationskiste greifen müssen, und klingelte. Ihr wurde geöffnet und "Kinder draußen bleiben" entgegengerufen. Dann erst wurde sie wahrgenommen. Doch statt eines herzhaften Empfangs, begann ihr gegenüber zu lachen, drehte sich um und rief: "Bruder, dass musst du dir ansehen und bring die Kamera mit. Jetzt schickt uns Chávez schon die Nikolausis ins Haus."
"Gestatten Sandy Klaus", versuchte sich Sandy Gehör zu verschaffen, was aber unterging, weil der Bruder um die Ecke bog:
"Wieso steht da nirgends revolución navideña, Weihnachtsrevolution, auf der roten Kutte? Ach, die will bestimmt die Glühbirnen auswechseln. Hab ich drüber gelesen."
Und an Sandy gewandt: "Du kommst doch von der Energierevolution, oder?"
"Quatsch hermano, die waren vor Monaten hier", antwortet der andere Bruder und zugleich Papi, und Sandys Artikulationsversuche verloren sich erneut im weihnachtlichen, aber zumindest wohltemperierten Abendhimmel.
In diesem Moment verstummte MIA und die Jeeptür ging auf: "Papaaa, wir wollen endlich Geschenke!"
"Ich weiß, Kinder. Wir sind bald soweit. – Bruder, hol noch zwei Bären-Bier aus dem Kühlschrank. – Wisst ihr was! Jetzt schnappt ihr euch den Sack von dem Nikiverschnitt hier und dann sind wir auch schon gleich fertig mit Baumschmücken."
"Papi, das ist langweilig. Wir wollen Geschenke..."
Nun endlich sah Sandy ihren großen Auftritt nahen: "Ich bin extra von weit her gekommen, um euch Dreien Geschenke zu bringen."
Da verstummte erst die Älteste, dann die Mittlere und endlich auch die Kleinste, nachdem ihr die Mittlere von hinten eins mit der flachen Hand über den Kopf gezogen hatte. Nun flüsterte die Älteste der Mittleren ins Ohr: "Sag der Frau, sie soll endlich verteilen."
Dann flüsterte die Mittlere der Kleinsten ins Ohr: "Díle a la señora: ¡Queremos Geschenke!"
"¡Queremos Geschenke!" Und gleich noch einmal etwas lauter: "¡Queremos Gescheeenke!", schrie sogleich die Jüngste.
Sandy Klaus war in ihrem Element und verteilte, was der Sack hergab. Eine Puppe für die Älteste, ein Puzzle für die Mittlere und einen Teddy für die Kleinste. Sie wollte nur noch schnell in die erfreuten Gesichter der Kiddys blicken, wenn diese ihre Geschenke ausgepackt hätten und dann an die Playa weiterdüsen. Doch während die Älteste, die als erste ihr Geschenk vom Papier befreit hatte, nur entgegnete: "Ne Puppe? Toll! Ist doch kein Kindergeburtstag", pfefferte die Mittlere ihr Puzzle einfach in Richtung Auto, begleitet von dem Wort: "¡Feo!"

Sandy war entsetzt. Sie blieb wie angewurzelt stehen und schaute nun auf die Kleinste. Doch die Älteste ergriff die Initiative und flüsterte der Mittleren ins Ohr: "Sag der señora, wir wollen mehr Geschenke."
Die Mittlere trat daraufhin an das Ohr der Kleinsten heran und flüsterte: "Sag, mehr Geschenke."
Und die Kleinste tat wie ihr aufgetragen: "¡Más! Más Gescheeeenke."

Oh große, schwere Not, der Sack war doch schon leer. Sandy griff in ihre Tasche und erwischte glücklicherweise ein paar neue Bolívares, die ab Januar die Währung des alten Bolívares im Verhältnis 1:1000 ablösen sollten und händigte sie an die Rasselbande aus, die sich daraufhin zu freuen und zu tanzen begann und Sandy an den Händen ins Haus zog, um mit ihnen heute Abend zu feiern. Während die Kinder in dem Schrank ihrer Mutter nach neuen Klamotten wühlten, weil ihnen der Aufzug Sandys äußerst albern erschien, ereilte Sandy die Nachricht von Mandy, dass sie einem Computervirus, dem gemeinen venezolanischen Weihnachtsschwindler, auf den Leim gegangen war, der dieses Jahr alle zu verteilenden Geschenke nach Venezuela transferiert hatte.

Egal, dachte Sandy, schaltete das Handy ab und sagte dem Bruder, er solle weitere Bären aus dem Kühlschrank holen. Immerhin schien es ihr erstes Weihnachten zu werden, das dem wahrhaften Leben nahe und fern zugleich Glanz und Gloria über ihren monotonen Businesskasperalltag bringen können würde.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 12/2007] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]


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