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[art_3] Bolivien: Die Mennoniten - Leben wie vor 300 Jahren
 
Im Südosten Boliviens leben rund 25 000 strenggläubige Mennoniten nach deutschen Bräuchen aus dem 17. Jahrhundert. Ein "Gott gefälliges Leben" soll sie vor den Verlockungen der Moderne schützen.

Ungewöhnlich groß sind die Schaufelräder des Traktors, mit dem Bernhard Dyck sein Feld bestellt. Sie sollen den 40-jährigen Bauern vor der Fahrt in die Hölle bewahren. "Wir haben diese Räder, um der Versuchung zu widerstehen, spazieren zu fahren", erklärt Bernhard in langsamem, hölzern klingendem Althochdeutsch, und tatsächlich machen die eisernen Schaufeln die Räder für jede Straße unbrauchbar. Bequem spazieren zu fahren - das wäre nicht gottgefällig.

Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein im Südosten Boliviens, in der Mennoniten-Kolonie "Nueva Esperanza" (Neue Hoffnung).

Hier hat die Familie Dyck gefunden, was ihre Vorfahren so lange gesucht haben: guten, günstigen Boden und einen Staat, der sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischt. Denn die Mennoniten, als kalvinistische Widertäufergruppe im 16. Jahrhundert nach der Reformationsbewegung in Friesland entstanden, waren von jeher Außenseiter.

Weil sie den Wehrdienst und die Kindstaufe ablehnen, wurden sie vom preußischen Staat und der Kirche verfolgt. Also wanderten sie Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst in die Ukraine und später auch nach Kanada aus.

Als ihnen dort nach dem Ersten Weltkrieg die Privilegien aberkannt wurden, wie die deutsche Sprache, eigene Schulen und die Freistellung von der Wehrpflicht, zogen die besonders strenggläubigen Mennoniten nach Südamerika weiter. Rund 25 000 von ihnen leben heute in Bolivien.

Zwölf Stunden dauert die Fahrt von der Kolonie bis Santa Cruz, der nächstgrößeren Stadt. Das ist weit genug, um die Moderne auf Abstand zu halten. "Wir kämpfen jeden Tag aufs Neue, auf das wir das Wort Gottes richtig verstehen", meint Bernhard und streicht fast ein wenig verlegen über seine grobe Latzhose. Das bedeutet, auch "nur von dem zu leben, was wir durch unserer eigener Hände Arbeit und der Gnade Gottes erhalten". Jeden Morgen um fünf stehen er und seine Frau Anna gemeinsam mit ihren acht Kindern auf und machen sich ans Tagwerk: Kühe melken, Hühner füttern, den Gemüsegarten pflegen und die Felder bestellen. Das seit einigen Jahren Traktoren für die Feldarbeit zugelassen sind, war keine Selbstverständlichkeit. Doch am Ende entschied der Vorstand der Kolonie, dass "es Gott gefällig ist, wenn die Ernte reich wird".

Bernhards Frau Anna hat ihre langen blonden Haare unter einem Kopftuch versteckt. Emsig tritt sie das Pedal ihrer alten Singer-Nähmaschine. Ihre von der Feldarbeit rauhen Hände bleiben immer wieder an dem Stoffrest hängen, aus dem sie für ihre vierjährige Tochter Katharina ein Kleid näht.

In ihren 38 Lebensjahren scheint sie nur selten gelächelt zu haben, und das ist konsequent, denn weltlichen Freuden halten sich die Mennoniten fern. Tanz und Musik sind verpönt, nur Kirchenlieder sind gestattet.

Doch das Vorwort des 1996 in Kanada in alter Druckschrift erschienenen Gesangbuchs mahnt: "Du wollest, christlicher Leser, dieses Gesangbuch nicht aus bloßer Gewohnheit gebrauchen, noch Deine Sinne nur an den Melodien ergötzen, sondern zum Lobe Gottes und zur Erbauung Deiner Seele anwenden."

Auch Besitz ist nicht gottgefällig, und so hat Familie Dyck ihr Herz wahrlich nicht an weltliche Güter gehängt: Die Einrichtung des aus unverputzten Ziegelsteinen erbauten und mit Wellblech gedeckten Hauses besteht aus ein paar Betten, einem Holztisch mit Bänken und einer Kommode, auf der eine Emailleschüssel zum Waschen steht. Keine Bilder, kein Spiegel, kein Kinderspielzeug. Das einzige Zugeständnis an den Fortschritt ist eine Packung Maggie-Brühwürfel.

Die dreizehnjährige Elisabeth arbeitet auf dem Hof ihrer Eltern mit wie eine Erwachsene. Die Kinder besuchen hier nur bis zu ihrem zwölften Lebensjahr die Schule, in der die Bibel, das Gesangbuch, Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wird. Zur Ernte- oder Saatzeit und wenn geschlachtet wird, fällt die Schule aus, also ziemlich oft. Nur so können sich die Familien, die Geburtenkontrolle ablehnen, mit bis zu 16 Kindern ernähren. "Einer jeglicher tuet das, was er kann", sagt Elisabeth achselzuckend. Die Arbeiten werden streng nach Geschlechtern getrennt: Mit ihren zwei älteren Schwestern arbeitet Elisabeth im Haus und auf dem Hof, während die Brüder mit dem Vater die Feldarbeit erledigen und Handel treiben - die Mennoniten gelten in Bolivien als ausgezeichnete Viehzüchter und sind für ihren Käse bekannt. Nur die Männer sprechen ein wenig Spanisch und müssen für ihre Frauen übersetzen, wenn diese einmal die Kolonie verlassen, was ziemlich selten vorkommt; denn Kleiderstoffe, Salz und Kaffee werden im Krämerladen der Kolonie gekauft, alles andere stellen die Familien selbst her.

Untereinander sprechen die Mennoniten bis heute ausschließlich Altplattdeutsch, das sich über die Jahrhunderte hinweg nur in dieser von der Außenwelt abgekapselten Gesellschaft erhalten hat. Im Gottesdienst wird das Althochdeutsch aus der Bibel und dem Gesangbuch verwendet.

Wie abgesondert die Mennoniten leben, zeigt sich auch beim Blick in die Gesichter: Auffällig viele zeugen von einer geistigen Behinderung. Seit 300 Jahren kam kaum frisches Blut in die Gemeinschaft.

Abgeschieden von der modernen Welt lebend, wissen viele der Mennoniten in Bolivien fast nichts über ihre alte Heimat. So sind die Fragen an den Besucher, der "durch die Welt spazieren fährt" zahllos. Wie heißt der König von Deutschland und wie groß ist sein Volk? Dass dort Kühe im Stall gehalten werden und Medikamente bekommen, findet Bernhard unbegreiflich. Das Fleisch kann doch nicht gut sein, meint er.

Manchmal, so sagt er, möchte er doch etwas wissen über die Welt. Sein größter Wunsch ist ein Atlas, "denn es ist schön, wenn einer sich fremde Länder besehen kann". Aber selbst einmal "spazieren zu fahren", um "die Welt zu besehen", das wäre nicht gottgefällig.

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

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