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[art_4] Brasilien: Indios Online

Der tropische Regen stürzte unnachgiebig aus dem Himmel wie ein besonders großflächiger Wasserfall und verwandelte jedes Gefälle in einen Fluss. Die grauen Wolken hingen so tief, dass man fast ihr Gewicht auf den Schultern spüren konnte. Mühsam rumpelte der Wagen über die schlammige Piste und trug einen weit gereisten Forscher geduldig seinem Ziel entgegen.



Soweit also nichts Neues. So oder ähnlich haben ethnologische Feldforschungen zu beginnen, wenn man sich an die Maßgaben der Klassiker des Genres halten möchte, und so begann auch die meine. Allerdings war in meinem Fall der Regen bald vorbei, der mühsam rumpelnde Wagen ein Taxi und die schlammige Piste höchstens fünfzig Meter lang, das letzte Stück des Weges, eine Hauseinfahrt zwischen asphaltierten Straßen in Itapuã, einem populären Strandviertel von Salvador da Bahia: Klischees, die eingelöst werden und doch wieder nicht, ein Leitmotiv, das mir während meiner Zeit im Projekt Índios Online immer wieder begegnen sollte.

Ich war auf dem Weg zu Sebastian Gerlic, Präsident der Nichtregierungsorganisation Thydêwá, der während der Monate meines Praktikums mein Vorgesetzter sein würde. Sein Haus am Ende der schlammigen Piste war gleichzeitig der offizielle Sitz der Organisation, und von hier aus sollte ich meine Arbeit beginnen. Statt Gerlic empfingen mich allerdings Indianer, zwei Männer, drei Frauen und ein Baby. Dass es sich um Indianer handelte, erkannte ich nur bei zweien von ihnen auf den ersten Blick, den beiden Männern: Ein bemaltes Gesicht verhindert da Missverständnisse. Die Frauen hätte ich von allein nicht als Indigene identifiziert: Hellhäutig, wenig typische Gesichtszüge und Kleidung wie andere Brasilianer auch. Dass richtige Indianer nicht zwangsläufig so aussehen, wie man sie sich ausmalt, hatte ich zwar im Studium zur Genüge erzählt bekommen, aber es war etwas anderes, dieses Bücherwissen durch die Realität bestätigt zu sehen.

Zwar teilte mir jeder von ihnen bei der Vorstellung nicht nur seinen Namen, sondern auch den seiner Ethnie mit, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die es mir fast merkwürdig vorkommen ließ, dass ich nur "Nico, Deutscher" sagen konnte - aber die schwierig klingenden Wörter hatte ich gleich wieder vergessen und fühlte mich nicht gerade wie ein guter Ethnologe.

Gerlic war verreist, würde aber "gleich", "bald" oder "noch heute" wiederkommen, teilte man mir mit. "Bald" traf es am Ende wohl am ehesten, denn ich verbrachte drei Tage mit den Indianern in Gerlics Haus, bis ich meinen Vorgesetzten kennen lernen durfte.


Diese Zeit reichte aus, um doch noch Namen und Herkunft meiner Gastgeber aussprechen zu lernen; es handelte sich um Indianer der Kariri-Xocó und Xucuru-Kariri aus Alagoas und der Tupinambá aus Bahia.

Am nächsten Tag malte mir einer der Kariri-Xocó mit Jenipapo-Tinte ein Symbol auf den Arm. Den indigenen Namen des Zeichners, Anánomy, konnte ich mir erst viel später merken, als ich ihn schon fast gar nicht mehr brauchte, weil wir inzwischen gute Freunde geworden waren, unter denen man sich mit  Taufnamen anzureden pflegt. "Das bedeutet Kraft", sagte er und deutete lächelnd auf die Zeichnung.

Die Nichtregierungsorganisation Thydêwá besteht offiziell seit 2003 und hat ihren Sitz in Salvador, im Bundesstaat Bahia. Der Name Thydêwá, so teilte mir der Präsident der NRO mit, heißt vielleicht "Hoffnung der Erde", in der Sprache der Pankararu-Indianer in Pernambuco. Ganz sicher sei man sich da aber nicht, so später der ausführende Direktor: Bisher hätte nur eine Person diese Auskunft gegeben, es habe sich aber immerhin um einen angehenden Pajé, einen Schamanen, gehandelt. Der Name der Organisation, soviel lässt sich mit Sicherheit sagen, ist also indigener Herkunft; ihre Leitung dagegen ist es nicht.

Im Rahmen des 2001 begonnenen Projektes Índios na Visão dos Índios (in etwa "Indianer aus indianischer Sicht") sammelte Sebastian Gerlic in sieben indianischen Reservaten des brasilianischen Nordostens in Workshops für kreatives Schreiben, Fotografie und kulturelle Identität Materialien, die dann in kleinen, aber aufwendig produzierten Broschüren als Selbstdarstellung der jeweiligen Dörfer veröffentlicht wurden. Mit jeder neuen Broschüre sollte die indianische Beteiligung und Verantwortung vergrößert werden, und der Höhepunkt dieser Entwicklung, so rechnete man sich aus, würde man mit Hilfe von Computer- und Kommunikationstechnologie erreichen. Das am Dia do Índio (19. April) 2004 begonnene, zunächst auf sechs Monate angesetzte Pilotprojekt Índios Online wurde als Verlängerung von Índios na Visão dos Índios konzipiert: Sieben indianische Gruppen wurden mit PCs, digitalen Fotokameras und einem schnellen Internetzugang via Satellit versehen. Ein zweiwöchiger Kurs in Salvador sollte je zwei Indianer aus jedem Gebiet mit den Grundlagen der elektronischen Datenverarbeitung vertraut machen; zurück zu Hause sollten diese Personen als Multiplikatoren das erworbene Wissen weiterverbreiten.

Herz des Projektes ist die Website, auf der zum einen ein Chatbereich die Kommunikation der teilnehmenden Ethnien untereinander als auch theoretisch mit dem Rest der Welt ermöglicht, zum anderen ein inhaltlicher, dokumentarischer Teil geboten wird.

Für jede teilnehmende Gruppe existiert ein einzeln aufrufbarer Bereich; für die Dörfer, deren Broschüren bereits in Print-Form vorlagen, wurden in ihren jeweiligen Bereichen zu Beginn des Projektes digitale Versionen ihrer Veröffentlichungen eingestellt.

Mit einem einfachen Interface ist es von den Dörfern aus möglich, Texte und Fotos zu Beiträgen zusammenzustellen und in die entsprechende Abteilung der Website zu übertragen. Diese Möglichkeit sollten die beteiligten Gruppen nutzen, um für ein potentiell weltweites Publikum Alltag, Probleme, Kultur und Geschichte zu dokumentieren. Außerdem sollten die Broschüren der Xucuru-Kariri und der Pataxó-Hãhãhãe, die neu im Projekt vertreten waren, auf diesem Wege entstehen: Die Absolventen des Computerkurses waren angehalten, in ihren Umgebungen Gruppen zu bilden, die sich die Materialsammlung zur Aufgabe machen und die Website allmählich mit Beiträgen füllen sollten. Aus dieser Menge von Beiträgen sollten zu einem bestimmten Zeitpunkt die besten ausgesucht werden, um dann in der Form veröffentlicht zu werden, in der es schon mit den anderen Dörfern geschehen war.

Betrachtet man die geringe Zeit, die seit der Gründung der NRO vergangen ist, und die personelle Knappheit, mit der die Organisation zu kämpfen hat, so ist die öffentliche Aufmerksamkeit, die vor allem die ineinander übergehenden Projekte Índios na Visão dos Índios und Índios Online erreichten, beeindruckend: Auf der Website Indios Online sind über 3000 Benutzer registriert. 2004 nahm Gerlic für die Thydêwá zwei mit Geldbeträgen dotierte Auszeichnungen entgegen: Einen Preis der Telemar, einer der führenden Telefongesellschaften des Landes, für das innovativste Projekt zur Förderung des landesweiten Zugangs zu Kommunikationstechnologien; und einen weiteren des Kulturministeriums, der alljährlich in Anerkennung für Leistungen um den Schutz, die Bewahrung und Verbreitung des brasilianischen Kulturerbes vergeben wird.

Als Gerlic im Rahmen seiner Werbungsreise die Arbeit der Thydêwá der UNESCO in Paris vorstellte, bescheinigte man ihm dort, dass man weltweit von keinem vergleichbaren Projekt wüsste. Und während der Präsident in Frankreich Fundraising betrieb, machte sich der Praktikant und Möchtegern-Ethnologe auf in das Dorf der Xucuru-Kariri in Alagoas, um dort, wie man ihn gebeten hatte, als technischer Helfer und "Impulsgeber" zu fungieren - ganz genau wusste der junge Mann nicht, was man von ihm erwarten würde, und er war verblüfft und eingeschüchtert von dem Vorschuss an Vertrauen und Verantwortung, mit dem man ihm begegnet war.

"Grobgemauertes kleines Häuschen, in Luft und Nase das Holzfeuer, Blick auf festgestampften Lehm, eine Handvoll Hühner und den Regenwald, vor mir eine dunkelbraune, kleine, dicke, alte Frau, Korãs Mutter, die mich herzlich zur Begrüßung drückt und mir dann lachend sagt, dass sie den Kindern verboten hat, sich dem Computer zu nähern, damit sie sich nicht den Virus holen." Tagebucheintrag vom 3. August 2004

Den ersten Tag im Dorf verbrachte ich am Computer. Zum einen, weil es nötig war, denn die Maschine konnte sich vor lauter Viren zweifelhafter Herkunft nicht mehr rühren, zum anderen, weil ich die Sprache des Gerätes besser verstand als die meiner Gastgeber - ich konnte mich ein wenig wie am heimischen Schreibtisch fühlen.

Hin und wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mir Mühe gab, so auszusehen, als kümmerte ich mich gerade um enorm wichtige Dinge, ohne wirklich irgendetwas Sinnvolles zu tun - so musste ich mich niemandem erklären und konnte eine Weile mit mir und der vertrauten Technik alleine sein, ein Stück schwierig zu pflegender Privatsphäre. Das sollte eine in Zukunft von mir des öfteren angewandte Strategie werden: Was mir bei anderen Aufenthalten in Brasilien der immer wieder einmal nötige Besuch im Einkaufszentrum war, in dem es mit einem mal kaum noch eine Rolle spielte, ob man sich in Recife oder Recklinghausen befand, sollte mir diesmal die traute Zweisamkeit mit dem Computer sein. Für die Indianer zumindest potentiell ein Fenster aus der heimatlichen kleinen in die große weite Welt, war das Gerät für mich das Gegenteil.

Der Computer stand in Ermangelung eines Gemeinschaftshauses, das sich zum Zeitpunkt meiner Ankunft im Dorf noch im Bau befand, in Korãs kleinem Häuschen, in dem ich einen Monat lang viel Zeit verbrachte, oft umgeben von einer Horde jugendlicher Indianer, mit denen ich gemeinsam die neuen Fotos begutachtete, die wir in Dorf und Umgebung gemacht hatten, oder die Texte der Interviews überflog, die uns die Ältesten gegeben hatten.

Oft allerdings auch allein. Denn das Projekt war nicht ganz so ein Selbstläufer wie geplant, und oftmals waren wesentlich mehr als technische Hilfestellung und Impulsgabe nötig, um die Dinge zum Laufen zu bringen. Die jungen Indianer waren gewiss nicht fauler als pubertierende Jugendliche anderswo auf der Welt - wenn ich es recht betrachte, waren sie nicht einmal fauler als ich, und es ist ihnen nie besonders schwer gefallen, mich zu einem entspannten Besuch beim Staubecken zu überreden, anstatt in der kleinen Hütte an der Transkription eines Interviews sitzen zu bleiben. Nur bedeutete es für mich scheinbar wesentlich mehr Prestigegewinn, gute Arbeit zu leisten, und ich wollte das einfach so in mich gesetzte Vertrauen der Thydêwá nicht enttäuschen. So bereitete es mir also einige Mühe, die Inhalte für die Website zusammenzubringen, und ich trug deutlich mehr dazu bei, als ich mir eigentlich ausgemalt hatte - ich wollte doch nur eine Hilfestellung leisten im noblen Unterfangen, die Indianer von sich selbst erzählen zu lassen. Anstatt jedoch von sich selbst zu erzählen, hatten die Indianer wesentlich mehr Freude daran, im Chat mit den Bewohnern anderer Dörfer zu flirten oder zu lernen, wie man hübsche Bildchen in Emails einbaut.

"Im Wald sagt mir Tanawy die Namen verschiedener Pflanzen und zeigt mir, wie man aus Palmenblättern eine Beißschlange flechtet. Am Computer zeige ich ihm, wie Pinball funktioniert." Tagebucheintrag vom 4. August 2004

In meinen Augen ist das Projekt jedoch keineswegs gescheitert. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass durch Indios Online die Vernetzung der teilnehmenden indigenen Gruppen untereinander und mit dem Rest zumindest der brasilianischen Welt enorm verbessert worden ist, eine Tatsache, die es ihnen erlaubt, sich wesentlich effektiver gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen, alles sehr reale Bestandteile des indianischen Alltags, zu organisieren und zur Wehr zur setzen. Nur sind die meisten Vorgaben von Seiten der Thydêwá zwar in der Theorie bei den Indianern auf Begeisterung gestoßen, in der Praxis jedoch nicht umgesetzt worden, oder nur wenn und solange der lokale Impulsgeber so viele Impulse gab, dass es fast an Aufdringlichkeit grenzte. Natürlich hat das kulturelle Gründe. Natürlich ist es meine Aufgabe als Ethnologe, zu sagen, dass die meisten Dinge kulturelle Gründe haben.

Tatsächlich habe ich inzwischen eine Magisterarbeit abgegeben, in der ich knapp 130 Seiten damit fülle, die Frage nach dem Warum dieses Phänomens nicht wirklich zu beantworten.

Trotzdem bleibt Indios Online ein innovatives und zukunftsträchtiges Konzept und die Ermöglichung des Zugangs zu moderner Kommunikationstechnologie für ethnische Minderheiten ein erstrebenswertes Ziel.

Und ganz davon abgesehen hatte ich eine sehr lehrreiche Zeit, in der ich zwar ein wenig an naiv-romantischem  Idealismus eingebüßt, aber dafür einige richtige Indianer als Freunde gewonnen habe. Und zwar solche, die meinen Feinden Protest-Mails und womöglich Computerviren aus dem Busch schicken können, anstatt sie einfach nur nackig mit Pfeil und Bogen zu bedrohen. Also Vorsicht.

Text + Fotos: Nico Czaja

Die Website des Projektes findet sich unter http://www.indiosonline.org.br - leider zur Zeit in einer Art Übergangsstatus von einem Designkonzept zum anderen und daher etwas unaufgeräumt. Im Chat findet sich aber meist der eine oder andere Indianer, mit dem man sich unterhalten kann, so man des Portugiesischen mächtig ist.

Die Thydêwá ist stets auf der Suche nach freiwilligen Helfern, die portugiesisch sprechen und sinnvolle Beiträge zu den verschiedenen Bereichen der von der NRO durchgeführten Projekte leisten können. Entsprechende Informationen und Kontaktdaten finden sich auf der Website.