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[art_1] Brasilien: Die Stadt und der Biosprit

Vermummte Gestalten kämpfen sich durch den schwarz-gelben Dschungel abgebrannter Zuckerrohrstangen. Mit dem linken Arm umklammern sie die bis zu zweieinhalb Meter hohen Stümpfe, dann folgen mit der rechten Hand schnelle Schläge ihrer frisch geschärften Macheten. Das halbe Dutzend abgetrennter Stangen werfen sie hinter sich, bevor es weiter tief hinein in das Feld geht.

Der Südosten Brasiliens erlebt zurzeit einen neuen Wirtschaftsboom: Ethanol gewonnen aus Zuckerrohr. Der pflanzliche Alkohol treibt heute schon Millionen brasilianischer Autos an. In Zukunft sollen, glaubt man den Vorhersagen von Präsident Lula, auch Millionen Fahrzeuge im Rest der Welt mit dem Wunderbenzin betrieben werden. Zum Wohle des Weltklimas und der brasilianischen Wirtschaft.


Makroökonomisch mag die Rechnung vielleicht sogar aufgehen. Doch wie sieht die Realität einer 60.000 Einwohner kleinen Stadt aus, die fast ausschließlich vom Zuckerrohr lebt?

Die von uns ausgesuchte Stadt im Landesinneren von São Paulo war in den 80er Jahren eine Modellstadt, sagt der Sozialreferent. Alle Häuser seien an das Wasser- und Abwassernetz angeschlossen und das öffentliche Gesundheitswesen beispielhaft für ganz Brasilien gewesen.

Damals produzierten die um die Stadt herum angesiedelten Landwirte neben Zuckerrohr auch Fleisch, Mais, Kaffee, Erdnüsse, Reis, Gemüse und Früchte. Sogar eine Milchbauernkooperative habe es gegeben, erzählt eine Sozialarbeiterin, die selber auf dem Land groß geworden ist. Doch mittlerweile seien praktisch all ihre Verwandten in die Stadt gezogen. Ihr Land haben sie verkauft oder verpachtet – an die Zuckerrohrbetriebe.

Mit nichts könne man derzeit soviel Geld verdienen wie mit dem Zuckerrohr, sagt sie. Sofern man selber Land besitzt, das man verpachten kann. Die meisten Bauern haben es aufgegeben, noch selber zu produzieren. Man lebt besser von der Zuckerrohrpacht. Lebensmittel müssen mittlerweile von weit her heran geschafft werden – und die Preise so mancher Grundnahrungsmittel haben sich in den letzten Jahren verdoppelt.


70% der Anbaufläche im Bundesstaat São Paulo seien mittlerweile mit Zuckerrohr bepflanzt, verkündete zuletzt das Landwirtschaftministerium. Dem wolle man entgegentreten, so die Regierenden. Monokulturen seien gefährlich, so weiß man aus Erfahrung. Doch was genau dagegen getan werden soll, steht noch nicht fest.

Neue Industrien würden sich erst gar nicht in der Stadt ansiedeln, klagt der Gesundheitsreferent, denn es mangele an Facharbeitern. Das Resultat eines halben Jahrhunderts Zuckerrohrwirtschaft. Nie habe man sich darum gesorgt, eine Alternative zum Zuckerrohr zu suchen und Arbeiter besser auszubilden.

Heute kommen die meisten auf den Feldern tätigen Arbeiter aus dem armen Nordosten Brasiliens. Mit der Biospritgewinnung können sie zumindest um die 300 Euros pro Monat verdienen. Meist sind es junge Männer ohne Familie, die sich hier verdingen. Sie wohnen zu 20 oder mehr in von den Zuckerbetrieben angemieteten Häusern, denn Wohnraum ist knapp geworden und die Mieten sind explodiert.

Viele der alteingesessenen Bewohner betrachten die Fremden aus dem Nordosten argwöhnisch. Die Kriminalitäts- und Gewaltrate sei stark gestiegen, so der Sozialreferent. Prostitution, Alkoholismus, Drogen – mit den jungen Wanderarbeitern seien auch die Probleme in die Stadt gekommen. Und das öffentlichen Gesundheitssystem ist ob der 10.000 neuen Einwohner schier überfordert. Zumindest hätten die meisten Arbeiter heutzutage gültige Arbeitspapiere – ein Fortschritt, dank der strengeren Kontrolle des Arbeitsministeriums in Brasilia.


Doch die Arbeit auf den Feldern ist auch mit gültigen Papieren noch hart. In der Nacht wird das Feld abgefackelt, um das Schlagen zu erleichtern. Qualm hängt noch in der Luft, dazu die stickig-schwüle Hitze bereits in den Morgenstunden. Acht Stunden dauert eine Arbeitsschicht, sechs Tage die Woche.

Die Rauchschwaden dringen bis in die Stadt vor. Nachts müsse man die Fenster verriegeln und am Morgen läge eine weiße Schicht auf den Straßen und Gebäuden, so eine Bewohnerin. Atemwegserkrankungen hätten stark zugenommen, sagt der Gesundheitsreferent. Besonders bei Kindern und alten Leuten.

Ab 2014 soll das Abbrennen der Felder deshalb ganz verboten werden, plant die Landesregierung. Dann soll das Schlagen maschinell erfolgen. Bereits jetzt sieht man ab und zu die gewaltigen Erntemaschinen auf den Feldern rund um die Stadt. Aber sie sind teuer in der Anschaffung. Und anfällig dazu: Steine und Baumstümpfe beschädigen die feinen Schneidemesser und verursachen Ausfälle durch lange Reparaturzeiten.

Und so wird sich in der nächsten Zeit wohl wenig an der archaisch anmutenden Routine der Zuckerrohrfelder ändern. Alternativen zum Zuckerrohr müsse man suchen, meint der nachdenklich gestimmte Sozialreferent. Denn abgesehen von den wenigen Landbesitzern und Zuckerrohrbaronen seien die meisten Menschen der Region eher ärmer als reicher geworden.

Und das könne ja nicht im Sinne der Gesellschaft sein, fügt er noch hinzu.

Text + Fotos: Thomas Milz

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