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[kol_2] Grenzfall: Siesta schlägt Power Nap

Wenn Mexiko Weltmeister geworden wäre, müsste ich nicht zu unsäglich früher Zeit im Büro sitzen, den Bildschirm verfluchen und mit jedem Gähner tiefer in den Ärger rutschen. Nein, müsste und würde ich nicht. Mit Sicherheit nicht. Denn: Schlaf ist Gold. Schlaf ist gesund und lebensverlängernd. Kein Schlaf hingegen oder nicht genug davon führt zu Übermüdung. Der Übermüdete ist unkonzentriert und leistet weniger, er neigt zu Tagschläfrigkeit, die sich zu einem permanenten Dämmerzustand ausweiten kann - und er wird anfällig für Depression und Burnout.

Nun stellt sich die Frage: Gibt es das Burnout-Syndrom auch in Mexiko? Mexikaner, die aufgrund von zuviel Arbeit mit zu hohen selbst gesteckten Zielen ausgebrannt sind, sich leer und verbraucht fühlen, totale Erschöpfung verspüren, die Umwelt nicht mehr verstehen, sich nicht mehr zurecht finden, sich in sich kehren und keinen Appetit mehr haben? Nein! Und das liegt mitnichten daran, dass sie weniger arbeiten, leisten oder ihre beruflichen Ziele weniger ehrgeizig formulieren.

Es liegt am Schlaf! An ausreichend Schlaf. An einem Schlaf, während dem sich körperliche und geistige Funktionen des Menschen gänzlich erholen können.

Körperlich regeneriert sich der Mensch während 75 Prozent der Schlafenszeit, besonders in Tiefschlafphasen, in denen die letzte Anspannung aus dem Organismus gewichen ist und selbst die Atmung regelmäßig und ohne Aussetzer erfolgt. Diese Phase bezeichnet man als NREM-Schlaf: Non Rapid Eye Movement oder Schlaf frei von rascher Augenbewegung. Dem gegenüber steht der REM-Schlaf, bei dem der Augapfel schnell hin und her springt und das vegetative Nervensystem, das ohne Steuerung funktioniert, aktiviert ist. Entspannt sind nur die Skelettmuskeln, wie Bizeps, Trizeps und der gewaltige Gluterus Maximus, der die Backen formt. Die übrigen Muskeln, wie etwa der an keinen Knochen angedockte Herzmuskel, sind soweit sie zur Lebenserhaltung benötigt werden aktiv. Diese Zeit ist bestimmt durch heftiges Träumen und Verarbeiten aller in der Wachphase gesammelten Informationen, die sich letztendlich im Gedächtnis zusammenfügen.

Wenn Mexiko Weltmeister geworden wäre, dann hätten sogar der deutsche Staat und sein Unternehmertum erkannt, dass die Siesta leistungs- und produktivitätsfördernd ist. In den USA erfolgt die Ruhephase zur sexta hora – der Begriff Siesta leitet sich von der in der Antike gebräuchlichen Zeiteinteilung ab und meint die sechste Stunde nach Sonnenaufgang – längst trendy und in Arbeitsverträgen ausdrücklich erwünscht. Dort sagt man natürlich nicht Siesta, denn zum einen hätten sich Politik und Wirtschaft schwer getan, eine mexikanische Unart urplötzlich als produktiven Geheimtipp anzuerkennen und zum anderen ist der Begriff Siesta schlicht nicht mehr zeitgemäß. Die neue und mit Exklusivrecht des Gedanken- und Forschungsguts der USA belegte Variante des Schlafens nennt sich Power-Nap (Kraft-Nickerchen) und das dazugehörige Verb power-napping (Kraft-Nickerchen halten). Der Unterschied zwischen Power-Nap und Siesta ist die strikte zeitliche Reglementierung des USA-Schlafs auf 15-30 Minuten. Die Siesta hingegen dauert solange sie dauert.

Das visuelle System, bestehend aus Auge, Netzhaut und Sehbahnen (Verbindungen zwischen Auge und Hirn) bildet das Areal der Sehrinde. In diesem Areal sammeln sich zunächst alle wahrgenommenen Informationen. Kommt es zu einer Übersättigung mit Informationen, dann ist das Areal nicht mehr im Stande diese weiterzuverarbeiten. Ein Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit ist die Folge begleitet von Ärger und Frustration. Die schwerwiegendste Ausprägung einer dauerhaften Übersättigung aber ist das Burnout.



Obwohl mit kurzzeitig belebender und durchaus auch gesundheitsfördernder Wirkung, konnte das mit geballter Kraft inszenierte US-Nickerchen dem US-Burnout kein Paroli bieten. Denn – und das ist eine Frage der Leidenschaft – auch den Schlaf kann man mögen. Er sollte nicht reduziert auf als Mittel zum Zweck dienen, sondern gelebt werden, akzeptiert als natürliches und vielleicht höchstes Gut des Menschen. Seine Feinde, Wecker und unchristliche Bürozeiten, dürfen ihm keinen auf Dauer zuwiderlaufenden Lebensrhythmus aufzwingen.

Von den Machern des Power-Nap wurde dem Anwender als Beipackanmerkung nahe gelegt, den Nachtschlaf selbst bei erfolgreicher Anwendung des Nap keinesfalls zu reduzieren, denn es sind die REM-Phasen des Nachtschlafs, die das Sehrindenareal von den täglichen Informationsmengen reinigen und so vor dauerhafter Übersättigung und Burnout schützen.

Wäre also Mexiko Weltmeister geworden, dann würden wir nicht jeglichen Mode-Quatsch aus den USA übernehmen, wie das Nickerchen zur Produktivitätssteigerung, das sicher bald über den Atlantik schwappen wird, sondern mit dem Sombrero in der Hand ausgebrannte Schwächephasen auf natürliche Art und Weise einfach wegschlafen.

Text + Fotos: Dirk Klaiber