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[art_3] Spanien: Gran Canaria, Agüimes und die Schlucht von Guadayeque
 
Am 10. Oktober 2014 stehe ich ziemlich abgekämpft auf dem Gipfel des Roque Nublo auf Gran Canaria, als plötzlich mein Mobiltelefon klingelt. Es ist eine französische Freundin, die im Opern-Orchester von Sevilla geigt und mit diesem für ein Konzertfestival in die Inselhauptstadt Las Palmas gekommen ist. Wir beschließen, uns unbedingt zu treffen. Antoinette schlägt dafür übermorgen vor, den Feiertag des 12. Oktober (Tag der Entdeckung Amerikas), weil sie dann tagsüber frei hat. Da sie in Las Palmas, im äußersten Norden der Insel und ich an der Südspitze in Maspalomas wohne, einigen wir uns auf einen Treffpunkt auf halber Strecke. Antoinette hat gelesen, dass Agüimes ein schöner Ort sein soll und man von dort eine interessante Wanderung durch die Schlucht von Guadayeque unternehmen kann.

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Und so treffen wir uns, nach ein paar Koordinierungsproblemen (ich war noch nicht ganz wach und eine Haltestelle zu früh ausgestiegen), am folgenden Tag in Agüimes um 11 Uhr vor der Dorfkirche. Die Kirche San Sebastián ist ein klassizistischer Tempel, erbaut zwischen 1787 und 1837 an Stelle eines älteren und kleineren Gotteshauses. Imposant für eine Dorfkirche, beeindruckt sie mit einer monumentalen Doppelturm-Fassade und Kuppel. Das Innere ist dreischiffig. Während der Hauptaltar modern und eher kitschig zu nennen ist (die Madonna ist von einem Glühbirnenkranz umgeben), gibt es im linken Seitenschiff zwei passable spätbarocke Hochaltäre. Einer zeigt die Virgen del Carmen, der größere präsentiert Christus am Kreuz und daneben eine Madonna mit Schwert im Herzen (1770).

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Nach einem kurzen Rundgang treten wir wieder hinaus ins blendende Mittagslicht und spazieren etwa eine Stunde durch die Gassen von Agüimes. Antoinette hat nicht zuviel versprochen, es ist wirklich ein schönes Dorf. Im Zentrum erinnert es fast an eine arabische Kasbah, so eng und labyrinthisch verlaufen die Gassen mit niedrigen, oft nur einstöckigen Häusern, die weiß oder gelb gestrichen sind. Überall alte Laternen, wie man sie aus andalusischen Städten kennt. Die Sonne steht im Zenit, messerscharf verläuft die Grenze zwischen grellem Licht und Schatten.

Normalerweise wird es auf den Kanaren kaum heißer als 30 Grad, aber heute ist einer dieser seltenen Tage, an denen das Thermometer trotz der gleichmäßigen Passatwinde mindestens 35 Grad erreicht. Jetzt um ein Uhr mittags eine Wanderung durch eine Bergschlucht von 10 Kilometern zu starten, scheint uns keine grandiose Idee. Antoinette schlägt vor, von Agüimes mit dem Taxi bis zum Endpunkt der Schlucht zu fahren, dort ein Mittagessen einzunehmen und am späten Nachmittag von dort zurück zu wandern – "schließlich ginge es dann auch bergab", wie sie meint. Begeistert stimme ich zu. Obwohl wir verhandeln, ist das Taxi für kanarische Verhältnisse recht teuer. Als wir dann die endlos scheinende Piste durch die Schlucht entlang fahren, wissen wir warum. Der Aufpreis erklärt sich durch die Holprigkeit der Piste, eine Belastungsprobe für jedes Fahrgestell. Links und rechts der Talsohle dieser engen Schlucht ragen die Steilwände immer höher empor, von anfangs 300 bis 1300 Meter am Endpunkt.

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An einem normalen Wochentag wären wir hier allein entlang gefahren, denn Touristen entdecken diesen Canyon nur selten und Canarios haben keine Zeit für Ausflüge. Aber am heutigen Feiertag sehen wir überall parkende Autos und Motorräder in der Wildnis und Großfamilien mit Grills und Picknickutensilien, die sich unter jeden Schatten spendenden Baum drängen. Die Grußboten der Zivilisation verdichten sich, als wir an den Endpunkt unserer wilden Fahrt gelangen und der Fahrer uns stolz einen Hügel präsentiert – mit Parkplatz, Restaurant-Terrasse, Gästen in Sonntagskleidung. Antoinette ist enttäuscht: sie hatte von der Entdeckung einer wilden, unberührten Bergwelt geträumt und wird nun mit dieser urbanen Invasion konfrontiert. "Bloß weg hier!", flüstert sie mir zu, nachdem uns der Taxifahrer auf dem Parkplatz unserm Schicksal überlassen hat. Wir schlagen einen Pfad ein, der weg vom Restaurant und rund um den Hügel führt.

Dieser Hügel ist ein Phänomen. Er erhebt sich im Zentrum genau am Ende der Schlucht von Guadayeque, als ob er auf Befehl der Tourismusbehörde erbaut worden wäre, gerade groß genug, um Restaurant und Parkplatz anzulegen. Und vom Gipfel hat man einen großartigen Ausblick über die gesamte Schlucht. Düstere Felsen türmen sich auf, tief unten schlängelt sich die Piste nach Agüimes und irgendwo fern im Osten sieht man sogar das Meer.

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Fasziniert betrachten wir das Farbenspiel des Felsgesteins. Von ockergelb und braun über kräftige Rottöne bis hin zu fast schwarz ist die komplette Farbpalette vertreten. An ein paar Stellen verlaufen die verschiedenen Farben als geordnete Streifen quer entlang der Schlucht, es sieht aus wie abstrakte Kunst. Ab und zu öffnen sich Spalten und dunkle Höhlen im Felsmassiv und fügen dem Kunstwerk schwarze Punkte und Zickzackstreifen hinzu.

Wir steigen hinauf zum Gipfel des Hügels, wo man eine winzige Kapelle errichtet hat. Von hier ist der Panorama-Rundblick am besten. Der ganze Canyon von Guadayeque präsentiert sich wie ein langer offener Tunnel hin zum Atlantik. Der obere Teil der Berghänge ist kahl und völlig vegetationslos, im engen Tal ranken sich Kakteen den Hang hinauf. Den Bach auf dem Talgrund sieht man nicht, man kann ihn nur erahnen, dort wo die Pflanzen noch grün statt gelbbraun sind und vereinzelt Bäume stehen. Antoinette erzählt mir, sie hätte gelesen, dass noch vor vier Jahrzehnten intensive Landwirtschaft im Tal des Guadayeque betrieben worden sei, aber dann habe der Tourismus seinen gnadenlosen Siegeszug gehalten. Die Terrassenfelder hier wurden nicht nur aufgegeben, weil die Feldarbeit viel mühevoller war als eine Arbeit im Hotel, sondern auch, weil das Grundwasser von hier weggepumpt wurde, um die Bettenburgen an der Küste zu versorgen. Eine Finca nach der anderen wurde aufgegeben. Deshalb wachsen jetzt in diesem Tal keine Bananen, Mandeln und Mangos mehr, sondern nur noch Agaven, Kakteen und verdorrtes Gestrüpp.

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Beim Abstieg entdecken wir auf der Rückseite des Hügels eine ganze Galerie von Höhlenwohnungen, geordnet angelegt mit kleinen Gärten davor und sogar mit Hausnummern über den Eingangstüren. Antoinette ist euphorisch. Am liebsten würde sie sofort eine dieser Höhlenwohnungen mieten oder sogar spontan kaufen. Nur mit Mühe kann ich sie davon abhalten, mit einer alten Dame, die im Schatten vor ihrer Höhlentür sitzt, ein Verkaufsgespräch zu beginnen. Ich gebe zu bedenken, dass es innen doch sehr düster sein müsse, aber dann zeigt sie mir die Stromleitung, die das Licht in die Höhlen bringt. Es ist also für alles gesorgt. Dann – es ist inzwischen drei Uhr nachmittags – dringt verlockender Essensduft aus der Höhle nach draußen und die betagte Besitzerin wird zum Mittagstisch gerufen.

In dem Moment meldet sich auch bei uns der Hunger und Antoinettes Augen leuchten, als ich unerwartet verkünde, in meinem Rucksack alles für ein Picknick dabei zu haben. Jetzt müssen wir einen schönen Platz dafür suchen, was nicht so leicht ist, denn meine Begleiterin stellt Bedingungen: der Picknick-Platz sollte eine spektakuläre Aussicht haben, ausreichend Schatten bieten (die Sonne brennt weiterhin gnadenlos), weit weg von Großfamilien mit Grillwolken und schreienden Kindern sein, man sollte den Parkplatz von dort nicht sehen können und es sollte bequeme Felsbänke zum Sitzen geben… "Vielleicht auch noch rund geflochtene Blumenranken als Weinglas-Halter?", frage ich sie spöttisch. "Oh, es gibt sogar Wein?", kommt es entzückt zurück.

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Keine 30 Minuten später finden wir einen hübschen Platz. Obwohl, so richtig bequem ist es nicht, der Fels ist hart und glatt, aber ein paar niedrige Mandelbäume spenden genug Schatten und Essen gibt es reichlich: Brot, Thunfisch, Käse, Schinken, Oliven, Tomaten, Kartoffelchips (die guten in Olivenöl frittierten), zum Nachtisch Melone und Mangos und Mandelkuchen. Der Rotwein ist allerdings 10 Grad zu warm.

Ermutigt durch die halbe Flasche Rioja "El Coto" (der mit dem Hirsch!), schlägt Antoinette vor, jetzt zu Fuß nach Agüimes zu gehen. Die Entfernung schätzen wir auf ca. 10 Kilometer, leicht bergab und die Sonne steht schon tief. Also marschieren wir los. Leider sind wir nicht die einzigen auf dem Rückweg Richtung Küste. Dicht neben uns donnern die Motorräder und Jeeps der Feiertagsausflügler. Die Landstraße ist zwar asphaltiert, aber die Fahrbahn ist so schmal, dass kaum zwei Autos nebeneinander passen und an ihrem Rand befindet sich entweder ein tiefer Graben oder Geröll, das bei jedem Schritt Staub aufwirbelt. Trotzdem beschließen wir, im Graben zu gehen, um nicht von einem der viel zu schnell fahrenden Wagen überrollt zu werden. Wir kommen schnell voran, obwohl Agüimes wie eine Fata Morgana zwischen Bergen und Meer im flirrenden Abendlicht liegt und nicht näher zu kommen scheint. Fasziniert vom Anblick dieses kanarischen Bilderbuch-Dorfs konzentriere ich mich nicht auf meine Schritte.

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Plötzlich rutsche ich auf dem Geröll am Straßenrand aus und stürze. Mein rechtes Knie blutet und die Wunde ist voller Staub und winzigen Steinchen. Da wäre Alkohol zum Desinfizieren gut. Auf der anderen Straßenseite spielt ein etwa zehnjähriger Junge mit seiner älteren Schwester Fußball. Wir fragen sie, ob sie irgendwas Hochprozentiges im Haus haben, womit man die Wunde säubern könnte. Sie schütteln den Kopf. Also opfert Antoinette ein halbes Fläschchen teures Eau de Parfum, obwohl ich das natürlich ablehne. Aber sie besteht darauf. Bald ist die Wunde gesäubert, obwohl sie immer noch ein wenig blutet. Antoinette wickelt ein parfümgetränktes Stofftaschentuch um mein Knie. Der Sekundär-Effekt: mein Knie verbreitet einen Duft wie eine ganze Jasmin-Plantage. Ich trete probeweise auf. Die Schmerzen sind erträglich, also adelante!

"Aber so kannst Du doch nicht weiter gehen...", meint das kleine Mädchen voller Mitleid zu mir. Als ich noch etwas humpelnd Richtung Agüimes gehe, höre ich wie der Junge zu seiner Schwester sagt: "Diese Deutschen sind echt hart drauf, die kann so leicht nichts aufhalten." Zufrieden mit diesem Kommentar schreite ich von dannen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Anfahrt
Wer aus ökologischen Gründen auf Mietwagen verzichten will, kann von Las Palmas aus den Bus Nr. 11 (Global) nehmen, der direkt nach Agüimes fährt (Fahrtdauer 30 – 40 Minuten)
Aus Maspalomas/ Playa del Inglés kommend nimmt man den Bus Nr. 1 oder 36 oder 90, muss aber in allen drei Fällen in Cruce de Arinaga umsteigen in die Nr. 22 (Fahrtdauer wg. des Umsteigens ca. 1 Stunde)



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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