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[kol_3] Macht Laune: Calçots – katalanische Zwiebelorgie
 
Als seltsame Spezialität möchte ich an dieser Stelle auf eine aufmerksam machen, die immer zu Jahresbeginn in Südkatalonien mit großem Vergnügen verschlungen wird: die Calçots. Besagte gehören zur Familie der verspeisbaren Gemüse und bilden damit eine erfreuliche Ausnahme zu der fleischhaltigen Vorspeisenlandschaft meiner Wahlheimat. Calçots sind eigentlich ordinäre weiße Zwiebeln, die jedoch noch einmal gesondert umgepflanzt werden, bevor man sie endgültig der Erde entreißt. Sie kommen in Form von Stangen auf den Markt, dem Lauch dabei keineswegs unähnlich.

In Erinnerungen an finstere Traditionen der spanischen Vergangenheit werden diese Stangen mitsamt Wurzeln, Haut und zartem Fleisch auf ein offenes Feuer gelegt, wobei allerdings der aufsteigende Geruch im Vergleich mit ehedem deutlich verbessert worden ist. Dass dabei die äußere Schale verbrennt, ist erwünscht. Geschmackvoll in einem halbrunden Ziegel drapiert, kommen sie auf die vollen Tafeln der noch volleren Restaurants.

Denn Calçots werden in großen Gruppen verspeist, mit möglichst vielen Freunden und Bekannten. Wir, die wir in der tarragonensischen Provinz wohnen, erhalten so wenigstens einmal im Jahr, nämlich im Februar, wenn das traditionelle Fest des Zwiebel-Verzehrens ansteht, Besuch unserer weltstädtischen Freunde aus Barcelona.

Man trifft sich am Vormittag, begutachtet ein wenig die historischen Überbleibsel der Umgebung, versammelt sich dann auf dem Marktplatz zu einem Aperitif und bewegt sich schließlich zum meist außerhalb liegenden Restaurant. Dort wird man zunächst mit den kleinen, sehr kräftigen Oliven (arbequines) und den typischen Hartwürsten (fuets) der Gegend versorgt, und der lokale Rotwein beginnt – zunächst noch zögerlich – zu fließen. Eigentlich trinkt man diesen hier aus einem sogenannten porró, einem gläsernen Trinkgefäß mit langem Ausguss, der, wenige Zentimeter vom Gesicht entfernt, die rote Flüssigkeit allzu oft auf Hemd oder Hose und nicht in den Mund fließen lässt. Aber die Großstädter müssen es ja unbedingt versuchen, wollen zeigen, dass sie auch hier auf dem Lande zu bestehen wissen. Der glückliche Umstand, dass um den Hals gebundene Servietten fester Bestandteil eines Calçot-Essens sind, bewahrt sie vor schlimmeren Folgen (Ich persönlich habe nach so manchen Flecken beschlossen, die Erfindung der individuellen Trinkgläser begeistert zu beklatschen und mich so dem Ich-könnte-auch-vom-Dorf-sein-Wettbewerb zu entziehen.).

Da die Restaurants oft hoffnungslos überfüllt sind, werden die Ziegel mit den verbrannten Wurzeln meist mit Hunger und unter großem Hallo am Tisch willkommen geheißen. Und dann beginnt der eigentliche Spaß: man versichert sich, dass die Serviette fest um den Hals gebunden ist, greift sich eine der Stangen und hält sie mit einer Hand an der Wurzel fest.

Nun entzieht man ihr vom anderen Ende aus, also sozusagen am Gestrüpp, das zarte Herz. Dieses taucht man in eine dickflüssige Tunke, hält es dann hoch über den Kopf und beißt das Ende ab. Dass dabei Soße und Saft auf Gesicht und Serviette tropfen, versteht sich von selbst. Die erwähnte Tunke, die unter dem Namen Romesco bekannt ist, besteht aus so ungefähr allem, was hier wächst: Tomaten, Öl, Knoblauch, Mandeln und Haselnüssen.

Der beschriebene Vorgang wird nun so lange wiederholt, bis es entweder keine Calçots mehr gibt (was seltener auftritt) oder die Beteiligten die Waffen strecken (was weitaus häufiger vorkommt). Aber keine Angst: das Fleisch, das man vorhin noch mit hungrigen Augen bestellt hat, ist bereits im Anmarsch. Überfressen und in seinem persönlichen Diätplan um Jahrzehnte zurück geworfen, taumelt man dann irgendwann gegen 18 Uhr aus dem Restaurant, verabschiedet sich müde von seinen Freunden, fährt irgendwie nach Hause und träumt dann die ganze Nacht von zuviel Essen. Und davon, das alles im nächsten Jahr zu wiederholen.

Für die lokale Gastronomie hat die verbrannte Wurzel eine nicht unerhebliche Wirtschaftskraft, denn für ein solches Calçots-Essen muss man durchaus 25-40 Euro pro Person einrechnen. Da wird es den Leser kaum wundern, dass Calçots bereits als kulturell-ökonomisches Gut angesehen und als solches reguliert wird. Wie Wein gibt es auch hier eine Ursprungsbezeichnung (DOC) für besonders herausragende Zwiebeln. Ebenso wenig darf es verwundern, dass Calçots in Wirklichkeit nicht nur im Februar, sondern von Januar bis April gereicht werden: die Nachfrage bestimmt das Angebot.

Wer jedoch authentisch traditionelles Zwiebelessen erleben möchte, der sollte sich im zweiten Jahresmonat ein abgelegenes Gehöft mit Wirtschaft suchen, sich nicht an den vielen Autos aus Barcelona stören, sondern sie vielmehr als gutes Zeichen werten und sich mit einer möglichst großen Schar Freunde angemeldet in den Wirtsraum begeben. Der Spaß und der ausgezeichnete Geschmack sind das Geld auf jeden Fall wert.

Text: Nil Thraby

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