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Macht Laune: Calçots katalanische Zwiebelorgie

Als seltsame Spezialität möchte ich an dieser Stelle auf eine
aufmerksam machen, die immer zu Jahresbeginn in Südkatalonien mit
großem Vergnügen verschlungen wird: die Calçots. Besagte gehören
zur Familie der verspeisbaren Gemüse und bilden damit eine
erfreuliche Ausnahme zu der fleischhaltigen Vorspeisenlandschaft
meiner Wahlheimat. Calçots sind eigentlich ordinäre weiße
Zwiebeln, die jedoch noch einmal gesondert umgepflanzt werden,
bevor man sie endgültig der Erde entreißt. Sie kommen in Form von
Stangen auf den Markt, dem Lauch dabei keineswegs unähnlich.
In Erinnerungen an finstere Traditionen der spanischen
Vergangenheit werden diese Stangen mitsamt Wurzeln, Haut und
zartem Fleisch auf ein offenes Feuer gelegt, wobei allerdings der
aufsteigende Geruch im Vergleich mit ehedem deutlich verbessert
worden ist. Dass dabei die äußere Schale verbrennt, ist erwünscht.
Geschmackvoll in einem halbrunden Ziegel drapiert, kommen sie auf
die vollen Tafeln der noch volleren Restaurants.
Denn Calçots werden in großen Gruppen verspeist, mit möglichst
vielen Freunden und Bekannten. Wir, die wir in der
tarragonensischen Provinz wohnen, erhalten so wenigstens einmal im
Jahr, nämlich im Februar, wenn das traditionelle Fest des
Zwiebel-Verzehrens ansteht, Besuch unserer weltstädtischen Freunde
aus Barcelona.
Man trifft sich am Vormittag, begutachtet ein wenig die
historischen Überbleibsel der Umgebung, versammelt sich dann auf
dem Marktplatz zu einem Aperitif und bewegt sich schließlich zum
meist außerhalb liegenden Restaurant. Dort wird man zunächst mit
den kleinen, sehr kräftigen Oliven (arbequines) und den typischen
Hartwürsten (fuets) der Gegend versorgt, und der lokale Rotwein
beginnt – zunächst noch zögerlich – zu fließen. Eigentlich trinkt
man diesen hier aus einem sogenannten porró, einem gläsernen
Trinkgefäß mit langem Ausguss, der, wenige Zentimeter vom Gesicht
entfernt, die rote Flüssigkeit allzu oft auf Hemd oder Hose und
nicht in den Mund fließen lässt. Aber die Großstädter müssen es ja
unbedingt versuchen, wollen zeigen, dass sie auch hier auf dem
Lande zu bestehen wissen. Der glückliche Umstand, dass um den Hals
gebundene Servietten fester Bestandteil eines Calçot-Essens sind,
bewahrt sie vor schlimmeren Folgen (Ich persönlich habe nach so
manchen Flecken beschlossen, die Erfindung der individuellen
Trinkgläser begeistert zu beklatschen und mich so dem
Ich-könnte-auch-vom-Dorf-sein-Wettbewerb zu entziehen.).
Da die Restaurants oft hoffnungslos überfüllt sind, werden die
Ziegel mit den verbrannten Wurzeln meist mit Hunger und unter
großem Hallo am Tisch willkommen geheißen. Und dann beginnt der
eigentliche Spaß: man versichert sich, dass die Serviette fest um
den Hals gebunden ist, greift sich eine der Stangen und hält sie
mit einer Hand an der Wurzel fest.
Nun entzieht man ihr vom anderen Ende aus, also sozusagen am
Gestrüpp, das zarte Herz. Dieses taucht man in eine dickflüssige
Tunke, hält es dann hoch über den Kopf und beißt das Ende ab. Dass
dabei Soße und Saft auf Gesicht und Serviette tropfen, versteht
sich von selbst. Die erwähnte Tunke, die unter dem Namen Romesco
bekannt ist, besteht aus so ungefähr allem, was hier wächst:
Tomaten, Öl, Knoblauch, Mandeln und Haselnüssen.
Der beschriebene Vorgang wird nun so lange wiederholt, bis es
entweder keine Calçots mehr gibt (was seltener auftritt) oder die
Beteiligten die Waffen strecken (was weitaus häufiger vorkommt).
Aber keine Angst: das Fleisch, das man vorhin noch mit hungrigen
Augen bestellt hat, ist bereits im Anmarsch. Überfressen und in
seinem persönlichen Diätplan um Jahrzehnte zurück geworfen,
taumelt man dann irgendwann gegen 18 Uhr aus dem Restaurant,
verabschiedet sich müde von seinen Freunden, fährt irgendwie nach
Hause und träumt dann die ganze Nacht von zuviel Essen. Und davon,
das alles im nächsten Jahr zu wiederholen.
Für die lokale Gastronomie hat die verbrannte Wurzel eine nicht
unerhebliche Wirtschaftskraft, denn für ein solches Calçots-Essen
muss man durchaus 25-40 Euro pro Person einrechnen. Da wird es den
Leser kaum wundern, dass Calçots bereits als
kulturell-ökonomisches Gut angesehen und als solches reguliert
wird. Wie Wein gibt es auch hier eine Ursprungsbezeichnung (DOC)
für besonders herausragende Zwiebeln. Ebenso wenig darf es
verwundern, dass Calçots in Wirklichkeit nicht nur im Februar,
sondern von Januar bis April gereicht werden: die Nachfrage
bestimmt das Angebot.
Wer jedoch authentisch traditionelles Zwiebelessen erleben möchte,
der sollte sich im zweiten Jahresmonat ein abgelegenes Gehöft mit
Wirtschaft suchen, sich nicht an den vielen Autos aus Barcelona
stören, sondern sie vielmehr als gutes Zeichen werten und sich mit
einer möglichst großen Schar Freunde angemeldet in den Wirtsraum
begeben. Der Spaß und der ausgezeichnete Geschmack sind das Geld
auf jeden Fall wert.
Text: Nil
Thraby
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ed 09/2013] / [druckversion
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