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[kol_3] Macht Laune: Nur zwei Stunden

Montagmorgen und ich habe mich gerade aus dem Bett gequält und an den Frühstückstisch geschleppt als mich die Frage aus dem Nichts  trifft: "Wie wäre es? Sollen wir nicht heute auf eine Insel fahren, an einen Strand, den Du noch nicht kennst und der genauso sein wird wie Du Dir einen Strand immer vorgestellt hast?" Na, was für eine Frage, denke ich noch, da überkommt mich die Erkenntnis, dass ich seit zwei Wochen meine Tage in der Hauptstadt San Salvador friste. Abrupt werde ich misstrauisch: Heute noch an einen Strand, die Uhr zeigt mittlerweile 9 und normalerweise werden solche Vorschläge mit den Worten eingeleitet "...wenn wir das morgen schaffen wollen, müssen wir aber um 6 Uhr los."

Bevor ich also antworte, betrachte ich meinen Gegenüber, den Besitzer der Stimme, die mich mit einem so wunderbaren Vorschlag bedacht hat. Hmm, eigentlich der Zuverlässigste von allen, trotzdem ist Vorsicht angebracht: "Schaffen wir das denn noch, ich meine, wie weit ist es denn bis zu dieser Insel?"

Mein Misstrauen scheint unbegründet: "Dauert keine zwei Stunden bis dahin; habe den anderen schon Bescheid gegeben und den Minivan für 12 Uhr bestellt." Tja, dann...

Um 12:30 Uhr steht der Van tatsächlich vor der Tür, Chauffeur gleich mitgemietet, wunderbar. Es dauert keine 20 Minuten und die Hälfte aller Beteiligten sitzt im Wagen, die anderen müssen wir noch kurz am Hotel auflesen: vorwiegend Deutsche und so setzt sich die Reisegruppe aus sieben Landsleuten und sieben Salvis zusammen. 13:15 Uhr nehmen wir Kurs auf die Stadtgrenze. Auf dem Weg erfahren die Anwesenden dann, dass es noch kurz am Supermarkt vorbei gehen wird zwecks Verpflegung. Super, scheint ja alles voll durchgeplant zu sein, ich fasse es nicht. Um 14 Uhr haben wir dann alles Notwendige besorgt und biegen keine halbe Stunde später in eine Tankstelle ein; lediglich drei Wagen vor uns, wir genehmigen uns die erste Cuba Libre und überlassen alles weitere dem Fahrer. 15 Uhr: die Massen entern erneut den Van und es kann endlich richtig losgehen. Die Stimmung ist ausgesprochen gut, wir erreichen den Stadtrand und ich frage noch einmal, wie weit es denn nun sei. "Zwei Stunden, mehr auf keinen Fall." Der Fahrer bestätigt diese Angabe. War eigentlich auch eine dämliche Frage, ist doch egal, wir haben ja alle Zeit der Welt.

In meinem Überschwang, die Aussicht auf einen Strand beflügelt mich, mixe ich dem Rest und mir noch einen Drink. Ich sitze direkt an der Quelle, der Kühlbox, in solchen Situationen eine wirklich gute Erfindung. Ich verliere mein Zeitgefühl, die Situation erreicht Perfektion ...bis ich der ungewohnten Hektik im Fonds des Wagens gewahr werde: kein lautes Geschrei, wie man es ja schon des Öfteren miterleben durfte, nur ein unruhiges Geflüster und Herumhantieren mit den Handys; dann etwas lauter die Frage nach der Telefonnummer eines Onkels. Skepsis schleicht sich in mein Hirn. Ich frage, was denn los sei, bekomme aber keine Antwort, dem Rest der Gruppe scheint noch nichts aufgefallen zu sein. Ich denke mir, versuchen wir es halt auf dem indirekten Weg. Ich stelle meine Standardfrage: "Wie weit ist es denn noch?", erhalte die Standardantwort, denke mir noch, sind doch schon eine Weile unterwegs, schaue auf die Uhr, stelle fest 16 Uhr und harre des Geistesblitzes, der mich innerhalb der nächsten 20 Sekunden treffen wird. Strand, Insel, Boote, das ist es! "Wann fahren denn die letzten Boote auf die Insel?" Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: 17 Uhr wegen der Flut. Aha! Da ist sie wieder die Situation, in der der Gringo nicht weiss, ob man ihn wissentlich auf den Arm genommen hat. 17 Uhr, also noch eine Stunde und die Wahrscheinlichkeit, dass es weniger als zwei Stunden bis zum Ziel sind, ist gering. Und so kommt es dann auch: pünktlich um 18 Uhr erreichen wir das Strandhaus des Onkels. Die Dunkelheit ist bereits über uns herein gebrochen.

Zwar wundern sich immer noch Einige, dass wir sozusagen mitten in der Nacht auf eine Insel übersetzen sollen, aber die Diskussion wird durch die Ansage, ein jeder möge sich doch nun einen Schlafplatz suchen, im Keim erstickt.

Soweit, so gut, was solls, solange mir keiner mit den obligatorischen zwei Stunden kommt, ist alles ok.

Am nächsten Morgen, nach einer sozusagen viel zu kurzen Nacht, erwache ich mit dem Blick auf die Insel, auf der ich mich eigentlich befinden sollte. Keine Stunde später überrascht mich die Frage, ob ich denn Lust hätte, heute auf eben jene überzusetzen. Ja, deswegen bin ich ja wohl hier, denke ich, antworte aber klar und deutlich, dass ich das sehr schön fände und frage noch, wann es denn los gehe. Wieder so eine Situation, mit der der Angesprochene, nichts anfangen kann. Wortlos wendet er sich von mir ab.

Ich bleibe in meiner Hängematte und entspanne gerade so richtig als unser salvadorianischer Bootsführer aufkreuzt und uns mitteilt, dass alles zur Abfahrt bereit sei. Jaja, das kenne ich schon! Erst nachdem der Latinoanteil unserer Gruppe alles Notwendige unter dem Arm balancierend auf den Strand zusteuert, raffe ich mich auf und folge dem Haufen. Es sind lediglich 50 Meter bis zur Anlegestelle. Die Sonne brennt und ich sehe unseren Kapitän mit seinen Kollegen die Netzte aufrollen. Mich irritiert in diesem Augenblick nicht, dass wir ungefähr 20 Minuten in der sengenden Hitze warten werden müssen, sondern dass meine mich begleitenden Einheimischen auf die Ansage Listo! ebenso reingefallen sind wie ich. Ich verstehe das ganze System nicht mehr, was soll ich denn noch tun, wie soll ich mich denn verhalten, sobald jemand zu mir sagt, es ginge jetzt los: sich an den Aktionen und Reaktionen der einheimischen Bevölkerung orientieren, funktioniert anscheinend nur mit mäßigem Erfolg. Als es dann doch losgeht, verkneife ich mir die Frage, wie lange es denn voraussichtlich dauern werde. Es ist ja nicht so, als wäre man nicht lernfähig.



Als wir abends dann zurück in San Salvador beim Essen zusammen sitzen, werfe ich während einer kurzen Gesprächspause ein, warum man hier denn auf die Frage, wie lange es wohl dauere, immer die Antwort "zwei Stunden" erhalte. Erstaunte Blicke allenthalben. Das wäre doch wohl offensichtlich. El Salvador sei ein so kleines Land, dass man, egal wohin, immer nur zwei Stunden brauche. Danke für das!

Text + Fotos: Sönke Schönauer

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