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[kol_1] Amor: Coco für Mayo in Morrocoy

"Coco für Mayo ... Coco für Mayo, Mayo bitte melden, hier ist Coco für Mayo."

Für ein paar Tage bleibe ich bei Miguel. Er hat ein traumhaftes Haus am Hang mit Aussicht auf die Inseln des venezolanischen Nationalparks Morrocoy (Park der Schildkröten). Nur wenige Mauern behindern den Blick des von Künstlerhand erschaffenen zweistöckigen Gebäudes. In der Regenzeit verirren sich daher des Öfteren Schlangen giftiger Gattungen in den Wohnbereich, doch momentan herrscht Trockenheit und so finden sich ausschließlich Taranteln ein.



"Coco für Mayo, Coco für Mayo."

Es knattert als ich das Walkie-Talkie ergreife und den seitlich angebrachten Kippschalter zum Sprechen nach unten drücke, so wie Miguel es mir gezeigt hat: "Hier ist Max bei Miguel. Hallo Miguel."

Kaum ausgesprochen wird mir der Sinn der Decknamen bewusst. Denn neben dem Künstler Miguel, bei dem ich mich momentan befinde, wenn er auch die nächsten Tage in Caracas unterwegs ist, gibt es den Bootsführer Miguel, dessen Boot Coco heißt und anscheinend der Kollege am anderen Ende der Funkwelle ist. Immerhin tragen 100 Prozent aller Venezolaner, die ich bislang kennen gelernt habe, den Vornamen Miguel. Möglicherweise finden sich auf der Funkfrequenz noch weitere 200 Miguels und die Verständigung kann nur über geheimnisvolle Decknamen funktionieren.

"Max bei Mayo, Max bei Mayo. Verstehe dich Coco."
"Hier ist Coco. Oye... Oye, die(s)er... die(s)er... die(s)er Mmmax! Max! Ist alles klar bei dir?"

Coco bzw. Miguelboot spricht so langsam, als drohe er zwischendurch einzuschlafen. Dazu kommt, dass er den Konsonanten s verschluckt. Er sagt also nicht dieser, sondern dieer - éte statt éste, éte... éte Max! Meinen Namen aber knallt er geradezu heraus, als wäre ihm soeben die Erleuchtung aller Erleuchtungen gekommen. Dem noch in die Phase des Überlegens hinein spielenden dehnenden sich wiederholenden M(mm) folgt blitzschnell das ax. Max!

"Aquí tranquilo (meint: Hier. Alles ruhig. Hab eine gute Zeit. Freue mich des Lebens. Hektik weit entfernt). Versuche gerade mit ein paar Flaschen Polarcita und etwas Rum die Vogelspinne vergessen zu machen, die mir gestern während des Stromausfalls im Bett Gesellschaft geleistet hat."
"Aha!"

Und wieder bin ich erstaunt: weniger über den Sinn seiner Antwort als über die Detonation: A-há! Dieses Aha klingt wie Ach so! (eine Augenbraue nach oben gezogen) Ach so ist das! Als ob er eben eine Erkenntnis gewonnen hätte. Vielleicht die Erkenntnis, dass ich mit Bier eine nicht in allen Belangen angenehme Begegnung aus meinem Gedächtnis zu streichen versuche.

"Hör mal. Ich komm hoch zu dir. Ich hole dich ab."
"Okay."

Knattern. Funkstille. Bei der verbalen Geschwindigkeit, die Miguelboot an den Tag legt, werde ich mich getrost in der Hängematte der nächsten Reihe der 2,22 dl fassenden Polarcitas widmen können.

Es wird dauern bis er von seinem Boot, das im Hafen von Morrocoy liegt und nicht in den beiden unter Rucksacktouristen bekannten Orten Tucacas oder Chichiriviche, an Land gehen und dann die acht Kilometer in seinem trägen Auto zu mir zurück gelegt haben wird.


Nach vier Stunden y pico ist er da. Ich nehme auf dem Beifahrersitz platz und er fährt gemächlich an. Als wir den Fuß des Hügels erreicht haben, dort wo die wenig befestigte Straße auf die Hauptstraße trifft, hab ich immer noch das Gefühl, dass er anfährt. Als sich die Geschwindigkeit jedoch bis nach Tucacas nicht ändert, verwerfe ich den Gedanken, dass wir irgendwann an diesem Tag die 15 Stundenkilometer-Schallmauer durchbrechen werden.

Miguelboot ist schlank fast drahtig, groß gewachsen - vielleicht 1,90 Meter, hellhäutig aber braun gebrannt. Das blonde von der Sonne gegerbte Haar ist mehr als schulterlang und zum Zopf gebunden, der Bart misst zwei handbreit und entbehrt, wie auch das Haar, keiner Völle. Obwohl seine grau-blauen Augen eine leichte Tendenz haben zu stechen, überwiegt vom Gesamteindruck her der müde Typ. So kommt es, dass wir die fünf Kilometer bis ins Fischerdorf Tucacas recht schweigsam verbringen und die Aktivierung der Verbindung Sprachrohr und Hirn gedrosselt ausfällt:

"Hör mal." Er schaut aus dem Fenster, dreht den Kopf, guckt wieder nach vorne, ohne die Geschwindigkeit von drei Kilometern pro Stunde zu drosseln. "Hör mal. Éte... éte... Mmmax!" Er dreht sich in meine Richtung und seine Miene verrät Stolz, Würde und gemächliche Entschlossenheit:
"Wir gehen essen."

Während der Suppe erzählt er dann, dass wir auf einen Freund warten. Miguel. Miguel repariert Autos. Er hat weder Telefon noch Walkie-Talkie, aber er kommt immer mal vorbei. Wir warten einfach. Nach dem Fleisch lehnt sich Miguelboot zurück und schläft sofort ein. Ich wechsle wieder zu Polarcita und schaue auf die Straße. Zwei Stunden später, Miguelboot ist wieder wach, sitzt vor einem Kaffee und schaut ebenfalls auf die Straße, hält Automiguel vor der Veranda des Restaurants. Die beiden tauschen sich kurz aus. Ich zahle und wir fahren Automiguel hinterher. Es dauert nicht lange, da hat er uns abgehängt.

Der Weg führt etwa 15 Kilometer ins Landesinnere. Die Luft steht und die Hitze zermürbt. Fahrtwind Fehlanzeige. Eine Mischung aus afrikanischen und europäischen Rindern tummelt sich hinter Stacheldraht.

Die eingezäunten Felder sind riesig, mit dem bloßen Auge kaum zu erfassen. Irgendwann taucht rechterhand Miguels Schrottpark auf. Bäume, Gräser und Schlingpflanzen haben sich der Integration der vereinzelt umherstehenden, ausgeschlachteten Autowracks in die Landschaft angenommen. Miguel selber haust in einem Anhänger, der neben öligen Schrauben und Werkzeug eine Hängematte beherbergt.

"Éte Max. Hör mal. Miguel will uns gleich sein Grundstück zeigen und die neue Konstruktion."

Noch während er mir die erstaunliche Mitteilung macht, an der ich ein noch erstaunlicheres "A-há!" erprobe, begibt er sich auf den Beifahrersitz und schläft umgehend ein. Eine Stunde später aber schon habe ich die Konstruktion vor Augen. Eine glatte, ovale Betonplatte, 4 x 5 Meter groß. Darüber eine auf vier Holzbalken gestützte Holzkonstruktion mit einem Dach aus Palmenblättern. Wände sind bis auf eine Mauer ringsherum in Kniehöhe, die als Sitzgelegenheit dient, nicht vorhanden. Die Mauer ist jeweils an den Längsseiten unterbrochen und markiert zwei Eingänge.

"Eine Konstruktion wie im alten Venezuela. Der Wind kann von allen Seiten herein. Angenehm frisch, was?"

Miguel ist stolz auf sein Eigentum und so sitzen wir bei schleppendem aber nicht unangenehmem Gespräch eine gute Stunde und genießen die Kühle. Dann folgt der Rückweg, auf dem ich Miguelboot frage, was er so treibt im Leben.

"Was machst du?"
"Ich lebe auf dem Boot."
"Fischst du?"
"Was? - Nein."
"Fährst du mit Touristen auf die Inseln?"
"Was? - Nein."
"A-há!"



Zehn Kilometer weiter und eine Stunde später - ich würde nicht sagen, dass Miguel in der Zwischenzeit hoch konzentriert an einer Antwort gebastelt hat, als dass sich vielmehr meine Frage in seinem Hirn hinter einigen anderen intern zu klärenden Gedanken anstellen musste und nun wieder an der Reihe ist, angegangen zu werden:

"Hör mal. Ich war in Caracas und hatte zehn Jahre lang meine eigene Diskothek. Viel Party und immer diese laute, laute Musik. Vor zwei Jahren habe ich es nicht mehr ausgehalten, den Laden verkauft und das Geld in mein Boot investiert. Seither lebe ich in Frieden. Tranquilo."

Wieder in Künstler Miguels Haus freue ich mich, dass es keinen Stromausfall gab und das Bier gekühlt ist. Ich lege mich in die Hängematte und mit dem Blick über die Inseln des Nationalparks schlafe ich ein und wache erst bei Sonnenaufgang wieder auf. Zwei Stunden später hat sich die kleine Tarantel, die seit dem ersten Lichtstrahl unter dem Tisch sitzt, noch immer nicht bewegt. Dann knattert das Walkie-Talkie:

"Coco für Mayo... Coco für Mayo, Mayo bitte melden, hier ist Coco für Mayo."
"Max bei Mayo, Max bei Mayo. Was gibt es, Coco?"
"Hier ist Coco. Oye... die(s)er... die(s)er Mmmax! Max! Ich hol dich ab. Wir gehen aufs Boot."
"A-há! Bis später."

Text + Fotos: Dirk Klaiber