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[art_2] Bolivien: Junge Hoffnungsträger gegen Pestizide
 
Pestizide sind giftig und wer mit ihnen hantiert, muss Schutzkleidung tragen und Vorsicht walten lassen. Das steht hier in Deutschland auf jeder Flasche Pflanzenschutzmittel. Zudem gibt es hierzulande Behörden, die Mittel aus dem Verkehr ziehen, wenn sich herausstellt, dass es für Mensch oder Umwelt zu gefährlich ist. Soweit, so gut. Doch in den Ländern der 3. Welt gibt es oft keine Instanz, die diese giftigen Substanzen kontrolliert, und so können dort Insektizide ungehindert in den Kreislauf gelangen, die hier schon lange verboten sind.

Lehrer: Was macht der Mann da?
Schüler: Er besprüht seine Pflanzen.
Lehrer: Und was wird passieren?
Schüler: Das Wasser wird vergiftet.
Lehrer: Und was passiert, wenn die wir die Fische, die in diesem Wasser schwimmen, essen?
Schüler: Dann werden auch wir vergiftet.

27 Kinder sitzen dicht gedrängt auf ihren Holzschulbänken der Grundschule von Parotani in Bolivien. Einmal pro Woche dreht sich in ihrem Unterricht alles um das Thema Pestizide. Wie ihre Klassenkameraden trägt die 10jährige Nancy als Schuluniform einen mehr oder weniger weißen Kittel. Pestizide, das hat sie hier gelernt, sind gefährlich: "Die Pestizide schädigen die Pflanzen, die Menschen und die Tiere. Mein Vater hat früher auch Pestizide benutzt, einfach so, ohne Handschuhe oder anderen Schutz."

Parotani ist ein etwas größeres Dorf, rund zwei Autostunden von der Großstadt Cochabamba entfernt. Fast alle Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Die Bauern verwenden massenhaft Pestizide und wissen meistens nichts über die Gefahren, die damit verbunden sind. Deswegen hat Giovanna Quiros Goméz das Thema auf den Lehrplan gesetzt: "Die Kinder helfen zu Hause auf dem Feld mit und werden später selber Bauern werden. Deshalb ist es wichtig, dass sie über Pestizide Bescheid wissen. Bislang verwenden die meisten Bauern hier das Gift. Die Kinder erzählen, dass es bei ihnen zu Hause in großen Behältern herumsteht." Giovanna Quiros Goméz ist sich sicher, dass die Pestizide gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder haben. Anders kann sie sich vieles, was ihr an den Schülern auffällt, nicht erklären: "Manchmal werden Kinder mit Missbildungen geboren und viele Kinder haben große Schwierigkeiten beim Lernen."

Im städtischen Krankenhaus von Cochabamba wird die Vermutung, dass Pestizide gesundheitliche Schäden anrichten, geteilt. Dr. Ramiro Cadima Flores ist Toxikologe und hat eine Studie durchgeführt, in der er untersucht hat, ob es Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch von Pestiziden und Missbildungen von Kindern gibt: "Was uns am meisten Sorgen bereitet, sind die chronischen Vergiftungen. Wir wissen von unseren Besuchen in den ländlichen Gebieten, dass es bei den Familien, die schon lange und übermäßig viele Pestizide verwenden, häufiger Missbildungen von Kindern gibt. Wir müssten noch weitere Studien machen, um den Zusammenhang eindeutig nachweisen zu können. Aber es ist auffallend."

Besonders häufig fällt ein Zusammenhang zwischen Fehlbildungen und Pestiziden dann auf, wenn  das verwendete Herbizid den Wirkstoff Glyphosat enthält,. "Glyphosat ist günstiger als andere Pestizide und wird deshalb am häufigsten verwendet. Vor allem dann, wenn es mit anderen Pestiziden vermischt wird, ist es besonders giftig. Es gibt eine Kombination, die bis zu 22 Mal giftiger ist als herkömmliche Mittel und dementsprechend gesundheitsschädlich. Das Glyphosat wird mit Flugzeugen über den Feldern versprüht. Alle möglichen Lebensmittel werden so behandelt: Zucker, Reis, Kochbananen, Palmherzen, Ananas …", erklärt Ramiro Cadima Flores. Doch einen wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, ist schwierig. Es fehlt an Geld für weitergehende Studien und es gibt in Bolivien keine Behörde, die regelmäßig Lebensmittel auf chemische Rückstände untersuchen würde. Doch Dr. Cadima Flores und sein Team fanden bei Stichproben unter anderem schwer belastete Tomaten und Gurken. Und das Gift findet sich nicht nur in den Lebensmitteln, es verbleibt auch im Boden und gerät ins Wasser.

Die Pestizide werden bei Weitem nicht nur von Plantagenbesitzern mit Flugzeugen verwendet, sondern auch von den Kleinbauern – und die kaufen die Chemikalien nicht in Fachgeschäften. Sie wissen nichts von Wechselwirkungen mit anderen Mitteln. Dass das Tragen von Schutzkleidung und Atemmasken beim Sprühen dringend angeraten wird, hat ihnen beim Kauf niemand gesagt. Warnhinweise oder Gebrauchsanweisungen gibt es meistens nicht. "Es gibt beim Vertrieb dieser Produkte keinerlei Kontrollen. Man kann die Pestizide einfach auf der Straße kaufen. Fliegende Händler bieten sie auf dem Markt in großen Kanistern an und haben selber keine Ahnung von dem, Produkt. Sie verkaufen die Pestizide, als wären es Brot oder Süßigkeiten", so Flores.

Die bolivianische Organisation centro de estudios e investigacion en impactos socio ambientales, kurz CEIISA, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Pestizide. Nach den Recherchen von CEIISA werden in Bolivien jedes Jahr 2.000 Personen in Krankenhäusern behandelt, die sich bei der Arbeit mit Pestiziden akut vergiftet haben. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. "Die Leute klagen über Kopfschmerzen und Übelkeit. Oft gibt es schlimme Hautausschläge. Und bei den langfristigen Folgen reden wir über Krankheiten wie Krebs", berichtet Alex Santivanies Camacho von CEIISA. Er kämpft dafür, dass zumindest die giftigsten Mittel auch hier vom Markt genommen werden. Doch bislang waren alle Bemühungen vergeblich. "Es fehlt uns an politischer Macht und es gibt bei diesem Thema enorme wirtschaftliche Interessen. Die Institution, die die Agrochemie reguliert, ist die SENASAC. Sie spricht jedoch nur die Empfehlung aus, bestimmte Mittel nicht zu verwenden, verbietet sie aber nicht."

Die wirtschaftlichen Interessen liegen nicht nur bei den Händlern, die mit dem Verkauf der Pestizide gute Geschäfte machen, sondern ebenso bei den Herstellern der Chemikalien. Und die sitzen ausnahmslos im Ausland; vorwiegend in den USA und Westeuropa. Den Zugang zum bolivianischen Markt verschafften sich die Unternehmen über Hilfsprojekte. "Die Einführung der konventionellen Landwirtschaft geschah größtenteils über amerikanische Hilfsorganisationen, die Bauern zum Thema Nahrungsmittelsicherheit schulten. Sie empfahlen für eine bessere Produktion den Einsatz von Pestiziden. Und diese Anbaumethode wird von Generation zu Generation weiter gegeben", erklärt Camacho.

Der Hof von Mario Valderama Penaloza ist nicht besonders groß: Acht Kühe, Hühner, Kaninchen und ein paar kleine Felder. Der Bauer nahm in den 90er Jahren an einer dieser Schulungen teil. "Meine Eltern und Großeltern haben keinerlei Chemie auf ihren Feldern verwendet. Aber im Jahr 2000 gab es hier ein Projekt zum Anbau von Zwiebeln. Die Agraringenieure sagten ‚Sprüht sie mit dem hier ein‘ und eure Ernte wird ergiebiger. Das haben wir gemacht", erzählt Penaloza.

CEIISA versucht nun das Rad zurück zu drehen und propagiert Anbaumethoden, bei denen auf die giftigsten Pestizide der Klassen 1a und 1b verzichtet wird. Die Organisation stellt Plakate auf, verteilt Flugblätter und sendet Radiospots wie folgenden: "Die Läuse auf meinen Tomaten werde ich mit diesem starken Insektizid besprühen. Die werden schon sehen … Oh, was passiert mit mir? Ich bekomme Kopfschmerzen und sehe nicht mehr richtig!" Mit Spots wie diesem sollen Bauern aufgeklärt werden. Die Überzeugungsarbeit ist mühsam, schon deshalb, weil viele Bauern gar keinen Zusammenhang zwischen dem Pestizideinsatz und gesundheitlichen Beschwerden herstellen. Aber manchmal gelingt sie – so, wie bei Mario Valderama Penaloza: "Als ich erfuhr, wie schädlich die Chemie für den Körper ist, dachte ich an meine Kinder und entschloss mich, Lebensmittel wieder wie früher anzubauen..." Heute verzichtet der Bauer auf Pestizide und künstliche Düngemittel – auch wenn seine Zwiebeln jetzt nicht mehr ganz so groß und makellos sind. Und er versucht, seine Nachbarn davon zu überzeugen, es ihm nachzumachen.

Die Kleinbauern zu erreichen ist aufwendig und mühsam – einfacher ist es, in die Dorfschulen zu gehen und das Thema Pestizide auf den Lehrplan zu setzen. CEIISA hat deswegen eine ganze Reihe Unterrichtsmaterialien aufgelegt, die den Schulen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Die Hilfsorganisation Terre des Hommes unterstützt die Arbeit von CEIISA. Sie setzt sich besonders für die Rechte von Kindern ein und der Vertreter von Terre des Hommes in Bolivien, Peter Strack, sieht beim Thema Pestizide eine Verletzung der Menschenrechte – denn die Menschenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder das Recht haben, in einer gesunden Umwelt aufzuwachsen: "Wenn ein Kind mit einer Behinderung geboren wird, das keine Behinderung gehabt hätte, wenn es nicht diesen Pestiziden ausgesetzt wäre, dann ist das eine Verletzung seines Rechts. Wenn ein Kind in der Schule Lernschwierigkeiten hat, dann ist das eine Verletzung des Rechts auf bestmöglichste Entwicklung. Wenn die Kinder, sobald sie groß sind, dann soviel Gift angesammelt haben, dass sie an Krebs erkranken, dann sind das Menschenrechtsverletzungen."

Peter Strack sieht sich gerade als Vertreter einer deutschen Organisation besonders in der Pflicht – schließlich ist Deutschland ein wichtiger und bekannter Standort der chemischen Industrie und die in Bolivien eingesetzten Pestizide stammen zu einem guten Teil aus Deutschland. Manche sind hierzulande schon seit Jahren verboten. "Wir engagieren uns bei diesem Thema nicht nur in Bolivien,  sondern versuchen auch in Deutschland ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass dieses industrialisierte Entwicklungsmodel Folgen hat, die auch in Deutschland wahrgenommen werden sollten", so Strack.

Wenn in Deutschland der politische Wille dazu vorhanden wäre, dann könne auch von hier aus eine Menge getan werden, um den Einsatz der giftigsten Pestizide in der 3. Welt zu reduzieren.  "Der deutsche Staat sollte auf internationaler Ebene dafür sorgen, dass die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Regelungen im Umgang mit Agrarchemikalien von den entsprechenden Ländern auch angewendet werden", sagt Strack.

Doch solche politischen Prozesse sind langwierig – und bis die Kinder der 4. Klasse von Parotani in ein paar Jahren selber ihre Felder bestellen, dürfte sich noch nicht allzu viel verändert haben. Deshalb setzt das Schulprojekt von CEIISA nicht nur darauf, die Schüler über die Gefahren der Pestizide aufzuklären. In kleinen Schulgärten lernen die Kinder, wie sie Lebensmittel ohne Chemie anbauen können. Heute erklärt der Agraringenieur Elias Peres Sanchez die Herstellung eines natürlichen Düngemittels, bestehend aus Mist, Eierschalen, Zucker, Jogurt und anderen Zutaten. "Wir bringen den Kindern bei, wie man ökologischen Landbau betreibt. Hier in Parotani werden sehr viele Pestizide verwendet und wir wollen Alternativen aufzeigen. Die Kinder sind sehr interessiert. Sie bringen oft Insekten mit und sagen ‚Schau, ich habe neues Ungeziefer entdeckt, was können wir machen, um es zu bekämpfen‘", berichtet Sanchez.

Wenn die Kinder von früh auf lernen, dass es noch andere Möglichkeiten als den Einsatz von Chemie gibt, dann, so die Hoffnung, werden sie später auf Pestizide verzichten. Und vielleicht können sie heute schon ihre Eltern davon überzeugen.

Der 10jährigen Nancy ist das gelungen: " Es hat funktioniert! Meine Eltern habe  mir zugehört und mich verstanden und sie haben mir versprochen in Zukunft keine Pestizide mehr zu verwenden."

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

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