caiman.de 08/2005
[art_1] Bolivien: Kindheit unter Tage - Minenkinder in Potosí
Der kleine Krämerladen am Fuße des Cerro Rico in Potosí hat alles, was man für den täglichen Bedarf braucht: Kekse, Tee, Dynamit und Zündschnüre. Genau das richtige Gastgeschenk für die Kinder. Das die Jungs damit Unfug treiben könnten, steht nicht zu befürchten. Dynamit ist ihr wichtigstes Werkzeug bei der Arbeit in den Minen. Die Stadt Potosí in Bolivien war einst die reichste Stadt der Welt. Ihr kegelförmiger Cerro Rico, zu Deutsch Reicher Berg, steckte voller Silber, mit dem die Spanier Jahrhunderte lang ihre Staatskasse füllten. Nach 500 Jahren ist das Silber ausgebeutet und der Reichtum der Stadt verblichen. Zurück geblieben ist eine verarmte Bevölkerung, die in dieser unwirtlichen Gegend auf einer Höhe von über 4000 Meter nur ein Auskommen hat: Die Minen, in denen noch spärliche Reste von Zinn und Zink zu finden sind.
Minenarbeit, das heißt jeden Tag mindestens acht Stunden in einem engen Schacht zu schuften, in dem es keine Abstützung, keine Frischluft und kein Licht gibt. Es ist kalt und feucht, der Staub zerfrisst die Lungen. Männer werden in dieser Stadt durchschnittlich 39 Jahre alt. So müssen die Söhne in den Berg, wenn die Väter zu krank sind um ihre Familien zu ernähren. Heute geht Jhonnig Edwin und Rodrigo zur Hand. Den dreien kommt das Gastgeschenk gerade recht, denn sie wollen eine Erzader frei sprengen. Mit dem Kennerblick dreijähriger Bergbauerfahrung sucht der 16-jährige Edwin die richtige Stelle für die Sprengladung. Mit Stemmeisen und Hammer treibt er ein Loch in den Fels. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen zugekniffen, damit kein Staub hinein rieselt, beisst er die Zähne zusammen und schlägt ein ums andere Mal zu. Millimeterweise kommt er voran. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß, immer wieder muss er absetzen und sich von Rodrigo und Jhonnig ablösen lassen. Zu ertragen ist die Arbeit im Berg nur durch unablässiges Coca kauen. Das vertreibt Hunger und Durst und hält wach. Sie bereiten die Sprengladung vor: Dynamit, Zünder, Zündschnur und Amoniumnitrat "damit es richtig kracht". Die Lunte wird gezündet, stolpernd geht es gebückt den Gang hinunter. Es knallt ohrenbetäubend, der Berg erzittert und ächzt, Steine und kleine Felsbrocken lösen sich. Mit der Druckwelle schießt eine Ladung dichter Staub durch den Schacht. Ein bisschen aufgeregt gehen die drei zurück. Vor lauter Staub ist kaum etwas zu erkennen. Die Jungs halten sich die T-Shirts vor Nase und Mund. Und da liegt sie, die Ader, anderthalb Meter lang, die Erzkristalle funkeln im Licht der Grubenlampe. Edwin strahlt: "Wir haben in der Lotterie gewonnen." Rund 6500 Kinder arbeiten in den Minen oder in der Weiterverarbeitung des Erzes. Kinderarbeit ist in der Dritten Welt selbstverständlich, auch wenn in Bolivien offiziell, so wie in den meisten Ländern, nur Jugendliche ab 14 Jahren arbeiten dürfen. "Kinder müssen mitarbeiten um die Familien zu ernähren. Es hat keinen Sinn gegen diese Realität anzukämpfen. Aber wir können helfen ihr Leben erträglicher zu machen." Eloy Oporto von der bolivianischen Hilfsorganisation CDR leitet in Potosí ein Projekt für die Minenkinder, das von der Deutschen Kindernothilfe unterstützt wird. Täglich kommen 250 Kinder hierher. Siebenjährige, die nach der Schule ihren Müttern helfen das Erz aus den Steinen zu klopfen. Elfjährige, die bereits in den Stollen arbeiten.
Nichts lieben die Kinder mehr, als sich unter dem eiskalten Wasserstrahl die Hände zu waschen. Hier bekommen sie die einzige richtige Mahlzeit des Tages. Es gibt eine Ärztin, die die Kinder auf Parasiten untersucht und Verletzungen behandelt. Und es gibt Lehrer, die ihnen bei den Hausaufgaben helfen. "Wir bestehen darauf, dass jedes Kind, das zu uns in das Projekt kommt, zur Schule geht. Denn nur, wer gut ausgebildet ist, hat überhaupt eine Chance Potosí und die Minen jemals zu verlassen", erklärt Eloy. Er weiß, wovon er spricht, der Sozialpädagoge war selber einmal Minenarbeiterkind. Dass Schule wichtig ist, das muss man diesen Kindern nicht erklären. Ernsthaft und konzentriert sitzen sie über ihren Hausaufgaben, fragen nach, freuen sich über alles, was sie verstehen. Dabei haben viele von ihnen nicht nur die Schulstunden, sondern auch schon eine Nachtschicht hinter sich.
Insgesamt zwölf Stunden dreckige, staubige Knochenarbeit und zum Schluss ein Verdienst von vier Euro für jeden von ihnen. In Potosí ist das ein richtig guter Tag. Text: Katharina Nickoleit Fotos: Christian Nusch Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.
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