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[art_1] Brasilien: Lulas Regierung verliert ihr Hirn - José Dirceu tritt zurück

Das ganze erinnert an Opposition. Im Präsidentschaftswahlkampf 2002 erschallte die Hymne auf allen Straßen und Plätzen, und wer unter den zwei Millionen Menschen war, die in der Wahlnacht dem soeben zum Präsidenten gewählten Luiz Inácio Lula da Silva auf der Avenida Paulista zujubelten, dem wird sofort ein Schauer über den Rücken laufen. "Ihr müsst es nur wollen, und schon wird es Realität: Jetzt ist Lula!"

Auszüge aus der Originalrede von Dirceu und Foto-Film
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In Endlosschleife erschallt das Lied fast drei Jahre später in der Casa Portugal in São Paulos Stadtviertel Liberdade. Es soll die 1500 militanten Anhänger von Lulas Arbeiterpartei PT in diesen schweren Tagen in Schwung bringen. Gespannt warten alle auf den Auftritt von José Dirceu.

Bis vor etwa 24 Stunden war Dirceu noch Chef von Lulas Präsidialamt und der einflussreichste Politiker in Brasília. Der große Strippenzieher im Hintergrund, diskreter Steuermann des Regierungsschiffes.

Jetzt ist er das erste prominente Opfer des Korruptionsskandals, der seine Partei tief erschüttert und auf die Regierung überzugreifen droht. Ob ihm zudem ebenfalls die Rolle des Täters zukommt, untersuchen gerade mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse gleichzeitig. So soll die PT unter Dirceus Anleitung Abgeordneten befreundeter Parteien monatliche Schmiergelder gezahlt haben, damit diese im Parlament der Politik der Regierung zustimmen.

"Mensalão", etwa "fettes Monatssalär", nennt man die monatlichen Zahlungen von angeblich 30,000 Reais (über 10,000 Euros) und mehr, die von PT Schatzmeister Delúbio Soares ausgezahlt worden sein sollen.

Wenn es eine lebende Legende der politischen Linken in Brasilien gibt, dann ist es Dirceu. Seine Biografie liest sich wie ein äußerst spannender Roman und hat bereits als Vorlage für einen Kinofilm gedient. Ende der 60er Jahre wurde der radikale Studentenführer von der Militärdiktatur ins Gefängnis geworfen. Daraufhin entführten linke Guerillakämpfer den amerikanischen Botschafter in Brasilien und erpressten Dirceus Freilassung.

Dieser tauchte nach Kuba ab, wo er sich einer Gesichtsoperation unterzog. Aus dieser Zeit stammen Dirceus gute Kontakte zu Fidel Castro. Und so war er in den vergangenen 30 Monaten der Regierung Lula die Brücke zwischen der Karibikinsel und Brasília.

Und auch zu Hugo Chávez werden ihm beste Verbindungen nachgesagt. Ging es in den letzten Jahren darum, Positionen mit der venezolanischen oder kubanischen Regierung abzuklären, so setzte sich Dirceu ins Flugzeug.

Ende der 70er kehrte Dirceu heimlich nach Brasilien zurück und lebte lange als biederer Geschäftsmann getarnt eine kleinbürgerliche Existenz. Nach dem Ende der Militärdiktatur organisierte er alle vier Präsidentschaftswahlkämpfe seines Weggefährten Lula. "Lula ist das Herz der PT, ich bin das Hirn", pflegte der ehemalige PT-Parteichef stets zu sagen. Jetzt warten in der aufgeheizten Halle alle ungeduldig darauf, was das Hirn ihnen zu sagen hat.

Parteichef José Genoino bläst dem Publikum kämpferische Salven entgegen, heizt die Stimmung immer weiter auf. "Wir sind hier um zu zeigen, dass die PT den Kampf annimmt!"

Parteichef Genoino

Doch zuerst erklimmen die wichtigsten Minister und Abgeordneten der PT die Bühne, manche frenetisch gefeiert wie São Paulos ehemalige Bürgermeisterin Marta Suplicy. Bei anderen mischen sich Buhrufe unter den Applaus. Besonders Finanzminister Antonio Palocci bekommt den Unmut der Anhänger zu spüren; ist es doch seine konservative Wirtschaftspolitik, die nirgendwo in Brasilien so heftig kritisiert wird wie in den eigenen Reihen.

Am Eingang zu der Veranstaltung verteilen Anhänger eines linken PT-Flügels Erklärungen, in denen sie das Ende der neoliberalen Politik von Lula und Palocci fordern.

Parteichef Genoino

Und so fehlt auf der Veranstaltung dann eigentlich einer ganz besonders: Präsident Lula. Der war auch 24 Stunden vorher nicht mit von der Partie, als der in feinsten Zwirn gehüllte Dirceu im Kreise der Parteifreunde seinen Rücktritt bekannt gab.

Im Rudel verließen die PT Politiker nach der kurzen aber brillanten Rücktrittsrede Brasília, um an der Seite ihres Leitwolfs Dirceu der angeschlagenen Partei mit der Veranstaltung in São Paulo neuen Kampfesmut einzuhauchen.

Finanzminister Palocci links außen und Dirceu rechts außen

"Die PT und die Demokratie verteidigen" lautet der Slogan der Veranstaltung. In erregten Diskursen denunzieren die zahlreichen Redner Verschwörungen des Establishments gegen die PT und die Regierung, warnen vor dem Versuch der korrupten Eliten, der profitgierigen Bankiers, den Mann aus dem Volk aus dem Präsidentenpalast zu vertreiben.

Sie rufen nach Kampf, fordern zum Rückschlagen auf, bitten um Mobilisierung der Straße und sprechen der Opposition das Recht ab, der PT Korruption vorzuwerfen. "Die letzte Regierung war dermaßen korrupt, woher nehmen sie jetzt das Recht, über uns zu richten?"

Währenddessen versucht Präsident Lula im weit entfernten Brasília den in seiner Partei wütenden politischen Tsunami von der Regierung fern zu halten. Vorbei die Zeiten, in denen Lula den roten PT-Stern in Blumenform im Garten des Präsidentenpalastes pflanzen ließ.

"Wir werden ins eigene Fleisch schneiden, wenn es nötig sein sollte", hat er erst einige Tage zuvor verkündet; anlässlich der Eröffnung eines internationalen Anti-Korruptionskongresses ausgerechnet in Brasília.

Wem er den chirurgischen Eingriff mit jenen Worten androhte, kann nur vermutet werden. Neben Dirceu ist PT Schatzmeister Soares der Hauptbeschuldigte. Hartnäckig hält ihm die Parteiführung um PT Präsident José Genoino die Treue, während seine Frau ihm unlängst auf einer Pressekonferenz Spickzettel zusteckte, um sich den bohrenden Fragen der Reporter zu erwehren. "Die PT verkauft sich nicht und ergibt sich auch nicht", stammelte der nervöse Soares in die Mikrofone.

Jetzt kommt Soares auf die Bühne. Als einziger der Anwesenden wird er nicht angekündigt. Vielleicht hatten die Organisatoren Angst vor Buhrufen. Wenn dem so sein sollte, waren die Sorgen unbegründet. In Siegerpose begrüßt Soares die PT Anhänger.

Schatzmeister Soares

Doch nichts ist vergleichbar mit den Jubelszenen, die aufbranden, als der in Jeans und Lederjacke gekleidete Dirceu auftritt. Parteichef Genoino greift dessen Hand, reckt sie in den Himmel und die Menge stimmt Sprechgesänge zugunsten Dirceus an.

Doch sobald Dirceu ans Rednerpult tritt, legt sich eine unheimliche Stille über den Saal. Gespannt lauschen sie seinen Worten, die denen seiner gestrigen Abschiedsrede ähneln.

Dirceu und Genoino

Er spricht davon, dass er mit sauberen Händen und erhobenen Hauptes seinen Posten verlassen habe. Dass er den Ministersessel gegen seinen Abgeordnetensitz getauscht habe, um die PT im Kongress gegen die falschen Anschuldigungen besser verteidigen zu können.

Dann wird er kämpferischer. Er listet all das auf, was die Regierung in den letzten zweieinhalb Jahren geleistet habe, und jedes Mal fragt er die Menge, wem sie das zu verdanken habe. "Luuulaaa" schallt es zurück. "Sie wollen Kampf, und sie werden Kampf bekommen!"

Die Menge tobt. Und auf der Bühnen fallen die PT-Größen Dirceu um den Hals.

Die Partei hat einen neuen Helden. "José Dirceu ist mein Freund! Wer sich mit ihm anlegt, der legt sich auch mit mir an!", skandiert die Menge.

Und nur wenige Tage später erschallen die Rufe wieder, diesmal aus den 200 Kehlen der militanten PT Anhänger auf den Zuschauertribünen des Kongresses, während der wieder in feinen Zwirn gehüllte Dirceu seinen ersten Diskurs als Abgeordneter hält.

Lulas Wahlkampfhymne von 2002 scheint längst vergessen. Die Zeiten werden härter. Jetzt ist Krieg. Jetzt ist Dirceu!

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier die Höhepunkte von Dirceus Rücktrittsrede im Wortlaut:

Deutsch:
Ich glaube, dass ich im Kongress ab nächster Woche dem Land, der öffentlichen Meinung, all das erklären kann, was zur Zeit in der Gesellschaft debattiert wird. Sowohl was die tiefgreifenden ökonomischen Transformationen, die sozialen und politischen, die wir unter der Führung von Präsident Lula gerade durchführen, wie auch die unbegründeten Anschuldigungen gegen meine Person, meine Partei und meine Regierung betrifft.

Ich werde die PT mobilisieren, um alle die zu bekämpfen, die den politisch-demokratischen Prozess unterbrechen wollen, und die versuchen, die Regierung Lula zu destabilisieren.

Alle hier wissen, dass ich immer davon geträumt habe, Brasilien an der Seite von Präsident Lula zu regieren, und ich werde weiterhin Brasilien mitregieren, als Abgeordneter und als einer der Führer der PT. Ich betrachte mich nicht als außerhalb der Regierung, ich fühle mich als integrierter Teil der Regierung. Die Regierung Lula ist meine Leidenschaft, ist mein Leben, und ich lasse mit diesem Abschied einen Teil meines Herzens zurück, alle wissen das. Aber ich lasse nicht meine Seele zurück, sie zieht mit mir in den Kampf. Ich weiß zu kämpfen in der Ebene wie auf der Hochebene*, und ich habe die Demut als Militanter in meine Partei und in den Kongress als Abgeordneter zurückzukehren.

Ich schäme mich für nichts, was ich in der Regierung Lula gemacht habe. Ich habe saubere Hände, das Herz ohne Bitterkeit und den Geist auf das gerichtet, für das ich immer gekämpft habe: für Brasilien.

*Brasilia wird allgemein als Planalto bezeichnet, da es auf einer Hochebene liegt, und der Palácio do Planalto ist Lulas Präsidentenpalast.

Auszüge aus der Originalrede von Dirceu und Foto-Film
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Portugiesisch:
Acredito que, na Câmara, a partir da semana que vem, eu vou poder esclarecer ao país, à opinião pública, os temas que hoje estão em debate na sociedade, tanto com relação às profundas transformações econômicas, sociais e políticas que estamos fazendo sob a liderança do presidente Lula, como das denúncias infundadas contra a minha pessoa, o meu partido e o meu governo.

Vou mobilizar o PT para dar o combate àqueles que querem interromper o processo político democrático, e querem desestabilizar o governo do presidente Lula.

Todos aqui sabem que eu sempre sonhei em governar o Brasil ao lado do presidente Lula, e vou continuar governando o Brasil como deputado e como dirigente do PT. Não me considero fora do governo, me considero parte integrante do governo. O governo do presidente Lula é a minha paixão, é a minha vida e eu, ao sair, deixo aqui parte da minha alma, do meu coração, todos sabem. Mas não deixo a minha alma, ela vai comigo para a luta. Eu sei lutar na planície e no Planalto, e tenho humildade para voltar para meu partido como militante, para voltar para a Câmara como deputado.

Eu não me envergonho de nada que fiz no governo do presidente Lula. Tenho as mãos limpas, o coração sem amargura e tenho a mente sempre colocada naquilo por que sempre lutei, que é pelo Brasil.