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[kol_5] Grenzfall: Nachtregen
 
Das Land ist trocken. Langsam geht er den Hügel hinauf in Richtung des Hauses. Seine Schuhe wirbeln die puderige Erde zwischen den Steinen auf. Es ist spät, kühl, und der Mond steht hoch am Himmel. Es sind keine anderen Häuser zu sehen. Auf der Straße kann er glitzernde Quarzsplitter erkennen. Die Klippen einer anderen kleinen Insel schimmern matt kremefarben, kahl. Zwischen den Inseln liegt Mondlicht auf der See, und ein Segelboot durchquert dieses Mondlicht. Ein Poui-Baum bewegt sich in der Brise. Das einzige Geräusch. Er kann es gerade noch hören.

Er steht still und betrachtet die Sterne. Um den Mond herum fehlen sie, aber sie erleuchten den Rest des Himmels. Für eine Weile blickt er auf die See, beginnt dann wieder zu gehen.

Als er weiter den Hügel hinauf ist, sieht er ein Tal, in dem noch die steinernen Überreste einer Villa aus Kolonialzeiten stehen. Das Mondlicht bescheint das verbrannte Land, welches die Wände und Säulen der Ruine umgibt.

Er erreicht ein Tor. Zwei Hunde kommen ihm schwanzwedelnd entgegen. Sie bellen nicht. Er öffnet das Tor, lässt es offen und geht mit den Hunden, deren lange, hängende Ohren er ab und zu streichelt, über den Kies zur Garage, in der ein Jeep steht. Ein Wachmann liegt dort auf einem Holztisch, unter seinem Kopf ein Bündel Kleider. Er schläft. Über ihm brennt das Garagenlicht.

Er öffnet die Tür, die den Wäscheraum und die Garage verbindet. Die Hunde winseln. Sie starren ihn an, und er erwidert ihren Blick. Ihre Augen sind groß, klar und braun. Die Hunde wedeln mit ihren Schwänzen. Er betritt das Haus.

In der Dunkelheit der Küche ist es kühl. Das Licht der Sterne und des Mondes scheint durch die Jalousien. Er öffnet den Kühlschrank, nimmt seine Wasserflasche und trinkt schnell. Er seufzt, aber er ist nicht müde.

Ein Windhauch erhebt sich im Garten, ein Garten mit verstreut umherstehenden Bäumen, Krotonen, Kakteen und Bougainvilleahecken. Der Morgen eingezäunten Landes schimmert im Mondlicht weiß wie Knochen; viele der Pflanzen, sogar einige der Kakteen, wirken wie ausgemergelt. Die Bougainvilleahecken blühen. Er zittert. Unter ihm in der Ferne liegt die See. Kein Mondlicht dort; sie ist dunkel und unermesslich. Er nimmt ein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnet die schmiedeeiserne Tür zur Veranda. Er geht zu der nächstgelegenen Hecke und pflückt ein paar der Blüten. Dann geht er mit schnellem Schritt zurück ins Haus.

Im Schlafzimmer liegt eine junge Frau auf dem Doppelbett. Er sieht ein langes, entblößtes Bein. Es ist angewinkelt. Ein Arm hält das Kopfkissen umschlungen, der andere umschließt ihren Kopf. Ihre Brüste, hell und vorstehend, sind zur Hälfte in Mondlicht gehüllt. Er legt die Bougainvilleablüten auf die Fensterbank über ihrem Kopf. Durch das Fenster kann er das Segelboot im Mondlicht vor Anker sehen, und jemand, eine Silhouette, der das Beiboot zum Strand rudert.

Vorsichtig zieht er einen schon gepackten Seesack unter dem Bett hervor und geht damit ins Bad. Er legt ihn hinter den Duschvorhang in die Wanne, geht zum Waschbecken, wäscht sich Hände und Gesicht, putzt sich die Zähne, zieht sich aus und steckt seine Kleider in den Sack. Dann geht er zurück ins Schlafzimmer und schlüpft neben sie ins warme Bett. Sie spürt ihn, und er schiebt sich näher an ihre Wärme. Er lehnt sich an das Kopfende und beginnt ihren Rücken zu streicheln. Bald legt er sich neben sie und umarmt sie. Er drückt sie eng an sich und küsst ihren Nacken. Wieder und wieder. Mehr kann er nicht tun.

Das Licht des Mondes und der Sterne schwindet. Die Hunde draußen trotten über den Kies. Wind kommt auf und wird stärker und stärker, bis es wie ein Seufzen klingt. Ab und an, wenn der Wind sie bewegt, schaben Sonnenstühle über den gekachelten Boden der Veranda. Er horcht auf den Wind in den Bäumen, das Winseln der Hunde, die unregelmäßigen Atemzüge der Frau und das Ächzen des Daches.

Dann hört er den Regen und lauscht, während er nachdenkt.

Sie bewegt sich, flüstert ihm etwas zu, umarmt ihn, drückt sich jetzt an ihn, um seine Wärme zu spüren, und küsst seine Hand.

Es regnet, genau wie du es mir gesagt hast. Ich liebe den Regen, sagt sie und drängt sich an ihn. Er hört sie fast nicht.

Der Regen … der Regen, murmelt sie.

Sie schläft, den Arm um ihn gelegt.

Er aber horcht lange Zeit auf den Regen.

Text: Keith Jardim
Übersetzung: Martin Rosenstock

Das Buch / Der Autor: 'Nachtregen' stammt aus Keith Jardims Sammlung von Kurzgeschichten Near Open Water (Leeds: Peepal Tree Press, 2011). Keith ist in Trinidad aufgewachsen und hat an verschiedenen Orten in der Karibik gelebt. Alle seine Geschichten sind dort angesiedelt. Sie zeigen, wie gegenwärtig die (koloniale) Vergangenheit in der Region noch immer ist und wo die Wurzeln der politischen und sozialen Probleme von heute liegen. Doch die Geschichten beschreiben auch die Schönheit der Inselwelt, die Großzügigkeit der Menschen und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zur Zeit arbeitet Jardim an seinem ersten Roman.

Buchtitel: Near Open Water (eng.)
Autor: Keith Jardim
172 Seiten
ISBN 978-1845231880
Verlag: Peepal Tree Press Ltd.
Dezember 2011

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