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[art_1] Brasilien: Paule und Paulo an der weißblauen Torwand
Breitner und Sérgio am Rio Pinheiros

So zahlreich waren die Vertreter der deutschen und brasilianischen Wirtschaftsgemeinde erschienen, dass die mit weißer Fliege ausstaffierten Kellner Schwierigkeiten hatten, ihre vor Weißbiergläsern überquellenden Tabletts sicher durch die Räume des deutschen Clubs im Süden São Paulos zu manövrieren. Schon zu früher Mittagsstund genoss man das hefige Gebräu an den Ufern des träge vor sich hintrübenden Rio Pinheiros aus vollen Gläsern. Dazu erfreute ein reichhaltiges Buffet die Herzen der Anwesenden.

"Wir sind nicht mehr die Quadratköpfe, die cabeças quadradas, für die uns immer alle gehalten haben", ruft Paul Breitner dem Publikum entgegen, und als der Fußballweltmeister von 1974 noch hinzufügt: "Wir würden uns freuen, wenn Brasilien Weltmeister werden würde", bleibt einigen Gästen die Weißwurst fast im Halse stecken. Der bayrische Staatsminister Erwin Huber, der mit Breitner und dem brasilianischen Weltmeister von 1994, Paulo Sérgio, auf einer Werbetour für die WM 2006 durch Südamerika unterwegs ist, freut sich über die gute Stimmung im Saal. Schließlich greift er selber zum Mikro, um den Anwesenden eine Kostprobe seiner Portugiesischkenntnisse zukommen zu lassen. "Und ich verspreche, ich werde noch mehr lernen", fügt er noch auf Bayrisch hinzu, bevor es zum obligatorischen Showdown an der Torwand kommt. Jeder zwei Schuss, zuerst einen unten rechts, dann einen oben links!

"Im Prinzip ist der Weltfußball in den letzten 31 Jahren nicht besser geworden. Ups, jetzt bin ich wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben diplomatisch gewesen." Breitner grinst verschmitzt. Gefühlvoll tritt er den Ball, der daraufhin willig in das Loch untere rechte Torloch fliegt - 1:0.

"Der Fußballsport hat sich enorm verändert, und eben nicht zu seinem Vorteil. Und dazu haben vor allen Dingen wir in Deutschland und die Aktiven in den umliegenden Fußballländern beigetragen, weil wir das Verhältnis von Technik und Kraft immer mehr zu Gunsten der Kraft und zu Ungunsten der Technik verschoben haben. Es heißt nicht umsonst, dass wir Deutschen in den letzten 10, 15 oder sogar 20 Jahren den Fußball zuviel gearbeitet und zu wenig gespielt haben." Breitner schaut kurz auf, nimmt Maß und versenkt die Kugel oben links - 2:0.

Behände greift sich Paulo Sérgio den Ball. Breitner beobachtet ihn gespannt aus den Augenwinkeln. "Wir sind dabei, die führenden internationalen Fußballländer zu beobachten und da vor allen Dingen Brasilien und Argentinien, um wieder den Anschluss an die absolute Weltspitze wieder zu finden. Doch für unsere Nationalmannschaft kommt diese Weltmeisterschaft wahrscheinlich zwei bzw. vier Jahre zu früh. Ich sag das aus heutiger Sicht, dnn wir sind auf einem guten Weg. Aber ob es zu einer Finalteilnahme reicht, das würde ich für den heutigen Tag als sehr unwahrscheinlich erachten."

Knallhart semmelt Paulo Sérgio den Ball unten links in das kleine Torloch - 1:2. Er zupft sich noch einmal die Hose zurecht, dann nimmt er wieder Anlauf. "Für mich ist Brasilien der absolute WM Favorit. Bisher hat man immer gesagt, eine brasilianische Mannschaft kann keine WM in Europa gewinnen, aus welchen Gründen auch immer. Dafür gibt es jetzt, da viele der Nationalspieler in Europa spielen, überhaupt keinen Grund mehr. Ob Ronaldo, Ronaldinho oder Lúcio, alle wissen wie und wohin der Fußball in Europa läuft." Während Breitner noch über die deutschen Chancen sinniert, versenkt Paulo Sérgio seinen zweiten Ball - 2:2.

Die Entscheidung muss Staatsminister Huber bringen. Doch dessen erster Schuss findet nicht das untere rechte Torloch. Skeptisch beäugt er das obere linke, das erfahrungsgemäß schwierigere... "Sie können auch zweimal auf das untere schießen, Herr Minister." Doch davon will Huber nichts wissen.

Stattdessen lupft er den Ball hoch über die Torwand hinweg und mitten hinein in die Sponsorenbanner. "Ich schlage vor, wir holen noch jemand aus dem Publikum dazu."

"Es ist ja sehr einfach zu sagen, die Brasilianer hätten den Fußball im Blut." Breitners Blick gleitet geduldig durch die Zuschauerreihen. "Aber was einen großen Unterschied ausmacht, ist die etwas andere Motorik der Brasilianer. Der Brasilianer bewegt sich mit dem Ball, der Ball ist Teil seines Körpers, während bei uns der Ball meist unser größter Feind ist. Dazu kommt aber noch, dass wir seit einiger Zeit in Deutschland einen Wohlstand erreicht haben, der es unseren Kindern nicht mehr abverlangt, zu beißen, zu kämpfen, zu rennen und zu hoffen, dass sie über den Fußball wirtschaftlich und sozial nach oben kommen, so wie das bei meiner Generation noch der Fall war."

"Ich heiße Kerstin und arbeite im deutschen Konsulat", sagt die Frau aus dem Publikum mit den roten Haaren und tritt in den Kreis der Torwandschützen.

"Wenn man hier durch São Paulo oder Rio fährt und sieht, wie jeder noch so kleine Flecken, ob Wiese, Parkplatz oder sonst was, zum Fußballspielen benutzt wird, ob 2 gegen 2, 5 gegen 5 oder 11 gegen 11, dann wird einem klar, dass dies die Quelle für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ist. Hier werden immer und immer wieder neue Ronaldos im Dutzend herausgebracht." Breitner schießt daneben. Jetzt ist Paulo Sérgio dran. Er könnte alles klar machen, doch auch er scheitert an der Torwand.

Kerstin macht es mit ihren hochhackigen Schuhen besser und versenkt die Pille zu ihrer eigenen Überraschung ganz trocken. "Ich habe das vorher nicht geübt, ich schwöre", sagt Kerstin vom deutschen Konsulat. Motorik hin oder her, die Deutschen haben es halt einfach im Blut.

Text + Fotos: Thomas Milz

Und hier noch ein Zugaben-Zuckerl für alle Fußballfans. Wofür Paule ne halbe Stunde braucht, das sagt der Paulo in drei Sätzen:

Kann überhaupt irgendeine Mannschaft Brasilien bei der WM 2006 schlagen?
Paulo Sérgio: Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass Brasilien mal wieder der Gewinner sein wird. Das Team dazu haben wir, großartige Spieler haben wir auch, und wenn man sich gut vorbereitet und sich alle darauf konzentrieren, dann haben wir auch gute Chancen, zu gewinnen.

Und was ist mit Argentinien?
Paulo Sérgio: Argentinien zählt immer zu den Favoriten. Es gibt schon einige gute Teams, die auch Favoriten sind, aber wenn wir Brasilianer uns konzentrieren und unsere Spieler ihr Potential abrufen, haben wir gute Chancen zu gewinnen.

Was denkst Du über die Deutschen?
Paulo Sérgio: Deutschland ist immer eine große Kraft, und hat das auch immer gezeigt. So wie bei der letzten WM als sie großartigen Sport gezeigt haben, was niemand in der Form erwartet hatte. Sie sind diszipliniert, die Spieler haben einen auf Sieg programmierten Charakter.