ed 05/2012 : caiman.de

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[kol_2] Erlesen: Venezuela. Ein kleiner Roman
 
Alfredo Guzman stolpert in den Tag hinein. Und dann lebt er den Moment. Allerdings unreflektiert. Nichts scheint ihm von Bedeutung. Seine Frau und die zwei Kinder: Statisten. Sein Job als Gynäkologe am Fliegerstützpunkt in Brandenburg: Nebensache. Die Epoche Nazideutschland: wird hingenommen als gegeben. Und der Vater aus Venezuela, den er nicht kannte, weil dieser die Familie früh im Stich ließ: geschenkt.

Venezuela. Ein kleiner Roman
Jochen Jung

Haymon Verlag, 2005
ISBN-10: 3852184851
ISBN-13: 978-3852184852

Er ist hübsch anzusehen – so schreibt sein Sohn, aus dessen Sicht der Roman sehr kurzweilig erzählt wird – was ihm, dem Stolperer, der für nichts, was er tut, verantwortlich zu machen scheint, zum Verhängnis wird: ein Fehltritt mit der Ehefrau des am Schnaps berauschten Generals während einer rauschenden Feierlichkeit zur Ehrung Ernst Udets, Fliegerheld des ersten Weltkriegs. Sehr angenehm für Leser, für die Nervenkitzel nicht unbedingt zum Lesespaß dazugehört: Alfredo Guzman flieht ohne größere Aufregung zunächst vom Stützpunkt, dann über Curaçao nach Venezuela.

Die Überfahrt verbringt er mit jüdischen Familien auf der Flucht vor Hitler und seinen Schergen. Sowohl sein so gar nicht deutsch klingender Name als letztendlich auch sein Beruf sind für Kontaktanbahnungen von Vorteil. Ohne, dass es besonders thematisiert würde, bricht er mit seiner militärisch auferlegten pronationalistischen Gesinnung. Und so erwacht in ihm wenige Stationen später – es hat ihn in Venezuela in die deutsche Colonia Tovar verschlagen – gar der Rebell gegen das arische Rassendenken.

Bis zu diesem Punkt bin ich begeisterter Leser von Jochen Jungs kleinem Roman. Leider aber ist dies schon der Auftakt zum Schlussakkord, der wild vereint und entzweit, neues anreisst, was unbedingt hätte interessant sein können und abrupt endet – irgendwie unbefriedigend.

Die Stärke ist der völlig unreflektierte Umgang des Protagonisten mit seinem Leben: sinnvoller Job an sinnloser Wirkungsstätte und arisches Rassendenken trotz venezolanischer Abstammung. Sowie die Begegnung Alfredos mit seinem Vater, mit dem er das gleiche Schicksal teilt, das Zurücklassen der Familie – dies aber mit keinem Satz erörtert wird. Schwäche ist das „klein“ im Titel. Es hat fast den Anschein, als ob Jochen Jung unterbrochen wurde und den Roman so vorzeitig als erledigt betrachtete. So konstruiert er zwar in letzter Sekunde noch interessante Zusammenhänge, wie beispielsweise die Verwandtschaft Alfredos zu dem spannenden venezolanischen Ex-Präsidenten Guzman-Blanco. Es bleibt aber bei einem Nebensatz und der Gedanke verpufft bzw. schwingt nach – dann ist der Protagonist leider schon zur Seite gekippt und das Büchlein ist aus.

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon.de

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