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[kol_1] Grenzfall: Brückentechnologie als Synonym für Irokesenschnitt
 
Es mag ein Duztend Jahre her sein, da verband Villaberta und Villaclara eine einspurige Straße, teils geteert teils Natur belassen, hervorragend geeignet für Fahrräder. Donnerstags kam der Filmvorführer nach Villaberta, sperrte die kaum befahrene Dorf-Durchfahrt und zeigte aktuelles Kino. Dann rückte auch halb Villaclara an. Es ist noch viel länger her, da alljährlich im Hochsommer der Wanderzirkus in Villaberta gastierte und Villaclara genauso zahlreich im Publikum vertreten war. Der aus Südfrankreich stammende Familienzirkus mit Mama, Direktorin und Zauberei, Papa, Einlass, Clown und Lamabändiger, Tochter, Trapez und Pferde, und dem Messer werfenden Schwiegersohn mit der weinroten Nase, nahm Jung und Alt mit auf die phantastische Reise. Es war die Reise der Pinguine. Mit jeder dieser Reisen mutierten die Bewohner von Villaberta und Villaclara rein äußerlich mehr und mehr zu stoisch watschelnden, Bauch platschenden Polarvögeln. Und das verbindet sie heute noch.

Zum Leidwesen der durch zahlreiche Pinguinhochzeiten und tolerierte außereheliche Liasons verwobenen Villas begann die Landesführung Kataloniens das Straßennetz auf eine geradezu perverse Art und Weise auszubauen. Heute verbindet Villaberta mit Villaclara ein wirres, unansehnliches Netz aus vielspurigen Schnellstraßen und Kreisverkehren, die ins Nirgendwo führen. Befahren ist die Strecke zwar selten, aber wenn, dann mit Schwung und so wurden bereits drei Pinguine durch Raser in die Gruft befördert.

In Villaberta lebt eine alte Pinguindame. Jeden Tag trifft sie sich mit Ihresgleichen beim Metzger, denn für die katalanischen Pinguine ist eine Mahlzeit ohne Butifarra und Schweinfüße an Schnecken nur eine halbe Mahlzeit. Die alte Pinguindame hat den grünen Daumen und so platzt ihr Balkon vor wuchernden Pflanzen. Besonders ans Herz gewachsen sind ihr ihre Cannabisgewächse. Ihr Sohn Angelito ist ein wahrer Pinguinengel. Treu steht er seiner Mutter in der 40 Quadratmeterwohnung zur Seite. Das Engelchen ist arbeitslos und so geht er jeden Tag in den Wald, um Feuerholz zu suchen und die kleine Plantage zu pflegen, denn den grünen Daumen hat er von Mama geerbt. Von Beruf ist er Brückentechnologe und so hofft er seit Jahren, obwohl er sich nicht über sein Dasein beklagt, dass die Regierung eine gewaltige Brücke in Auftrag gibt, um die beiden zerrissenen Dörfer zu einen.

Beim Metzger erwerben die Pingindamen nicht nur Handfestes, sondern tratschen gern und viel. Die jeweils älteste Anwesende darf dabei auf dem einzigen Plastikstuhl im kleinen kühlen Verkaufsraum sitzen. Eines heißen Apriltages saß die alte Pinguindame schon seit einer geschlagenen Stunde auf dem Metzgerstuhl und verfolgte die Diskussion zweier Frauen, deren Pinguinmänner nach Deutschland geflogen waren, um dort zu arbeiten. Begriffe wie Wirtschaftswunder und dreifaches Gehalt fielen, aber ein Terminus prägte sich der alten Pinguindame besonders ein: Brückentechnologie.

Zu Hause angekommen erzählte sie Angelito während sie die Buttifara in Öl schwenkte von der Brückentechnologie - von gewaltigen Brücken und riesigen Bauvorhaben, die ganze Jahrzehnte überwinden können. Daher verabschiedeten sich die beiden, die zum ersten mal in 45 Jahren getrennt sein sollten, noch am selben Abend, auf dass der Jungpinguin sein Glück in der großen Metropole suchte.

Die Metropole hieß ihn willkommen, eher unaufgeregt. Eigentlich kümmerte sich niemand um den jungen Pinguin, vielmehr schien die Metropole einem trägen Strom gleich einfach alles mit zu reißen und in ihren Bann zu ziehen. Der Metropole war es egal, ob er da war oder nicht. Er aber war schon nach den ersten Eindrücken überwältigt und so stolperte Angelito mit offenen Augen und offenem Schnabel den Kopf ununterbrochen kreisen lassend durch die Straßen. Und wenn er am Kotti nicht in eine Demo geraten und auf dieser Demo nicht frontal mit der Nasespitze voran in ein Plakat gelaufen wäre, dann hätte er den Sinn seines Trips wohl gänzlich vergessen.

Das Plakat zeigte eine gewaltige Brücke, auf der Fässer mit atomarem Inhalt ins Nirgendwo rollten und darunter stand geschrieben: NIEDER MIT DER BRÜCKENTECHNOLOGIE

Weia, war sein einzige Gedanke. Viel begriff der kleine Pinguin noch nicht. Doch ahnte er, dass sich nicht alle Teile der Bevölkerung für den Bau von Brücken begeisterten. Er beschloss, seinen Wissenstand auf Vordermann zu bringen und suchte daher den nächst gelegenen Club Social auf, oder zumindest ein ähnlich anmutendes Etablissement.

Im Silbernen Biernacken hatte Montse mit ihren bunten Irokesenfreundinnen den Ecktisch links neben dem Getränkekühlschrank mit dem handgeschriebenen Hinweis no selfservice in beschlag genommen - wie jeden Tag. Das Gespräch drehte sich um die Zeitschrift passend zur Haarpracht, die sie bald herausgeben würden. Sie waren gerade dabei die Namensdiskussion abzuschließen als ein Pinguin durch die Tür trat.

Schon im Flugzeug hatte Angelito vergeblich Ausschau gehalten nach den Ansätzen gewaltiger Brückenkonstruktionen. Auch in der Metropole war er weder auf Plakate noch auf sonst einen brauchbaren Hinweis gestoßen. Zielstrebig ging er nun mit den größten Tippelschritten, die ein Pinguin im Stande ist zu vollführen, auf die Wirtin zu, um sie geradewegs mit seinem Brückentechnologie-Anliegen zu konfrontieren. Da stach ihm seitlich die Crew geschorener aber mittig mit einem Streifen toupierter Haarpracht in den schillernsten Farben bestückter Frauen zunächst ins Auge und dann mitten ins Herz, denn trotz ihres Äußeren wusste er von der ersten Sekunde, dass das in die Jahre gekommene Pinguinmädchen, das aus der Crew heraus stach, einst die Träume seiner Jugend gefüllt hatte. Als ob er sie gerade erst geschnäbelt hätten, umgab seinen Gaumen allein durch ihren Anblick ausgelöst der Geschmack frischer Doraden vom Grill und in Essig eingelegter Boquerones.

Kurze Zeit später war Angelito in die Irokesen-Runde integriert, packte nach und nach Unmengen seines persönlichen Cannabisvorrats aus Villaberta auf den Tisch und gewann so nicht nur das Herz Montses, die in Villaclara ebenfalls eine kleine Aufzucht betrieben hatte, sondern entlockte den angehenden Herausgeberinnen eines Irokesen-Modeblatts brückentechnologisches Fachwissen: Einen guten Politiker macht vor allem eines aus: der kreative Umgang mit Wortschöpfungen. Besteht die Intuition einer verbalen Kreation in der subtilen Volkesmeinungsbildung, so müssen Eingängigkeit des Begriffs gepaart mit der positiv konnotierten Irreführung der Bedeutung einhergehen. Brückentechnologie beschreibt den visionären Übergang in ein neues sauberes Zeitalter, das der Umwelt geschuldet zu 100% auf erneuerbare Energien setzt. Um den Übergang durch Atomkraft schon als sauberste vorübergehende Lösung anzubieten, verteufelten die der Atomlobby nahestehenden Politiker die kurz zuvor noch gepriesene Kohlekraftwerke als CO2-Schleudern. Fazit: Um den Weiterbetrieb der AKWs zu sichern, der rund eine Millionen Euro Gewinn pro Tag pro AKW in die Taschen weniger spült - für die Entsorgung des radioaktiven Materials gibt es zum einen noch keine Lösung und zum anderen ist das letztendlich Sache der Steuerzahlerin/des Steuerzahlers -, wurde der Begriff Brückentechnologie als Synonym für Atomkraft eingeführt.

Angelito und Montse busierten bedröhnt die ganze Nacht und gelobten die Verbindung fürs Leben. Zur Vorbereitung der institutionellen Vereinigung reisten sie umgehend zurück nach Villaberta und Villaclara. Seinen Traum vom Brückenbau hatte Angelito über Nacht aber keinesfalls aufgegeben, sondern lediglich modifiziert: Zukünftig wolle er als Flugbegleiter über die Luftbrücke, die Villaberta mit der Metropole verbindet, für einen regen Austausch zwischen bekifften Pinguinen und modebewussten Irokesen sorgen.

Beim Metzger berichtete die alte Pinguindame, dass sie wie ihre Schwiegertochter ins Zeitungswesen einsteigen und dafür den Kleinen Villaberta-Irokesen ins Leben rufen wolle. Der Metzger und die Wirtin vom Club Social aus Vilaberta sowie die Küsterin aus Vilaclara entschlossen sich daraufhin spontan, dem Modetrend zu folgen und sich beim Friseur zu Pinguinirokesen umgestalten zu lassen. Weitere folgten und bald erzielten die Bewohner der beiden Dörfer Aufmerksamkeit bei den katalanischen Machthabern, die umgehend dem Bau einer Brücke zwischen den beiden Dörfern zustimmten und diesen veranlassten. Und so spricht man in Villaberta und in Villaclara noch heute von Brückentechnologie als Synonym für Irokesenschnitt.

Text: Dirk Klaiber

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