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[art_4] Chile: Tauschhandel der Eliten - Die politische Stabilität Chiles

Als Michelle Bachelet im Südsommer 2006 die Wahlen zur chilenischen Präsidentschaft gewann, schien es, als kehrte sich das Land - zumindest teilweise - vergangenen Zeiten zu. Als Tochter eines nach dem Militärputsch zu Tode gefolterten Luftwaffengenerals stand sie doch für viele Chilenen auch für die fortschreitende Überwindung der Herrschaft Augusto Pinochets. Mehr noch als ihr Amtsvorgänger Ricardo Lagos symbolisierte sie durch ihre lange Zeit im Exil und ihre eigenen, persönlichen Erfahrungen in den Folterkellern des Regimes den moralischen Anspruch der chilenischen Linken auf das höchste Regierungsamt.

Doch musste man nicht auch Sorge haben, dass alte, schon fast vernarbte Wunden wieder aufbrechen könnten?

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Dass die als so gespalten beschriebene chilenische Gesellschaft die Feindschaften zwischen Anhängern und Gegnern, zwischen Begünstigten und Opfern nur schwer würde ausgleichen können, wenn die Präsidentin eindeutig letzteren zuzuordnen ist? Konnte nicht ein solcher, stark vorgetragener moralischer Anspruch, eben auch die als wirtschaftliche und politische Oberschicht nicht gerade einflusslosen ehemaligen Unterstützer General Pinochets 16 Jahre nach dem Übergang zur Demokratie mit dieser schon wieder entfremden?

Bislang jedoch scheinen sich auch die rechten Parteien Chiles mit der neuen Mandatsträgerin zu arrangieren: Innerhalb von nur einer Woche nach der Amtsübergabe hatten alle wesentlichen Oppositionsparteien ihre Unterstützung für einen ersten Maßnahmenkatalog Bachelets angekündigt.

Chile hat in der Vergangenheit stets eine Art politische und ökonomische "Vorreiterrolle" auf dem Kontinent - zu bestimmten Zeiten gar: nahezu weltweit - inne gehabt, nahmen manche Entwicklungen hier ihren Anfang, bzw. fungierte das Land als eine Art Leuchtturm für politische oder wirtschaftliche Strategien und Ideen. Schon im 19.Jahrhundert gaben der Salpeterboom und die starke Exportorientierung ein Vorbild für seine Nachbarn ab, war Chile zu einem weltweit bekannten Land, und Valparaíso zu einem Synonym für eine reiche und weltoffene Hafenstadt geworden. Die Comisión económica para América Latina (CEPAL), die dann ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Strategie der Importsubstitution spielen und für ganz Lateinamerika eine Epoche prägen sollte, hat noch heute ihren Sitz in Santiago. Der "chilenische Sozialismus" Allendes, mit dem er sich von der Radikalität Kubas abgrenzen wollte, wurde auf der ganzen Welt mit Spannung beobachtet, genauso wie die nachfolgenden Privatisierungen unter der Wirtschaftspolitik Pinochets in ihrer Reichweite und in ihrem - später - Wachstumserfolg den Kontinent beeinflussten. Und schließlich wurde in den 1990er Jahren mit Staunen betrachtet wie die demokratischen Regierungen der Concertación die Wirtschaftspolitik Pinochets fortführten und den Spielraum, den ihnen das nach wie vor hohe Wirtschaftswachstum einräumte, zu einer sozialeren "Nachjustierung" nutzten, die half, das - heute immer noch zweifelsohne hohe - Armutsniveau in den letzten 15 Jahren stark zu senken, ohne die Eckpfeiler der neoliberalen Ökonomie anzutasten.

Abgesehen von den Ereignissen im September 1973 (und der Folgeperiode), die im Rückblick immer noch als ein in seiner Heftigkeit unerwarteter Gewaltausbruch erscheinen, ist die politische Stabilität dieses Landes eine erstaunliche Konstante auf einem derart von Staatsstreichen, Diktaturen und Caudillos geprägten Kontinent. Bis auf die Zeit zwischen den ausgehenden 1960er Jahren und dem Ende der Militärdiktatur Ende der 1980er bleibt Chile in seiner politischen Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein fast vorbildliches Land, das weniger als alle seine Nachbarn von der als typisch lateinamerikanisch empfundenen Mischung aus Gewalt, Vetternwirtschaft und politischem Despotentum geprägt wurde.

Politische Strukturen und Parteien bildeten sich in Chile bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und damit früher als anderswo in Lateinamerika.


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Demokratisierungsprozesse und Einbindung erster organisierter Arbeitergruppierungen ins politische System erfolgten unerwartet reibungsfrei.

Früher als in manch europäischem Lande wurden die entstehenden Parteien zu Hauptakteuren der politischen Entwicklung, lernte die - überwiegend allerdings sehr kleine - Klasse der politisch einflussreichen Oberschicht die Vorteile von Kompromiss, Verhandlung und Mittelweg kennen. Von Anfang an war das politische Leben Santiagos nicht geprägt von einem polarisierten Konflikt zwischen Staat und Kirche, Zentralgewalt und Föderalgebilde, Arbeit und Kapital, sondern es gab stets eine Partei in einer Art Mittlerposition. Anders als in vielen - von langen Bürgerkriegen gezeichneten - südamerikanischen Ländern war es nahezu unmöglich, dass eine der partizipierenden Parteien alleine und auf Dauer die Macht und die Präsidentschaft übernehmen konnte. Die Folge war, dass Koalitionen ausgehandelt werden mussten, ein Lernprozess und eine Konstellation, die sich über lange Jahrzehnte ausgezahlt hat. Die traditionelle Oberschicht aus Großgrundbesitzern, die sich über die Zeit wechselnden Forderungen nach politischer Beteiligung weiterer Bevölkerungsgruppen gegenübersah, agierte stets geschickt mit kleinen Zugeständnissen. Die moderaten Liberalen wurden rasch in die Verantwortung eingebunden; die entstehende Arbeiterbewegung schnell in den Kreis der politisch entscheidenden Gruppen aufgenommen. All dies führte dann auch zur Herausbildung besonders pragmatischer, am politischen Ergebnis orientierter Parteien, wobei der Weg zum Personaltableau der Ministerien und Regierungsinstitutionen fast ausschließlich über die Rekrutierungsinstanz der Parteien führte.

Prämiert wurde nicht die rüde, gewalttätige Auseinandersetzung, die laute Agitation wider die herrschenden Verhältnisse, sondern eben die Aushandlung, das staatsmännisch-vernünftige Bündnis. Denn Parteien und gesellschaftliche Gruppen, die sich auf Kompromisse einließen, konnten so schnell Posten, Teilhabe und damit Einfluss gewinnen.

Freilich gab es auch in Chile kleinere bewaffnete Auseinandersetzungen, in den 1890er Jahren gar einen kurzen Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen. Die Kompromissbereitschaft der alteingesessenen Landbesitzer aber, die um des Machterhalts wegen anderen Bevölkerungsgruppen zunehmend politische Rechte einräumten, hat langfristig chronische Gewaltentwicklungen - wie die in Kolumbien beispielsweise - verhindert.

So ganz harmonisch, wie dies vielleicht klingen mag, war es dann aber doch nicht. Denn eine komplette Ausnahme von der Regel waren auch die chilenischen Großbürger nicht. Der Preis für diesen eher integrativen Staat bestand in dem ungeschriebenen Gesetz, die Massen der besitzlosen Landarbeiter, die Eigentumsverhältnisse auf dem Land und damit die elementaren Grundfesten der chilenischen Oligarchie nicht anzutasten. Selbst Kommunisten und Sozialisten hielten sich lange Jahre an dieses Gebot, setzten sich ein für die Minenarbeiter und urbanen Fabrikangestellten, ließen allerdings die mittelalterlich-feudalherrschaftliche Situation auf dem Land außen vor. Erst mit dem Entstehen der an der katholischen Soziallehre ausgerichteten Christdemokratie in den 1960er Jahren, die sich als eine der ersten für eine Einführung des Frauenwahlrechts einsetzte und in deren Folge die Politik und Wahlen auf die Mehrheit der Bevölkerung ausgedehnt wurde, zerbrach der Tauschhandel des "Einfluss gegen Machterhalt". Die mittlere Position im Parteiensystem brach mit der Mobilisierung der breiten Unterschichten des Landes weg, und mit dem Wahlsieg jener eher "linken" Democracia Cristiana begann der Weg zur viel konstatierten Polarisierung der chilenischen Politik, der dann zum sozialistischen Experiment Salvador Allendes (1970-1973) und später zur langen Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) führen sollte.

In der Nach-Pinochet-Zeit kommt die vor Allende bestehende spezifische Konstellation des Kompromisses wieder zum Tragen.

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War vor 1964 (Der erste Wahlsieg der oben erwähnten Christdemokraten) der Ausschluss der Landbevölkerung von politischer Teilhabe und die Unantastbarkeit des Großgrundbesitzes der Preis für die beschriebene Stabilität, so ist dies heute die ungefährdete konservative Dominanz der Medien und der öffentlichen Meinung. Die Wähler müde und nach dem Ende der Diktatur der politischen Konfrontation überdrüssig, findet man seit anderthalb Jahrzehnten wieder eine ähnliche Situation des Tauschhandels zwischen der konservativen Oberschicht und den regierenden Parteien.

Zwar scheint der Übergang zur Demokratie in Chile in vielen Punkten unvollständig und vom Militär mitbestimmt; jedoch sollte man nicht vor der Tatsache die Augen verschließen, dass eben jener Prozess Ausdruck des wieder auferstandenen Tauschhandels zwischen der Oligarchie und den Mitte-Links-Parteien ist und Chile bis heute eine kaum erwartete Periode der Stabilität und des Wachstums beschert hat. Die Änderung der Pinochet-Verfassung ist mittlerweile - bis auf das Wahlrecht - nahezu abgeschlossen. Die lange Zeit, die es dazu brauchte, war aber sicherlich entscheidend dafür, gerade den Befürwortern und Anhängern der Militärregierung nicht die Drohung einer nun folgenden Rache vor Augen zu halten. Im Parlament durch das binominale Wahlrecht, welches den beiden stärksten Parteienblöcken die gleiche Zahl an Mandaten zuspricht, fast immer ähnlich stark wie die regierende Concertación, konnten eben auch die rechten Parteien am politischen Prozess teilhaben, und so zwar den Prozess der Überwindung der Diktatur verlangsamen, aber eben auch dafür sorgen, dass sich ihre Anhängerschaft dem politischen System nicht gleich wieder entfremdete.

Das politische Leben Chiles ist nach der Diktatur - wieder - von Kompromissbereitschaft und erstaunlicher Vorsicht der Parteien untereinander gekennzeichnet. So oft von der Polarisierung der chilenischen Gesellschaft gesprochen wird, unter den Regierenden wird ein Ton angeschlagen, der durch seine geringe Lautstärke überrascht. Nun sind eben wieder Kompromisse gefragt; keine Partei kann für sich alleine die Regierungsgewalt beanspruchen. Die Parteienlandschaft ist zwar weiterhin in zwei Blöcke gespalten, von den außerparlamentarischen einmal abgesehen, aber auch diese müssen im Parlament kooperieren.

Neben dem Eindruck, dass viele Bürger nach den Erfahrungen unter Allende und der Gewalt der Militärdiktatur hart geführte politische Auseinandersetzungen und lautstarke Streits um den richtigen politischen Weg nicht mehr goutieren, sich nach Ruhe und Stabilität sehnen, scheinen sich eben jene politischen Eliten mit der Demokratie auch deswegen arrangiert zu haben, weil sie sich ihrer kulturellen Vorherrschaft weiterhin sicher sein können. Die Regierungen mögen seit über drei Legislaturperioden eher links orientiert sein, die Medienlandschaft folgt dem aber keineswegs. Es gibt kaum eine Zeitung von wirklichem Gewicht, die nicht einem konservativen Tenor entspräche; und es gibt auch keinen Fernsehsender, der nicht eher mittig-rechts auf dem politischen Spektrum einzuordnen wäre. Die öffentliche Meinung ist geprägt von einer erdrückenden konservativen Dominanz.

Und somit wird die neue Präsidentin zu einem Ausdruck auch der steigenden Belastbarkeit des beschriebenen Kompromisses. Vor zehn Jahren wäre es sicherlich unmöglich gewesen, die Tochter eines nach dem Putsch ermordeten Luftwaffengenerals als Verteidigungsministerin (ab 2002 fungierte sie als oberste Chefin der Armee), geschweige denn als Präsidentin, zu vereidigen.

Nun allerdings fürchten sich die Bewohner der reichen Ostviertel Santiagos nicht mehr vor Enteignung und Machtverlust. Ihre Erfahrungen mit dem Sozialisten Lagos haben ihnen die Ängste weitestgehend genommen.


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Die neue Präsidentin repräsentiert im von noch weitgehend von traditionellen Moralvorstellungen dominierten Chile zwar als Person einen grundlegenden Wandel: Sie löste als Frau einen alten Mann im Präsidentenpalast ab; sie tauschte nahezu die komplette Ministerriege aus; sie regiert mit einem - ein zentrales Wahlversprechen - paritätisch besetztem Kabinett. Auch hat ihre neue Regierung rasch nach dem Wahlsieg eine ganze Reihe von Maßnahmen angekündigt, hauptsächlich im Bereich der Versorgung der Rentner und der Bedürftigsten. Diese weisen aber über weite Strecken eher einen - zweifelsohne sehr wichtigen - symbolischen Charakter auf. Die Grundfesten der chilenischen Politik werden auch weiterhin nicht angetastet. Es ist eben die Kontinuität, die hier prämiert wird.

Text: Felix Butzlaff / Iris Meyer
Fotos: Oliver Krüger