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Grenzfall: Kunstwerke oder sakrale Kitschobjekte: Jesuskinder in Spanien und Lateinamerika
Es gab sie immer schon, seit den ersten weihnachtlichen Krippenszenen, die von Künstlern in römischen Katakomben oder frühchristlichen Mosaiken geschaffen wurden: kleine Jesuskinder zwischen Maria und Josef. In der Bildhauerei, die sich der christlichen Ikonographie widmete, standen sie lange im Schatten der großen Skulpturen. Auch während der Romanik und Gotik tauchten Jesuskinder fast nur als Krippenfiguren in Weihnachtsszenerien und kaum als Einzelskulpturen auf. Dies sollte sich in der Renaissance ändern, als man zunächst in Italien, dann in Flandern und Spanien begann, das Christkind als isolierte Figur in den Mittelpunkt der Verehrung zu stellen.
In alle Regionen des spanischen Weltreichs exportiert bzw. dort als dominierendes Vorbild kopiert, entstand in Sevilla am Übergang zwischen Spätrenaissance und Frühbarock ein besonderer Typus des isoliert stehenden Jesuskindes, das den gläubigen Betrachtern in der Pose eines erwachsenen Herrschers gegenüber steht. Die genialen Sevillaner Bildhauer Jerónimo Hernández (Renaissance) und Juan Martínez Montañés, Juan de Mesa sowie Pedro Roldán (Barock) schufen nicht nur berühmte und kunsthistorisch einflussreiche Christusskulpturen und Marienstatuen, die heute in den Kirchen und Museen von Sevilla bis Lima und von Madrid bis Manila zu finden sind, sondern auch Jesuskinder. Letztere wurden von der Kunstkritik lange kaum beachtet und es eilte ihnen der Ruf von religiösem "Kindchenschema-Kitsch" voraus oft unter dem Eindruck späterer Massenproduktion, die mit Kunst wirklich nichts mehr zu tun hatte.
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Frühbarockes Jesuskind
Quelle: Foto von Arenas aus dem Buch von
José Hernández Díaz: "Martínez Montañés",
publiziert in der Reihe "Arte Hispalense",
Band Nr. 10, Sevilla 1992, 3.Auflage
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Aber Martínez Montañés, Juan de Mesa und Jerónimo Hernández gelang ein künstlerischer Spagat, der schwer zu erreichen war und von dem spätere Nachahmer weit entfernt blieben. Zum einen stellten sie realistisch das Kindliche dar, zum anderen verliehen sie dem Gotteskind ein majestätisches Charisma, eine Aura des Sakralen, die durchscheinen ließ, dass hier kein gewöhnliches Kind wegen seiner Niedlichkeit, sondern der künftige Erlöser dargestellt werden sollte. Der Prototyp dieses Jesuskinds in Herrscherpose ist die 1607 von Martínez Montañés aus Zedernholz geschnitzte Statue, die bis heute in der an die Sevillaner Kathedrale angebaute Sagrario-Kirche steht. Diese Figur des Göttlichen Kindes empfängt den Betrachter, als ob es ihn umarmen wolle und trotz der kindlichen Züge spiegelt sich in seinem Gesicht ein hoheitsvoller Ernst, der schon seine Berufung zur Rettung der Welt und die Passion des Erlösers andeuten soll. Nur das gelockte Haar mit der feschen Stirnlocke ein Markenzeichen der Skulpturen von Martínez Montañés mag ein Zugeständnis an das Kindchenschema sein.
Egal, ob sie nun dem persönlichen Geschmack des Betrachters entsprechen oder nicht: die Jesuskinder von Martínez Montañés oder Jerónimo Hernández sind bedeutende Kunstwerke mit theologischer Aussage selbst wenn ihre Wirkung durch die spanische Obsession, allen nackten Statuen aufwändig bestickte, aber oft kitschige Kleider anzuziehen, beeinträchtigt wird.
Spätbarockes Jesuskind
im Museum der Schönen Künste in Sevilla
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Schon in der Epoche jener Künstler entwickelte sich das "Niño Jesús" zum Verkaufsschlager. Es ist überliefert, dass bereits das Werk von Martínez Montañés so populär wurde, dass der Meister einen Bleiabguss anfertigte, um Kopien davon herstellen zu können. Im Spätbarock und Rokoko wurde das Jesuskind dann schnell vom Kunstobjekt zum Kaufobjekt für die Massen. Während die genannten Barockmeister der Sevillaner Bildhauerschule sich bei ihrer Darstellung des göttlichen Kindes noch von künstlerischen Ambitionen und theologischen Gedanken leiten ließen, verkam die Herstellung von Jesuskindern - auch aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur anspruchslosen Serienproduktion. Diese Schöpfungen wollten keine theologischen Aussagen mehr vermitteln und von einer Aura des Sakralen entfernten sie sich immer mehr. Sie sollten hauptsächlich die Kassen ihrer "Schöpfer" klingeln lassen und orientierten sich daher gnadenlos am Massengeschmack; und der verlangte Kindchenschema: niedlich musste es sein, das Jesuskindlein! Ein gutes Beispiel für diese bewusst inszenierte Niedlichkeit, die natürlich immer wieder die Grenzen zum Kitsch locker überspringen konnte, ist das mit neckischem Röckchen und Krönchen geschmückte und auf allen Vieren krabbelnde "Niño Jesús" im Museum der Kathedrale von Lima, das in der Epoche des Rokoko entstand (18. Jahrhundert). Dieses schnuckelige Krabbelbaby hat außer der Krone nichts Sakrales mehr in seiner Optik aufzuweisen.
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Rokoko Jesuskind
im Museum der Kathedrale in Lima
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War es vorher der Künstler, der Maßstäbe setzte und seine Vision vom kindlichen Gottessohn zu vermitteln suchte, so war es jetzt umgekehrt: die Käufer diktierten, wie Jesuskinder auszusehen hatten und dem Profit des massenhaften Absatzes beugte sich der individuelle Ausdruck des Bildhauers, bis die Objekte immer geklonter aussahen. Die Jesuskind-Produktion wurde zunehmend dekadenter und degradierte die kleinen Statuetten aus Serienanfertigung oft zu Kitschobjekten, die besonders in der Biedermeier-Ära des 19. und im Neobarock des 20. Jahrhunderts komplett kunstfrei daherkommen. Einige waren als andachtsfördernde Kommunionsgeschenke oder als Dekoration für die Zimmeraltäre alleinstehender alter Damen entworfen worden. Diese verhätschelten die Jesuspüppchen als Ersatz für fehlende Enkel. Ein paar der "abschreckendsten" Beispiele aus dem 20. Jahrhundert sollen hier präsentiert werden. Das Niño Jesús war nun nicht mehr nur in Kirchen als Objekt religiöser Verehrung zu finden, sondern hielt seinen Einzug als Spielzeug in Kinderzimmern und wurde integriert als dubioses Schmuckelement in Schaufenster-Dekorationen oder in neobarocker Popkunst.
Jesuskind
in einem Schaufenster in Sevilla
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Hand in Hand mit der Dekadenz des künstlerischen Ausdrucks war auch ein Niedergang der Materialwahl zu beobachten. Hatten Martínez Montañés und seine Zeitgenossen noch in steinhartes Zedernholz gemeißelt, das die Jahrhunderte überdauern sollte, wurde später wertloseres und weniger haltbares Rohmaterial wie Gips, Ton, Wachs oder Plastik verwendet. Und noch eines haben die Jesuskinder des 20. Jahrhunderts gemeinsam: sie wurden immer farbenprächtiger.
Besonders wenn man aus einem protestantischen Land des nüchternen Nordens kommt, hat Lateinamerika im Reich der Jesuskinder ein paar besonders bunte Überraschungen zu bieten. Wenn man z.B. in der kolumbianischen Hauptstadt Santa Fe de Bogotá die Kirche San Diego betritt, wird man schon direkt hinter der Eingangstür empfangen von einer farbenfrohen Vision, die beim Besucher eine eher unfromme Fassungslosigkeit auslöst. Da wird man begrüßt von einem Christkind im quietschrosa Gewand, das mit leicht debilem Gesichtsausdruck auf einer Wolke schwebt. Nicht so recht dazu passen will die Siegerpose mit hoch erhobenen Armen und die mit Goldschrift in den Sockel eingravierte Verkündung "Yo Reinaré" (Ich werde herrschen!). Man ist hin und her gerissen zwischen ungläubigem Staunen und mühsam unterdrücktem Lachreiz. Wer nun glaubt, hier schon den Gipfel des Kitsches erklommen zu haben, kann einige hundert Kilometer weiter südlich eines Besseren belehrt werden.
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Jesuskind in Siegerpose
in der Kirche San Diego in Bogotá
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Denn im unüberschaubaren Reich der Jesuskinder sind immer Steigerungen möglich, um das Publikum in ungeahnte Verzückung zu versetzen. In der ansonsten grandiosen barocken Klosterkirche La Merced in Cuzco wartet ein Niño Jesús, bei dessen Anblick selbst der Frömmste kaum noch ernst bleiben kann. Illuminiert von einem Kranz aus Neonlicht (!) liegt es da mit hellblauem Strampelhöschen und Schnuller, sein pausbackiges Gesicht schenkt dem Betrachter ein saftiges Baby-Lächeln. Auch die glitzernde Krone kann nicht darüber hinweg täuschen, dass dieser Wonneproppen in einer Puppenstube besser aufgehoben wäre als in einer Kirche.
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Jesuskind mit Strampler
im Kloster La Merced/Cuzco
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Doch weshalb sollte man über den Niedergang der Kunst am Beispiel des Jesuskinds lamentieren? Letztlich zeigt sich hier auch so exemplarisch wie in kaum einem anderem Bereich die demokratische Popularisierung der Kunst. Das Volk hat entschieden, wie es seine Jesuskinder haben will und der Verlust des künstlerischen Werts wird durch den enorm gesteigerten Unterhaltungswert ausgeglichen. Deshalb wollen wir auch keine Zweifel aufkommen lassen: egal, ob kleines Kunstwerk oder kitschig - wir lieben Jesuskinder!
Madonna mit Jesuskind
in der Kapelle der Stierkampfarena in Sevilla
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Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg
Literaturempfehlung:
Zur Lektüre über Jesuskinder, die noch Kunst waren:
José Hernández Díaz: "Martínez Montañés", publiziert in der Reihe "Arte Hispalense", Band Nr. 10, Sevilla 1992, 3.Auflage, publiziert von Excma. Diputación Provincial de Sevilla