ed 04/2015 : caiman.de

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[art_4] Brasilien: Richtige Indianer?

Nach fünf Jahren Studium der Ethnologie bin ich endlich bei den Indianern angekommen, als Praktikant einer bahianischen Hilfsorganisation und als Feldforschungsamateur in Magisterangelegenheiten. Nur gut, dass es so lange gedauert hat – bei jedem früheren Besuch wären die Xucuru-Kariri in Alagoas sicherlich noch nicht zivilisiert genug gewesen, mir einen Computer im Dorf bieten zu können, an dem ich diesen Text schreibe und per Internet verschicke.


Letztens war ich wieder mal am Staubecken, mit meinen jugendlichen Betreuern Mano und Rafael, unten, im Wald, wo man so schön die Aras über sich kreisen sieht, wenn man auf dem Rücken schwimmt, zwischen den Luftwurzeln. Es war allerdings etwas später als gewohnt, und als wir uns auf den Rückweg ins Dorf machten, dunkelte es bereits. Oma Salete, die große Matriarchin der Familie, schickte mich sofort in mütterlicher Besorgnis meine nassen Klamotten wechseln. Später hörte ich dann ihre Tochter Eliete meinen Freund Mano darauf hinweisen, dass Oma den Nico nicht mehr so spät im Wald haben will. Ich frage, ist das denn gefährlich, sie antwortet, Oma denkt schon. Ich war natürlich ein bisschen eingeschüchtert, ungewollt mütterliches Gesetz übertreten zu haben, aber im Grunde habe ich mich gefreut, denn augenblicklich sprang mir ein ganzes Heer aufregender Ethnologica in den Kopf, Sachen, die ich irgendwo mal über irgendwelche Indianer gehört hatte: Das Dorf als zivilisierte Zone, die den Menschen gehört, im Gegensatz zur gefährlichen Ungezähmtheit der Natur, die im Dschungel mit Geistern und Dämonen ihr Unwesen treibt... Und nur der entsprechend Vorbereitete darf sich zu gewissen Zeiten im Wald bewegen, man muss mit diesen Dingen umzugehen wissen.

Dass der Indianer die Natur als seine Mutter liebt und verehrt, ist ja bestenfalls die halbe Wahrheit und zu guten Teilen Rousseau und seiner Idee vom edlen Wilden zu verdanken – so suhle ich mich in meinem Fachwissen – und der Indianer ist nicht automatisch Umweltschützer.

Nein, ich weiß von Gruppen, die ihr Leben als regelrechten Krieg gegen die kulturvernichtenden Kräfte der Natur betrachten, auch wenn mir jetzt beileibe nicht ihre Namen einfallen. So dachte ich und erfreute mich meiner Sachkenntnis und des Geheimnisses, das mit einem Mal scheinbar in der Luft lag. Denn im Grunde rettet auch eine jahrelange wissenschaftliche Ausbildung nicht vor romantischem Exotismus, jedenfalls nicht mich.

Ein paar Tage später befanden wir uns auf Außenmission in einem Dorf auf der anderen Seite des Waldes. Das Unterfangen dauerte etwas länger als geplant, man zeigte uns viele Sachen, hier unser heiliger Ort, wo wir unsere Feste feiern, hier der verzauberte Stein, wo einst eine alte Indianerin spurlos verschwand. Dann wurde noch ein bisschen getanzt, und es dunkelte bereits, als wir uns auf den Heimweg machten, durch den Dschungel. Ich war so begierig, meine These von den übernatürlichen Gefahren zu überprüfen und so darauf fixiert, das Verhalten der anderen zu beobachten, dass ich selbst vergaß, den stockfinsteren, laut pfeifenden, schlammigen Wald - den ich barfuß durchqueren musste, weil meine blöden Strandlatschen ständig abflutschten - unheimlich zu finden. Und welche Enttäuschung. Meine Freunde hatten ganz offensichtlich keine Angst. Es wurden keine besonderen Vorkehrungen getroffen, um etwaige Gespenster in die Flucht zu schlagen, im Gegenteil, es wurde sorglos gewitzelt wie sonst auch, es wurde ein bisschen gesungen wie sonst auch, und einmal stellte ich meine alberne Stirnlampe auf Blinkmodus, sagte "Indianerdisco", und alle lachten und zappelten kurz ekstatisch.

Zweimal fürchtete ich mich ein bisschen: Einmal blockierten zwei Kühe den Weg, ihre Augen leuchteten irr im Schein meiner Hightechlampe, und sie wollten nicht so recht beiseite gehen. Ein anderes Mal überquerten wir die Staumauer, schon fast am Dorf, rechts der Abgrund mit dem Wasserfall, links das pechschwarze, bodenlose Wasser, und Mano musste auch noch auf dem schmalen Grat anhalten und irgendwas in meiner Tasche wühlen. Aber Gott, Angst vor Kühen und Angst vorm Stolpern, was für langweilige, normale, unspirituelle Furcht das war...

Wir schlugen uns in die Büsche, steil bergauf, glitscheglatt, zappenduster, um den letzten Rest des Weges zum Dorf abzukürzen. Unter uns krachte es im Wald, Holzfäller, die im Schutz der Dunkelheit Brennholz schlugen und die Umwelt kaputt machten. Mano blieb stehen und rief den Berg hinunter: "Wirf doch noch einen um!" Ich wunderte mich, dass er die Umweltsünder nicht mit mehr Nachdruck beschimpfte, aber dachte nicht weiter darüber nach.

Wieder ein paar Tage später, Mano, Rafael und ich teilten uns ein Zimmer in einem halbfertigen, leer stehenden Haus im Dorf. Männergespräch vorm Einschlafen. Die Jungs fragten mich, ob ich nicht den Typen bemerkt hätte, der uns vom verzauberten Stein im anderen Dorf den ganzen Weg durch den Dschungel gefolgt war. Den Typen, der zwischendurch nach meiner Tasche gegriffen hatte - deswegen war Mano auf der Staumauer stehen geblieben, er wollte nachsehen, ob die Kamera in der Tasche in Ordnung war. Den Typen, der dann nachher Bäume umschmiss, um uns zu erschrecken. Den Zombi eben.
Mayra hatte Angst.
Jujuba hatte Angst.
Rafael hatte keine Angst, denn er hat jahrelang mit Geistern und gegen Geister gearbeitet, und er weiß, sich zu verteidigen.
Mano hatte keine Angst, weil er sicher war, dass sein Ritual, der Ouricuri, ihn schützte.
Ich hatte keine Angst, weil ich dachte, es wären ein paar blöde Holzfäller.

Und klar, das denke ich auch immer noch. Sicher. Nur... was sind das für blöde Holzfäller, die im Dunkeln in den Wald gehen, um Feuerholz zu suchen? Wo doch hier kaum jemand eine Taschenlampe besitzt? Wo man doch auch am helllichten Tag im Wald unbehelligt machen kann, was man will? Wenn es dunkel ist und der Wind in den Bananenpalmen knattert, beunruhigt mich das ein wenig, das kann man nicht wegdiskutieren.

Ich bin jetzt seit fast einem Monat hier, und erst diese Geschichte hat mir vor Augen geführt, wie sehr ich in der Fremde bin.

Die Indianer im Nordosten Brasiliens, das wird immer wieder von ihnen selbst betont, standen in vorderster Linie, als die Portugiesen hier eintrafen, und sie sehen sich seit fünfhundert Jahren konstanter Zivilisierung ausgesetzt. Fast alle Gruppen haben ihre Sprachen verloren, alle sind Christen, wenn auch auf eine sehr eigene Art. Es gibt einige sehr augenfällige Eigenarten, die die Leute hier als Indianer kennzeichnen und die auch von ihnen genau zu diesem Zwecke, der Betonung der indianischen Identität, gegenüber der Außenwelt eingesetzt werden: Die Pfeife und der dazugehörige Tabak; der Toré, ein Kreistanz mit Gesang und Rasseln; der Ouricuri, ein Ritual, das fern vom Weißen in einem zweiten, kleinen, nur für diesen Zweck errichteten Dorf im Regenwald stattfindet.

Sieht man von diesen Dingen ab, ist es für den Außenstehenden sehr schwierig, die Unterschiede zu erkennen zwischen denen, die diesseits und jenseits des Schildes der FUNAI und des Stacheldrahtes leben, der die Grenze zwischen Indianern und "Weißen" markiert: Die Gesichter sind dieselben, die Häuser sind dieselben, und die Armut ist auch dieselbe. Und der Außenstehende bin in diesem Fall nicht nur ich, sondern auch der Rest der brasilianischen Gesellschaft, die fragt, ob das überhaupt richtige Indianer seien, die nur portugiesisch sprechen und genauso aussehen wie alle anderen Bewohner des Hinterlandes. Die Unterschiede erschließen sich nicht auf den ersten Blick, und sie lassen sich schon gar nicht genetisch erklären. Selbst historisch dürften die nicht-indianischen Nachbarn der Indianer, die Caboclos, ähnliche Dinge hinter sich haben wie die Indigenen.

Dass diese Situation konfliktträchtig und schwierig ist, leuchtet ein. Auch ich bin mir noch nicht ganz sicher, welche Meinung ich dazu habe. Aber je mehr Zeit ich hier verbringe, desto indianischer kommen mir meine Indianer vor, nicht zuletzt dank des Zombi – obwohl der, zumindest dem Namen nach, wohl eher afrikanische Wurzeln hat. Man sagte mir jedoch hier, es handele sich um ein indianisches Wort.

Und dass es Zombies auch im Fernsehen und auf Haiti gibt und der Begriff eben eher afrikanischen Ursprungs ist, ist hier scheinbar niemandem bewusst. Was der Zombi allerdings tut, lässt ihn wie einen Verwandten des Curupira aussehen, eines Waldgeistes der Tupi-Indianer, der gerne Bäume umwirft und Wandernde vom Weg abbringt.

Wenn man wollte, könnte man vielleicht auch die Herkunft des Gebrauchs der Pfeife zu den entflohenen schwarzen Sklaven zurückverfolgen, die sich im Hinterland mit den Indigenen vermischten, und den Indianern dann unter die Nase reiben, dass sie sich in der Wahl ihrer kulturellen Symbolik vergriffen haben.

Es ist allerdings mehr als arrogant, ihnen die Entscheidung darüber abnehmen zu wollen, wie man Indianer zu sein hat. Entsprechend der brasilianischen Gesetzgebung ist derjenige Indianer, der sich als solcher bezeichnet und von einer indianischen Gemeinschaft als solcher akzeptiert wird. Das scheint mir eine vernünftige Einstellung, die im übrigen jenseits des Gesetzbuches und in der Praxis bedauernswert wenig weit verbreitet ist. Über diese Maßgabe hinaus zu bestimmen, ob Indianer von heute mit Pfeil und Bogen schießen müssen, um sich für die Indianerschaft zu qualifizieren, ist - wenn überhaupt irgendjemandes – die Aufgabe der Indianer selbst.

Text: Nico Czaja
Fotos: Nico Czaja + Tanawy "Mano" Tenório

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