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[art_2] Spanien: Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla
Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2008

Sevilla, Palmsonntag, 16. März 2008 um 19.00 Uhr abends
Wir befinden uns an den römischen Säulen der Alameda de Hércules, dem vereinbarten Treffpunkt am ersten Abend der Semana Santa. Unsere Gruppe von eingeschworenen Semana Santa Fans ist inzwischen ein seit mehr als drei Jahren eingespieltes Team und besteht aus: meiner Sevillaner Freundin Carmen und ihrem Mann Manolo, Teresa und Regina, ebenfalls Sevillanerinnen, der Französin Antoinette, die seit Jahren in Sevilla lebt, der 17-jährigen Cayetana aus Cádiz sowie zwei Pilgern aus Madrid (Isidoro und Marina) und mir.

Während wir in der Straße Conde de Torrejón auf die Prozession der weiß gekleideten Nazarenos der Bruderschaft Amargura warten, werden wie jedes Jahr die verschiedenen Wetterprognosen diskutiert.
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Für den heutigen Sonntag wurde die Regenwahrscheinlichkeit mit beruhigenden 0% angegeben und auch für den Rest der Woche sieht es gut aus. "Nur um den Dienstag müssen wir uns vielleicht Sorgen machen", meint Carmen, "denn die Prognose verheißt 50 zu 50."

Heute ist das Wetter ideal, die Temperaturen liegen sogar leicht über 20° C und eine leichte Brise begleitet die Dämmerung. Als die unheimlichen Büßer der Amargura mit dem Malteserkreuz auf weißem Gewand heran schreiten, ist es bereits völlig dunkel. Ein kleines Mädchen blickt neugierig an den vermummten Kapuzenmännern empor und plötzlich zupft es einen der Nazarenos am Gewand. "Du, Nazareno, gib mir Bonbons!" Der Angesprochene reagiert nicht. Die Amargura ist eine ernste Bruderschaft, daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Bonbons für Kinder dabei hat, hier nicht so hoch wie bei den populären Prozessionen. Doch die Kleine gibt nicht auf. "Hast Du keine Bonbons, dann bist Du ein böser Nazareno!" Und sie zerrt und reißt am weißen Gewand des Nazarenos, der dies mit stoischer Ruhe erträgt - wie ihre Eltern, die sich nicht die geringste Mühe machen, dem ungezogenen Treiben ihrer Tochter Einhalt zu gebieten. Da greift der geplagte Nazareno in seine Tasche und überreicht dem verdutzten Kind - nein, keine profane Süßigkeit, sondern ein Bildchen der Amargura-Madonna. Einen Moment ist die Kleine überrascht und unentschlossen, doch dann strahlt sie und zeigt ihre Eroberung den Eltern, die ihre Hartnäckigkeit loben.

Kurz vor 2.00 Uhr nachts auf der Brücke nach Triana. Trotz der inzwischen lästigen Kälte ist die alte Brücke völlig überfüllt, denn mehr als tausend Zuschauer wollen hier die populäre Jungfrau des Sterns sehen, neben der Amargura die andere Protagonistin dieses Tages. Romantische Bilder wohin man blickt: Liebespaare knutschen im Licht des Vollmonds, gelehnt an das Geländer der Brücke und mit Blick auf die Giralda. Auch Isidoro und Marina liegen sich in den Armen während die blauweißen Nazarenos von La Estrella vorbei ziehen.

Plötzlich blickt sie zum Himmel und bemerkt: "Der Mond ist noch gar nicht richtig voll, aber das wird schon noch bis Karfreitag..."
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Jetzt bekommt das Mondlicht Konkurrenz, denn wie eine riesige Fackel nähert sich der Paso mit der Kerzenpyramide der Estrella-Madonna. Als der blaugolden glitzernde Paso zum Stehen kommt, versuchen alle, den leuchtenden Baldachin zusammen mit dem fast runden und strahlenden Mond zu fotografieren - ein doppeltes Himmelslicht.

Heiliger Montag, 17. März 2008
"Na ja, sehr umweltbewusst scheint unsere Semana Santa ja nicht zu sein... vielleicht solltet ihr uns ein paar Berater aus Deutschland schicken", kommentiert Manolo, von seiner Zeitungslektüre aufblickend die Meldung, dass am gestrigen Palmsonntag nach den Prozessionen mehr als 93 Tonnen Müll in Sevilla gesammelt wurden - 40% mehr als im Vorjahr. Aber diese Nachricht soll unsere Festtagslaune nicht trüben. Wir beginnen den Tag genau da, wo wir ihn gestern beendet haben. Unter ein paar Orangenbäumen stehen wir seit 16.00 Uhr neben dem Portal der Estrella-Kapelle in Triana und warten auf die Pasos der langen Prozession von San Gonzalo. Dieser Platz hier ist sehr begehrt, weil die Träger von San Gonzalo, berühmt in ganz Sevilla für ihr Können, mit dem tonnenschweren Paso wahre Kunststücke zu vollführen, um nach traditionellem Ritual die Sternenmadonna zu begrüßen.

Die Kapelle hat die Pforten bereits geöffnet und der Großmeister der Estrella-Bruderschaft steht mit einer Standarte bereit, um den rituellen Gruß entgegen zu nehmen. Endlich erscheint der prachtvolle Paso von San Gonzalo mit dem beeindruckenden "Duell" zwischen Christus und dem hässlichen Hohepriester Kaiphas.
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Das Warten hat sich gelohnt, denn die Träger bewegen die riesige Altarbühne mit spektakulären Tanzschritten auf das Portal der Kapelle zu, tragen ihn halb hinein und wieder heraus. Schließlich geht die vordere Abteilung der hinter Samtvorhängen unsichtbaren Träger in die Knie, denn der Paso neigt sich, als ob er sich vor der in der Kapelle thronenden Madonna verbeugen wolle. Der Marsch verstummt und die Träger haben eine wohlverdiente Pause. Nach den drei üblichen Hammerschlägen ertönt das Kommando des Capataz, der die Trägermannschaft anführt: "Kommt, meine mutigen Jungs, lasst uns dafür sorgen, dass unser Christus von San Gonzalo der Jungfrau des Sterns ein Küsschen geben kann!" Schon hebt sich der Paso mit einem Ruck empor und wird nochmals halb in die Kapelle hinein getragen, bevor er in einem akrobatischen Manöver unter tosendem Applaus gewendet wird und sich Richtung Brücke entfernt. Antoinette blickt mich an, immer noch begeistert vom Spektakel, aber auch verunsichert fragt sie: "War das Kommando des Capataz kitschig oder romantisch?" "Theologisch problematisch, aber auf jeden Fall romantisch", antworte ich entschieden.

Gegen Ende eines langen Tages stehen wir um halb zwei nachts bei der Kirche San Vicente und betrachten den mit herum purzelnden Englein dekorierten Paso des "Christus der Schmerzen", bevor er in die Kirche zurück getragen wird.
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Isidoro und Marina sind zutiefst beeindruckt von der ergreifenden Christusstatue des Barockmeisters Pedro Roldán und müssen mit den Tränen kämpfen, als in diesem Moment der Klagegesang einer Saeta in den Nachthimmel geschleudert wird. Nachdem der Paso im dunklen Kirchenportal verschwunden ist, fragt mich Marina, ob die Madonna dieser Bruderschaft auch so schön sei. "Also der Palio ist sehr prächtig", meine ich, "die Jungfrau selbst - na ja - man müsste schon lügen, wenn man sie hübsch nennt, denn ihr Gesicht ist etwas ... füllig". "Was sagst Du da, wie kannst Du es wagen?!", fährt mich von der Seite ein Anhänger der Bruderschaft an, "natürlich ist sie HÜBSCH!"

Teresa zieht mich am Arm und mahnt: "Komm, wir gehen jetzt lieber... ich habe Dir doch gesagt, Du sollst mit solchen Äußerungen vorsichtiger sein - auch wenn Du noch so recht hast." Auf dem Rückweg schauen wir uns, durchfroren und übermüdet, noch die Prozession von El Museo an und seitdem ist Cayetana nicht mehr ansprechbar. Sie hat sich verliebt: in einen Klarinette spielenden, braun gebrannten Boygroup-Beau mit Irokesenfrisur, der in der Musikkapelle hinter der Madonna marschiert ist und ihr zugezwinkert hat.

Heiliger Dienstag, 18. März 2008
Nein, es regnet nicht, aber es ist richtig kalt geworden. Und für den morgigen Mittwoch haben die Wetterprognosen die Regenwahrscheinlichkeit auf ungemütliche 65 - 75% angehoben.

Es ist 18.00 und wir haben unsere Klappstühle an der strategisch günstigen Straßenecke Castelar/Gamazo aufgestellt.
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Gegenüber sitzt vor dem Büro des Fanclubs von Betis Sevilla (abstiegsbedrohter Fußballverein Sevillas) eine Gruppe von Jugendlichen und diskutiert lauthals die Schiedsrichterentscheidungen des letzten Wochenendes, obwohl schon die ersten schwarz vermummten Nazarenos der Studenten-Bruderschaft schweigend vorbei defilieren.

Als sich der Paso mit dem "Christus des Guten Todes" nähert, versuchen doch tatsächlich zwei extrem konservativ und spießig gekleidete Männer, ihre Klappstühle noch direkt vor unseren (wir sitzen natürlich in der ersten Reihe) aufzustellen. Während Teresa demonstrativ ein Stück nach vorn rutscht, spricht Regina feierlich nur ein kleines Wort ("No!"); und sie spricht es mit einer so majestätischen Unerbittlichkeit, dass die beiden Opus Dei Anhänger gar nicht erst den Versuch einer Diskussion unternehmen und ihr Glück an anderer Stelle versuchen müssen. Reginas Abwehraktion wirkte ähnlich gebieterisch wie die schweigenden Gesten des Nazarenos der Studenten, der jetzt die Doppelreihe der vorrückenden Büßer zum Innehalten mahnt. Nachdem wir die beiden kunstvollen Pasos der Estudiantes gesehen und uns an einer ergreifend vorgetragenen Saeta erfreut haben, steht als nächstes Santa Cruz auf dem Programm.

Um die Burgmauern des Alcázar weht ein eisiger Wind, der fast alle Kerzen der vorbei schreitenden Nazarenos der Bruderschaft Santa Cruz ausgeblasen hat.

Der goldene Paso vor der tausendjährigen Mauer, über deren Zinnen der Vollmond steht, bietet ein grandioses Bild. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Ich höre, wie eine Sevillanerin hinter mir kommentiert: "Die einzigen, denen die Kälte nichts ausmacht, werden die deutschen Touristen sein." Ich beschließe, sie in dem Glauben zu lassen.

Es ist kurz vor 21.00 als der goldstrahlende Paso des "Christus des Erbarmens" aus der engen Gasse Alcazaba kommend in den Platz des Triumphes einbiegt und vor der Burgmauer angehalten wird.
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Heiliger Mittwoch, 19. März 2008
Wir sitzen in Triana in einer Bar mit dem zünftigen Namen "El Toro" beim Frühstück. Isidor und Marina beginnen den Tag herzhaft mit in Olivenöl getränktem Chorizo-Baguette, während Teresa, Regina und ich lieber süß mit den traditionellen Torrijas (mit Wein und Honigsirup gebratenes Weißbrot) starten. Erschreckt blicken wir vom Studium unserer Semana Santa Programme auf, als Teresa mit Grabesstimme verkündet: "Es hat angefangen zu regnen." Zuerst weigern wir uns, das Unvermeidliche zu akzeptieren.

Doch da es in Strömen gießt und im Radio eine Prozession nach der anderen abgesagt wird, kaufen wir Regenschirme für drei Euro beim Chinesen und beschließen, uns mit dem Besuch der El Greco Ausstellung im Museum von Sevilla zu trösten.
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Als wir am Nachmittag bei strömendem Regen die traurigen Zuschauertribünen auf dem Campana-Platz durchqueren, kommentiert Regina mit dramatischem Pathos: "Es scheint so, als ob Gott uns nicht mehr liebt". "Nun übertreib nicht gleich", entgegnet Teresa, "unsere Landwirtschaft braucht den Regen - aber vielleicht will Er tatsächlich ein wenig die scheinheilige, pharisäische Kirche Spaniens bestrafen, die sich die Franco-Diktatur zurück wünscht..."

Gründonnerstag, 20. März 2008
Es regnet. Wir boykottieren alle Wettervorhersagen in Fernsehen, Radio und Zeitungen und hoffen - auf ein Wunder.

La Madrugá - die Karfreitagnacht, 21. März 2008
Das Wunder geschieht - wie jedes Jahr in der magischen Heiligen Nacht Sevillas. Ein paar Stunden vor Mitternacht hat es aufgehört zu regnen und jetzt ist der Himmel sternenklar, so dass die großen Prozessionen der Madrugá planmäßig stattfinden können. Wie immer zieht die Macarena-Prozession kurz nach Mitternacht durch ihr Stadttor, umjubelt von der Menge. Kurz hinter dem Stadttor gibt ein Nazareno, der mit seinen Handschuhen nicht zurecht kommt, einem Mann, der nach einem Madonnenbildchen für seine beiden Kinder gefragt hat, statt zwei Exemplaren ein ganzes Päckchen, da er die Plastikverpackung mit den Handschuhen nicht öffnen kann. (Jedes Päckchen enthält 40 Macarena-Bildchen).

"Das ist vielleicht etwas viel", meint der junge Vater zögernd, worauf der Nazareno ihn flüsternd bittet, das Päckchen zu öffnen, sich mit einer Anzahl seiner Wahl zu bedienen und den Rest zurück zu geben.
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Dieses Jahr sind wir mutig und begeben uns ins "Auge des Hurrikans": wir erwarten den Furcht erregenden "Jesus der großen Macht" nach 3.00 Uhr nachts an der Alcázarmauer gegenüber der Kathedrale. Das Gedränge ist weniger heftig als erwartet, doch allzu schnell zieht der Herrscher Sevillas umgeben von hundertfachem Schweigen an uns vorbei.

Die Madrugá verläuft trotz des gewaltigen Menschenauflaufs (Schätzungen gehen von 800.000 Zuschauern in der Innenstadt aus) ohne besondere Vorkommnisse und mit den üblichen Höhepunkten. Zahlreiche Saetas für den Jesus der großen Macht und den Christus der Zigeuner, ein Blütenregen geht nieder von den Balkonen und Fenstern der Calle O`Donnell auf den Baldachin der Esperanza de Triana und auf den Baldachin der Macarena in der Calle Francos (und später, schon am Morgen, in der Calle Parras). Kurz zuvor erlebt einer der Polizisten nahe der Kathedrale einen kurzen Moment des Schreckens, als sich ihm plötzlich ein Nazareno (oder Nazarena?) der Macarena-Prozession nähert, um ihm dann zu seiner großen Überraschung eine estampita, ein Macarena-Bildchen zu überreichen, das ihm den Rest der langen Nachtschicht versüßen soll.

Kurz vor Sonnenaufgang der übliche "Stau": wie immer hat die schöne Madonna der Zigeuner gegen 6.00 bei ihrem Eintritt in die Calle Aponte Verspätung, so dass die Macarena-Prozession eine halbe Stunde in der engen Calle Cuna ausharren muss, damit wiederum der Calvario-Bruderschaft  den Ausgang aus der Kathedrale blockiert, während die Esperanza de Triana davor bewegungslos wartet. Was tun die Nazarenos dieser Bruderschaften während der langen Wartezeit? Richtig: sie verteilen mit Hingabe Madonnenbildchen. In der Calle Cuna gibt ein Nazareno eine solche estampita an ein müde und traurig blickendes Kind, das sofort glücklich strahlt. Da protestiert ein direkt daneben sitzendes Mädel einen Ton zu schrill: "Und mir gibst Du nichts?" In dem Moment schleudert der Nazareno zwei Dutzend estampitas in den Schoß der überraschten Klägerin, die sich danach sogar beschwert, dass in ihrer neuen Sammlung "zweimal dieselben" vorhanden sind.

Die Jugend Sevillas sammelt diese Madonnenbildchen nämlich wie Panini-Fussballspieler...

Wie immer - so verlangen es Isidoro und Marina und so soll es sein - sehen wir die Prozession der Esperanza de Triana gegen 8.00 morgens mit dem Licht des Sonnenaufgangs vor der Baratillo-Kapelle in der Calle Adriano, wo sich schon ein unübersehbarer "Fanclub" von Jugendlichen, bewaffnet mit Klappstühlen, Kaffeebechern und Digitalkameras niedergelassen hat, um die Madonna und vorneweg den maurisch aussehenden "Christus der drei Stürze" zu erwarten.
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Cayetana gehört zu seinen glühendsten Verehrerinnen: "Dieser Christus ist sogar schöner als  Cristiano Ronaldo!" "Cayetana, jetzt reicht es aber!", unterbricht Isidoro energisch die 17-jährige, "vergiss nicht, dass Du über Deinen Erlöser sprichst, also bitte keine Vergleiche mit Fußballstars..." "Ist ja schon gut, reg Dich nicht auf", beruhigt ihn Cayetana, um gleich trotzig nachzusetzen: "Aber es stimmt doch, dass es der hübscheste Christus von ganz Sevilla ist." Natürlich besitzt sie eine ganze Sammlung von estampitas...

Als der Christus und die Madonna von Triana erscheinen, die gleichen Szenen wie immer: ekstatische Musik, Kunststücke der Träger, Olé-Rufe und Tränen des Entzückens im Publikum. Während die anderen danach übermüdet den Weg ins Bett wählen, machen Teresa, Regina und ich uns auf den weiten Weg zum Macarena-Tor, wo wir um 14.00 Uhr mittags gerade noch rechtzeitig ankommen, um dem Triumphmarsch der Göttin Sevillas durch das Tor hinein in die Kirche beizuwohnen.

Mühsam bahnen wir uns einen Weg durch das Gedränge. Der Paso der Macarena kommt kaum vorwärts, denn alle wollen ihn noch einmal bei Tageslicht sehen, bevor er für ein Jahr in seiner Kirche verschwindet.
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Karfreitag, 21. März 2008
Gegen 21.00 abends haben wir uns gegenüber dem Palast der Herzogin von Alba postiert und betrachten die diszipliniert schreitende Doppelreihe der Bruderschaft von La Mortaja. Dies ist wohl die feierlichste Prozession in Sevilla: achtzehn silberne Leuchter und edle Musik begleiten den hochbarocken Paso und das umstehende Publikum wird von einer solchen Weihrauchwolke eingenebelt, dass einige sich leicht benommen fühlen oder im ungünstigeren Fall einem Ohnmachtsanfall nahe sind. Als sich der Nebel lichtet, kann man endlich die Szene der Piedad betrachten. Fast direkt hinter diesem einzigartigen, Ehrfurcht gebietenden Paso - wir trauen unseren Augen und Ohren kaum - erscheint wie ein zweiter Paso die Müllabfuhr!

Es ist schon ein Skandal, wie pietätlos und mit laut aufheulendem Motor dieser Müllwagen der Stadtverwaltung der Piedad von La Mortaja auf die Pelle rückt.
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Das Motorengeräusch übertönt jetzt sogar die Musik der Prozession. Ich muss mich so aufregen, dass ich beginne, die Müllmänner zu beschimpfen und damit drohe, sie einzeln zu fotografieren und die Fotos morgen in der Zeitung drucken zu lassen. Marina fasst mich am Arm und versucht mich zu beruhigen. "Du bist übermüdet. Fotografier doch lieber den Mond - der ist nämlich jetzt ganz voll."  Und sie zeigt mir eine Szene von in der Tat beruhigender Schönheit: der glänzendste und rundeste Vollmond, den man sich vorstellen kann, steht genau in der Glockenwand des Franziskaner-Klosters Los Terceros.

Karsamstag, 22. März 2008
Wir sind kurz nach 21.00 am Brunnen vor dem Kloster Santa Isabel verabredet, um dort den feierlichen Schluss der Prozession von Los Servitas zu sehen. Als wir ankommen, ist der Platz noch verdächtig leer. Fröstelnd gehen wir in unseren Wintermänteln auf und ab, als es plötzlich zu regnen beginnt! Ganz zaghaft zuerst, doch dann immer heftiger.

Die wartenden Zuschauer spannen Regenschirme auf und schalten Radios ein, um zu erfahren, wo sich die Prozession befindet und ob sie überhaupt noch hier ankommt oder sich mit den kostbaren Paso in eine andere Kirche geflüchtet hat. Als wir selbst schon vor dem Regen Zuflucht in der Bar "Como en tu Casa" gesucht haben, verbreitet der Radiosender Cadena Ser die überraschende Meldung, dass Los Servitas trotz des wolkenbruchartigen Regens tapfer und im "Laufschritt" (so gut das halt bei einem zwei Tonnen wiegenden Paso geht) Kurs auf ihre Heimatkirche nimmt.
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Und tatsächlich eilen die ersten Nazarenos völlig durchnässt herbei, und ebenso eilig werden die Pforten der Kapelle aufgeschlossen. Zuschauer mit Regenschirmen, Nazarenos und Offizielle der Bruderschaft laufen im Regen durcheinander. Für einen kurzen Moment ergibt sich ein schöner Kontrast zwischen den pechschwarz maskierten Nazerenos und einem knallroten Regenschirm, der von jungen Zuschauern gegenüber empor gehalten wird. Der Paso bietet ein trauriges Bild: Rosen und Nelken sind durchnässt vom Regenguss, die Kerzen gelöscht, das Wasser rinnt herab, Christus und die Jungfrau notdürftig mit Plastikfolie geschützt. Unter dem Applaus des Publikums, das die Regenschirme fallen lässt, um klatschen zu können, wird die Altarbühne mit einer rasanten Kurve in aller Eile in die Kirche getragen. Auf dem Weg nach Hause meint Carmen, das beste wäre, wenn die Bruderschaft an jeder Ecke des Paso einen riesigen Fön zum Trocknen aufstellen würde.

Ostersonntag, 23. März 2008
Nachdem wir es uns oft vergeblich vorgenommen hatten, sind wir dieses Jahr früh genug aufgestanden, um gegen 7.00 Uhr morgens die Prozession der Bruderschaft "Resurrección" durch die Carrera Oficial bis zur Kathedrale zu begleiten.

Und das hat sich mehr als gelohnt. Es war als ob der Himmel, der noch gestern nacht alle vier Prozessionen mit unbarmherzigen Regengüssen verabschiedete, sich nun mit Sevilla versöhnen wollte. Denn selten gab es einen strahlenderen Sonnenaufgang an einem Ostermorgen in Sevilla.
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Die weißen Tunikas der Nazarenos reflektieren das Sonnenlicht, so als hätte es nie geregnet in dieser Woche. Da die Zuschauertribünen nicht mehr abgesperrt sind, können wir der Prozession mit bester Sicht bis zur Kathedrale folgen. Da es die letzte und einzige am Ostersonntag ist, gibt es keine Konkurrenz mehr und alle Frühaufsteher schenken La Resurrección ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Der vielleicht jüngste (und wovon Cayetana natürlich überzeugt ist auch der hübscheste) Capataz von Sevilla dirigiert den Paso mit der "Jungfrau der Morgenröte" (La Aurora) souverän, bis ihr roter Mantel im Innern des riesigen Gotteshauses verschwindet. Vor lauter Begeisterung über die unerwartet schöne Atmosphäre bei dieser Prozession, die wir zum ersten Mal gesehen haben, ist etwas Fundamentales vergessen worden. Wir haben gar nicht nach Madonnenbildchen gefragt! Denn die von La Aurora fehlen noch in unserer Sammlung. Ein Grund mehr, diese letzte Bruderschaft der Semana Santa auch nächstes Jahr anzusehen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Links:
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Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla - Die Geheimnisse der Madrugá]
[Heilige Nacht mit Guaraná - Nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa (2007)]

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