spanien: Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik
Der "Heilige Montag" der Karwoche in Sevilla
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
brasilien: Viel Rauch um Nichts
8. UN- Artenschutzkonferenz
THOMAS MILZ
[art. 2]
guatemala: Gemeinsam sind wir stark
Kaffeekooperative Union Huista
KARTHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
brasilien: Im Tal der Morgendämmerung
NICO CZAJA
[art. 4]
hopfiges: Bucanero vs. Cristal
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: Tango entmystifiziert
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
grenzfall: Kakerlake impulsiv - #1 #2 #3 #4
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Jazzgebete vs. Tangokönig
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik
Der "Heilige Montag" der Karwoche in Sevilla

¡Goooool! Der Ball knallt zwischen zwei zierlichen Orangenbäumen, die das provisorische Tor bilden, gegen eine weiße Wand, gefolgt vom mehrstimmigen Jubel. Danach ist der Ball leider nicht mehr einsatzfähig, denn es handelt sich um eine angefaulte Orange, die beim Aufprall zerspringt. Aber es liegen ja noch jede Menge Bälle in dieser abgesehen vom Kindergeschrei ruhigen Gasse des Barrio León im andalusischen Sevilla. Dieses Viertel entstand in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und war lange wie ein Dorf vor den Toren der Stadt, bis es mit Triana, der Sevillaner Altstadt auf der "falschen" Flußseite zusammen wuchs. Bis heute hat sich dieser dörfliche Charakter erhalten: kleine, zweigeschossige Häuser in engen Alleen voller Orangenbäume, die leider schon verblüht sind. Auf dem Boden hunderte von Bitterorangen, die entweder zu Bällen oder Marmelade werden.

16.00 nachmittags: Nachdem die Fußball spielende Kinderhorde noch ein Dutzend weiterer Bälle zerstört und sich die Gasse zu beiden Seiten mit merkwürdig vielen Menschen gefüllt hat, ruft der Torjäger, den alle Raúúúl nennen: "Quietos, que ya viene la Virgen" (Nun aber ruhig, die Jungfrau kommt schon). So ganz stimmt das aber nicht, denn die Jungfrau ist zwar unterwegs bis sie ankommen dauert es noch eine Weile. Trotzdem stehen warten die Zuschauer, die ein Spalier entlang der Gasse Dolores de León bilden, schon jetzt auf die längste Prozession des "Heiligen Montags" der Semana Santa in Sevilla.

Die Begeisterung der jungen Bruderschaften
Die kleinen Fußballspieler haben sich eingereiht und blicken erwartungsvoll auf das im Sonnenlicht strahlende Leitkreuz der Bruderschaft von San Gonzalo.



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Sie ist die jüngste der Laienbruderschaften in Triana, gegründet erst 1942, aber mit über 2.000 Teilnehmern an der Prozession inzwischen die größte. Hinter dem Kreuz folgen die ersten dieser im Andenken an Jesus von Nazareth "Nazarenos" genannten Demonstranten Gottes. Von Kopf bis Fuß weiß vermummt mit langen Gewändern und unheimlichen Gesichtsmasken, die nur Sehschlitze frei lassen, sehen sie aus wie Nachtgespenster, die sich in diesen sonnendurchfluteten Nachmittag verirrt haben. Doch sie bilden nur die Spitze, die erste von acht langen Prozessionszügen, die sich in den nächsten Stunden zur Kathedrale Sevillas und zurück zu ihrer Kirche bewegen werden. Langsam schreitet die Doppelreihe der Nazarenos vorbei, eine halbe Stunde wird vergehen, bis der leuchtendweiße Strom unterbrochen wird und am Ende der Gasse der erste der beiden "Pasos" (Altarplattform mit Skulpturengruppen) auftaucht. Genug Zeit für die Zuschauer, die letzten Neuigkeiten mit den Nachbarn auszutauschen, denn Touristen verirren sich fast nie hierhin an den Stadtrand.

Doch plötzlich verstummen alle profanen Gespräche, denn ein überirdisches Strahlen erscheint. Der riesige Paso des Christus von San Gonzalo füllt die Gasse in ihrer ganzen Breite aus - von Orangenbaum zu Orangenbaum.

Die reich mit Engelsköpfen und Heiligenfiguren verzierte Altarplattform wurde erst vor zwei Jahren im neobarocken Stil geschnitzt und frisch vergoldet.


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Ihr Glanz, der das Sonnenlicht reflektiert, blendet die Augen. Immer lauter dringt die Musik der Blaskapelle, die den Paso begleitet, zu uns vor. Im Takt der Musik nähert er sich schwankend und wird dann - wir haben Glück! - direkt vor uns angehalten. Sofort gibt es Bewegung unter dem Paso, Dutzende Träger, die hinter schweren Samtvorhängen verborgen sind, krabbeln hervor und greifen nach dargebotenen Wasserflaschen. Eine neue Mannschaft steht neben der Altarbühne zur Einwechslung bereit, alle in T-Shirts mit dem Wappen der Bruderschaft und dem typischen, turbanähnlichen Kopfschutz mit Nackenrolle, um das Gewicht abzufedern. Wenn man weiß, dass dieser 2 Meter breite und 6 Meter lange Paso knapp 3 Tonnen wiegt, steigt die Bewunderung für diese Helden der Semana Santa, von denen jeder mindestens einen Zentner auf den Schultern trägt, noch dazu blind, nur dem Takt der Musik und den Kommandos eines Dirigenten folgend.

Die Auswechslung der "Costaleros" genannten Träger dauert einige Minuten.

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So dass unsere Blicke in Ruhe nach oben wandern können, über die Engelsköpfe und geschwungenen Kerzenleuchter hinweg zu den Skulpturen, die uns die dramatische Szene der Verurteilung Christi durch den Hohepriester Kaiphas zeigt. Mit violettem Gewand und gefesselten Händen steht Jesus als Gefangener vor Kaiphas. Ruhig lässt er dessen Anklagen über sich ergehen und schweigt zu allem. Sein schönes Gesicht strahlt zugleich Ergebenheit in sein Schicksal und majestätischen Stolz aus, während die Figur des Kaiphas von grotesker Hässlichkeit ist. Mit hervorquellenden Glotzaugen und langem, zerfranstem Bart redet er wild gestikulierend auf Jesus ein. Fanatismus und heuchlerische Falschheit sprechen aus dieser Fratze. Ihr Schöpfer, der Sevillaner Bildhauer Luis Ortega Bru, wollte in dieser Statue eine symbolhafte Verkörperung des fanatischen Fundamentalisten erreichen.

Einen Menschentyp, den es in jeder Religion gibt, sei es nun ein jüdischer Pharisäer oder ein muslimischer oder christlicher Fanatiker.


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Seine Kopfbedeckung, die nicht zufällig wie eine Bischofsmütze aussieht, soll daran erinnern, dass sich Geschichte leider wiederholt, denn in der Katholischen Kirche werden auch heute einige hohe Ämter von Personen bekleidet, die sich durch Heuchelei oder Fanatismus eines Kaiphas auszeichnen. Und solche würden Christus, wenn er heute erscheinen würde, genauso anklagen wie vor 2000 Jahren. Einen spannenden Dialog zwischen Gut und Böse hat Ortega Bru 1975 mit diesen beiden Kontrastfiguren inszeniert. Er hat wohl selbst gespürt, hier ein Meisterwerk geschaffen zu haben, denn in den Sockel der Christusstatue ritzte er die Worte: "Mein Christus für Sevilla".

Und diese Erlösergestalt wird nun zusammen mit der ganzen Szene wieder emporgehoben. Im Takt der Trommelwirbel gleitet der Paso durch die Gasse - fast wie ein Ruderboot durch einen Kanal. Die Träger von San Gonzalo sind berühmt für ihr Können, sie gelten als die Besten in Sevilla, die Begeisterung des fachkundigen Publikums ist entsprechend und eine Welle von Applaus begleitet den Paso, bis er in die Avenida einbiegt, die zum Guadalquivir führt.

Einige hundert Nazarenos später erscheint auch die "Jungfrau des Heils" am Ende des Prozessionszugs und auch diesmal haben wir Glück.

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Auch sie entscheidet sich, direkt vor unseren Augen eine Pause einzulegen. Ganz in Weiß thront sie wie eine Frühlingsgöttin unter transparentem Baldachin. Auch diese schöne Skulptur der "Madonna" ist ein Spätwerk von Ortega Bru (1977). "Guapa!" - "Du Hübsche!", rufen ihr zwei der kleinen Fußballspieler zu, als der Paso schwankend hoch gehoben wird. Nach ein paar Minuten verschwindet auch der weiße Mantel der Jungfrau zwischen den Bäumen und die Gasse gehört bald wieder den Orangen tretenden Kindern.

17.00 am Stadttor Postigo im Stadtviertel Arenal. Hier erwarten wir die zweitgrößte Prozession des Tages, an der auch fast 2.000 Nazarenos teilnehmen. Viele von ihnen sind schon unter dem Torbogen an uns vorbei defiliert. Sie tragen weiße Gewänder und schwarze Kapuzenmasken und gehören zur Bruderschaft Santa Genoveva. Diese hat einen noch weiteren Weg zurück zu legen als San Gonzalo, denn sie kommt aus dem Stadtviertel Tiro de Línea, das bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Dorf im Süden Sevillas war und von der sich ausbreitenden Stadt geschluckt wurde.

Fast 14 Stunden sind diese Nazarenos insgesamt unterwegs. Auch sie gehören einer jungen Vereinigung an, Santa Genoveva wurde 1956 gegründet und feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Die Gründung der Bruderschaft erfolgte damals unter dem idealistischen Motto "Por un mundo mejor" - "Für eine bessere Welt". Dieser Schriftzug erscheint auch auf den Standarten, die in der Prozession mitgeführt werden. Ähnlich wie im Fall von San Gonzalo gibt es auch im Randviertel Tiro de Línea eine enorme Begeisterung für die Semana Santa. Die "Euphorie der Peripherie" könnte man dieses Phänomen nennen. Mit bescheidenen Mitteln und viel Idealismus haben die Einwohner dieses Vororts an ihrem Projekt gearbeitet. Und am Heiligen Montag ist jedes Jahr das ganze Viertel - circa 5.000 Menschen - auf den Beinen, entweder als Nazarenos in der Prozession oder unverkleidet daneben, um Ihn auf seinem Weg zu begleiten: "Jesus als Gefangener in seiner Verlassenheit" (El Cautivo).

In diesem Moment wird der vergoldete Paso vorbei getragen. Auf einem Hügel von blutroten Nelken steht Jesus mit über Kreuz gefesselten Händen.

Voll stoischer Schicksalsergebenheit hat er den Blick meditativ ins Leere gerichtet, als würde er die riesige Zuschauermenge nicht wahrnehmen. Diese Christusstatue mit traurigem Blick kontrastiert mit der fröhlichen Volksfeststimmung des Publikums am sonnigen Nachmittag. Eine beklemmende Darstellung der Einsamkeit des zum Tode verurteilten und von allen Freunden verlassenen Erlösers. Doch vier Engel - die Eckfiguren des Pasos - begleiten ihn nach Golgotha. Und ein ganzes Stadtviertel folgt ihm und fühlt sich für einen Tag nach Jerusalem versetzt.

Der Kuss des Verräters
19.00. Wir müssen jetzt laufen, um noch rechtzeitig den Ausgang der Kathedrale zu erreichen, wo im nächsten Augenblick der monumentale Paso der Bruderschaft von El Rocío (gegründet 1955) heraus getragen wird. Ein Strom von weiß gekleideten Nazarenos mit violetten Kapuzenmasken kommt uns schon entgegen und dumpfe Trommelwirbel kündigen an, dass die Altarbühne in wenigen Sekunden in der dunklen Portalöffnung erscheinen wird. Ein Gedränge setzt unter den Zuschauern ein, jeder will so weit wie möglich nach vorne. Unsere überdurchschnittliche Körpergröße ist jetzt ein willkommener Vorteil.

Alle sind gespannt auf den neobarocken Paso aus brasilianischem Mahagoniholz, der im vergangenen Jahr geschnitzt wurde und zum ersten Mal durch Sevilla getragen wird.


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Angestrengt blickt die Menge zum Portal. Zuerst sieht man die hohen, verschnörkelten Kerzenleuchter aus reinem Gold in der finsteren Türöffnung, dann erkennen wir die erste Skulptur: Christus im blendend weißen Gewand. Im nächsten Moment eine Trompetenfanfare und Jesus tritt heraus ins Tageslicht. Stück für Stück schiebt sich der Paso nach draußen, immer mehr Figuren erscheinen auf der Bühne, zum Schluss ein echter Olivenbaum von beträchtlicher Größe. Dann setzt Marschmusik ein und schwankend wird der Paso unter dem Applaus des wogenden Publikums vorwärts getragen. Er stellt die Szene des Judaskusses und Verrats im Garten von Gethsemani dar. Erst jetzt entdecken wir Judas, der mit dunklem Gewand im Schatten der Lichtgestalt Jesus steht und zum Bruderkuss ansetzt. Doch diesmal bedeutet der Kuss des abtrünnigen Verehrers nur Verrat. Sein falsches Mienenspiel mit den kalten blauen Augen steht in scharfem Kontrast zum schönen Gesicht Christi, der unbeweglich dem unausweichlichen Schicksal ins Auge sieht. Nur die vor Schmerz gekrümmten Augenbrauen verraten seine innere Erregung, die Enttäuschung über den Verräter. Hinter Christus steht sein Lieblingsjünger Johannes mit leuchtend rotem Umhang. Er streckt den Arm nach seinem geliebten Meister aus, versucht den Verrat zu verhindern, doch die Passion geht ihren Weg.



Nach kurzer Atempause für die Träger wird die schwere Bühne nach dem vom Führer des Paso gerufenen Kommando "Vámonos, hijos!" - "Kommt, meine Söhne!" mit einem Kraftakt nach oben gestemmt und das Drama des Verrats am Ölberg wandert weiter. Eine Welle der Begeisterung begleitet die Prozession von El Rocío, der Applaus übertönt die Musik. Bei manchen Zuschauern scheint das Interesse für Details dieses Spektakels - wie die Kunst, die tonnenschwere heilige Last möglichst elegant vorwärts zu bewegen - größer zu sein als die Kenntnis der dargestellten Passionsszene. Da vergleicht man lieber die Performance verschiedener Trägermannschaften - meist mit dem Ergebnis, dass die der eigenen Bruderschaft doch die beste ist.

Der Heilige Gral in Sevilla
20.00 in der Calle Gamazo. Die blaue Stunde kurz nach Sonnenuntergang. Die Nacht ist noch nicht angebrochen, aber der Himmel über Sevilla hat sich verwandelt von tiefblau zu einem mystischen blau-violett. Passend zur geheimnisvollen Szene der nächsten Prozession, die wir hier erwarten. Die ersten der 700 Nazarenos der Bruderschaft Las Aguas schreiten in einer Doppelreihe ans uns vorbei, ihr Kerzenlicht bringt das lila Samt ihrer Masken zum Glänzen. Diese Bruderschaft ist heute die erste, die deutlich vor dem 20. Jahrhundert entstand. Gegründet 1750, bezieht sich ihr Name auf Wasser und Blut Christi, das nach dem Lanzenstoß aus seinem toten Körper hervorquoll und in einem goldenen Kelch - dem Heiligen Gral - aufgefangen wurde.

Ein Trompetensolo setzt ein. Der Trompeter trifft zwar nicht jeden Ton, spielt aber dafür mit soviel andalusischer Leidenschaft und Hingabe, dass er die ganze Straße in Verzückung versetzt und einigen Zuschauern, besonders den weiblichen, ein spontanes Olé! entlockt. Ob das auch daran liegt, dass er bildschön ist wie ein dunkler Engel, kann nicht geklärt werden.

Denn wer weiß schon, auf was das Publikum bei dieser Flut von sinnlichen Eindrücken am meisten achtet?


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In den nächsten Minuten richten sich alle Blicke auf den spektakulären Paso von Las Aguas, der vor uns zum Stehen gekommen ist. In seiner Mitte erhebt sich das Kreuz mit dem toten Jesus, darunter haben sich die trauernde Mutter Maria und seine Lieblinge Magdalena und Johannes sowie ein Engel als intime Trauergemeinschaft versammelt. Es ist die erste Darstellung eines Gekreuzigten am heutigen Tag - ein Zeichen, dass es nach der fröhlichen Stimmung am Nachmittag nun langsam ernst wird. Minutenlang hält der Paso an, so dass die flüsternde Menge die ergreifende Szene mit dem Heiligen Gral betrachten kann.

Das Kerzenlicht strahlt intensiver gegen die aufziehende Dunkelheit und beleuchtet die Figurengruppe auf der sakralen Bühne. Der Engel kniet nieder und hält in der rechten Hand den goldenen Kelch, mit dem er Blut und Wasser aus der Wunde des Erlösers sammelt. Christus hängt schon leblos am Kreuz, sein Kopf ist zur Seite gesunken, das Haar fällt lang herab. Maria, Johannes und Magdalena stehen in exakt gleichen Abständen links und rechts sowie hinter dem Kreuz, sie formen ein mystisches Dreieck, in dessen Zentrum das Kreuz empor ragt: Geometrische Mystik, entworfen von der Dramaturgie der Semana Santa. Während die Schmerzensmutter den Blick in Trauer zu Boden senkt, blicken Johannes und Magdalena in stummer Verzweiflung nach oben, zu ihrem toten Geliebten. In diesem Augenblick werden alle zusammen in den Himmel gehoben und der Paso bewegt sich weiter in die Nacht hinein.

Eine halbe Stunde später erscheinen Lichtpunkte am Ende der Gasse. Wir haben wieder Glück, denn auch der Paso der Jungfrau von Guadalupe wird genau vor uns angehalten.

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Auf einem silbernen Podest geschmückt mit weißen Rosen, thront sie umrahmt von Leuchtern unter einem Baldachin aus blauem, goldbesticktem Samt. Ihr Name bezieht sich auf ihre berühmte Namensvetterin in Mexiko und jedes Jahr vertritt ein Repräsentant die Stadt Mexiko hier in der Prozession in Sevilla. Gebannt starren alle auf das Gesicht dieser Lichtgestalt unter dunklem Baldachin. Kaum zu glauben, dass der Sevillaner Bildhauer Luis Álvarez Duarte diese wunderschöne Madonna 1967 im Alter von nur 16 Jahren geschaffen hat.

Ein Rebell und sein geheimnisvoller Geniestreich
22.00 auf der Plaza de San Andrés. Eine riesige Menschenmenge erwartet die Rückkehr der Prozession von Santa Marta, der 1946 vom Gremium der Hotelbesitzer Sevillas gegründeten Bruderschaft. Obwohl sie in diesem Jubiläumsjahr erst 60 Jahre alt wird und im Vergleich zu anderen keine lange Tradition vorweisen kann, hat sie es geschafft, einen feierlichen Stil zu finden und wirkt wie eine Jahrhunderte alte Bruderschaft. Dies liegt auch daran, dass sie als einzige der im 20. Jahrhundert neu gegründeten an die Tradition der Schweigebruderschaften anknüpft und ganz auf Musik verzichtet. Trotz dieses konservativen Eindrucks übernahm Santa Marta Pionierarbeit in der Gleichberechtigung von Frauen und führte 1987 als erste Bruderschaft Sevillas ein, dass endlich auch Frauen als Nazarenas in der Prozession mitgehen dürfen.

Obwohl gleich der wichtigste Paso des Tages auftauchen wird, will keine sakrale Atmosphäre aufkommen. Doch dann - kaum hörbar zunächst - dringt die Nacht der Laut einer Totenglocke. Noch scheint niemand ihren Klang wahrzunehmen. Doch wieder sendet der Glockenturm von San Andrés das gleiche Signal. Da ertönt unten am Fuß des Platzes ein seltsames, zur Ruhe mahnendes Zischen, das wie eine Welle von unten nach oben, bis zur Kirchenmauer am Ende des Platzes gleitet, wo wir stehen. Allmählich wird das Publikum leiser und die Totenglocke dominiert die Geräuschkulisse. Plötzliche sehen wir ein glänzendes Kreuz, das wie von selbst am Rand des Platzes emporschwebt. Sekunden später erkennt man, dass es getragen wird - von einem Nazareno, der in tiefstes Schwarz gehüllt ist. Es folgen 850 ebenfalls schwarz Vermummte ohne Unterbrechung. Denn Santa Marta hat nur einen Paso ganz am Schluss der Prozession.

Feierlich schreiten die Nazarenos den Platz entlang, auf dem es jetzt ruhig geworden ist. Wie von einem unsichtbaren Seil gezogen, gleitet der goldglitzernde Paso von Santa Marta auf uns zu.

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Die Balkone über uns sind zum Bersten voll und wir sind etwas neidisch, denn von dort oben sieht man die Bühne mit dem ausgebreiteten Körper des toten Jesus am besten. Die Szene zeigt die Grablegung Christi durch Nikodemus und Josef von Arimathea, während die Mutter Maria, die heilige Martha, Johannes und die drei Marias (Magdalena, Maria Salomé und Maria Kleophas) in dumpfer Trostlosigkeit Zeugen dieses endgültig scheinenden Abschieds sind. Es ist merkwürdig: im Gegensatz zu den meisten anderen Pasos gibt es - außer bei der Jungfrau - hier keine Tränen in den Gesichtern der Statuen. Und doch wirkt ihre Trauer viel tiefer und dramatischer.

Es ist ein Geheimnis um diesen Paso von Santa Marta. Die Intensität der Darstellung ist kaum auszuhalten. Es ist, als habe hier jemand den Schmerz über den Tod seines eigenen Sohnes, den Schmerz seiner eigenen Mutter oder Geliebten ins Holz eingraviert. Luis Ortega Bru, der Schöpfer dieser Szene und bedeutendste Sevillaner Bildhauer des 20. Jahrhunderts, sagte selbst, dass er die Ausdruckskraft dieser 1953 vollendeten Skulpturengruppe niemals vorher oder nachher mehr erreicht hätte. Und nie hätte er eine so starke göttliche Inspiration gespürt wie bei diesem Werk. Ortega Bru hatte aber zu jenem Zeitpunkt auch unfreiwillige Inspiration für die Darstellung von extremer Trauer gesammelt. Geboren 1916 in einem Dorf bei Cádiz, kämpft er zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs mit nur 20 Jahren auf der Seite der Republikaner und büßt durch eine Kriegsverletzung einen Teil seines Hörvermögens ein. Seine Mutter, ebenfalls Anhängerin der Republikaner, wird 1936 von den Faschisten erschossen. Nur drei Jahre später, nach dem Ende des Bürgerkriegs, wird auch sein Vater vom Franco-Regime hingerichtet, das Vermögen der Familie konfisziert und Ortega Bru selbst zum Tode verurteilt. Ein paar Monate später wird er begnadigt zu Lagerhaft in einem Konzentrationslager bei Algeciras. Seit Ende 1944 lebt er als freier, aber vom Schicksal gezeichneter Künstler in Sevilla, wo er 1982 stirbt.

Schon als Kind hatte er Engel und Madonnen geschnitzt und noch vor dem Bürgerkrieg ein Kunststudium begonnen. Vielleicht war es sein künstlerisches Genie, das ihn rettete und seine Gefangenschaft verkürzte. Denn im KZ vollendet er eine Christusstatue, mit der er sich für einen Kunstpreis bewirbt - und gewinnt! Den Menschen Ortega Bru konnte man einsperren und demütigen, aber selbst das Franco-Regime konnte den Künstler Ortega Bru nicht ignorieren. Für diesen Paso von Santa Marta erhielt er 1954 die höchste Auszeichnung: den spanischen Nationalpreis für Bildhauerei. Mit seiner hyperrealistischen Darstellung des Erlösers, dessen toter Körper zu Grabe getragen wird, knüpft Ortega Bru an die große Tradition des Sevillaner Barocks an.

Jeder Muskel, jede Ader, jedes anatomische Detail bis hin zu den in Leichenstarre bizarr gekrümmten Händen und den starr blickenden Augen sind hier im Holz verewigt.

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Doch es ist nicht nur die geniale Christusfigur im Zentrum der Altarbühne, die das Publikum fasziniert. Es ist die ganze Komposition des Ensembles, die in ihrer Harmonie kaum zu übertreffen ist. Die sechs von dem andalusischen Künstler geschaffenen Statuen (Johannes, Nikodemus, Josef von Arimathea, Magdalena, Maria Kleophas und Maria Salomé) sehen sich so ähnlich, als ob sie alle einer verschworenen Gemeinschaft, einer geheimen Familie angehören würden. Sie haben die gleichen sinnlichen Lippen, hohe Backenknochen und den gleichen Ausdruck in den Augen. Es sind keine Tränen zu sehen, aber sie blicken tränenerfüllt. Diese Augenpaare erinnern an die typischen Gemälden von El Greco - auch in ihrer mystischen Eindringlichkeit. Doch die Blicke dieser trauernden Freunde von Jesus treffen sich nicht, jede der Figuren blickt in eine andere Richtung. Sie trauern gemeinsam und doch jeder für sich allein.

Es ist schade, dass diese wunderbare Szene viel zu schnell an uns vorbei getragen wird. Wir erfassen wie durch Schlaglichter erhellt die Geniestreiche dieser Figurengruppe: die altersgebeugte Weisheit des Josef von Arimathea, der mit halb geöffnetem Mund ein Gebet zu murmeln scheint, die jugendliche Kraft des Nikodemus, die durch seine Schwermut gelähmt scheint, der stumme Verzweiflungsschrei der Maria Salomé, die einen leeren Blick in den Himmel schickt, die verloren blickenden Augen des Johannes zwischen Resignation und rebellischem Stolz, die verweinten Augen der wunderschönen Magdalena - in der Ortega Bru seine eigene Frau verewigt hat. Sie zeigt auf das Wundmal in der leblosen Hand Christi. Dort wo sein Blut herunter tropfte, erblüht eine mystische Rose inmitten der Lilien.

Selten wurde in einem Kunstwerk soviel schwermütige Schönheit vereint wie in diesem Paso von Santa Marta, dem bedeutendsten Opus der Semana Santa im 20. Jahrhundert. Hier hat der Künstler alle Tragödien seines noch jungen Lebens verarbeitet - und demonstriert, dass er in seiner Enttäuschung über die Menschen nicht den Glauben an Gott verloren hat. Der Erfolg seiner Kunst war auch ein Akt stolzer Rebellion gegen das Regime, das seine Eltern ermordet lies.

Finstere Gestalten um Mitternacht
0.00 in einer Straße, die den kuriosen Namen "Jungfrau der guten Bücher" trägt. Einen solchen Straßennamen kann es wohl nur in Sevilla geben. Die Beleuchtung ist abgeschaltet, die enge Straße liegt im Dunkeln. Direkt vor uns ein schwarzes Kreuz mit den Worten "Toma tu Cruz y Sígueme" (Nimm Dein Kreuz und folge mir nach). Es folgen düstere Impressionen: hunderte von Büßern, ganz verhüllt mit pechschwarzen Gewändern und Kapuzen nehmen das Motto der Bruderschaft Vera Cruz wörtlich und schleppen schwere Holzkreuze auf ihren Schultern. Fast alle gehen barfuß und es herrscht absolutes Schweigen. Ein unheimliches Bild, wie diese schwarzen Gestalten im bleichen Licht des Vollmonds dahin ziehen wie zu ihrer eigenen Hinrichtung.

Die Prozession von Vera Cruz, der Bruderschaft vom Wahren Kreuz, zeichnet sich durch asketischen Stil aus und wird mit dem größten Ernst dargeboten. Mit nur 600 Nazarenos ist sie die kleinste am heutigen Tag. Schon nähert sich lautlos der kleine Paso, der sich wie die ganze Prozession an die Regel völliger Schlichtheit hält. Nur spärlich beleuchtet durch vier Altarkerzen, ohne Goldglanz, aber kunstvoll geschnitzt aus schwarzem Ebenholz.

Auf einem Hügel violetter Lilien steht das Kreuz, an dem die älteste und einzige gotische Statue der Sevillaner Semana Santa hängt. Sie entstand um 1480 und ist deutlich kleiner als die Barockskulpturen anderer Prozessionen. Rasch wird der Paso um die Ecke getragen, eine flüchtige Vision des Todes in der Vollmondnacht, gefolgt von schwarzen Schatten.


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Da entdecken wir endlich Licht am Ende der Gasse. Die Kerzenpyramide der "Jungfrau der Traurigkeiten" wird langsam heran getragen. Sie hat wirklich einen tragischen Gesichtsausdruck. Tränen haben zwar fast alle Madonnen in Sevilla, aber viele zeigen - wie die Macarena - zugleich den Anflug eines Lächelns. Aber diese hier senkt den Blick zur Erde und scheint in düsterer Trauer zu versinken. Dabei ist sie, entsprechend dem Stil der Bruderschaft, von dunklen Farben - schwarz und nachtblau - umgeben. Wie eine Klagegöttin, einsame Verkünderin der Nacht von Golgotha, steht sie dort oben. Erstaunt hören wir ein dumpfes Flüstern, unheimlich nah. "Ave Maria, gratia plena..." Wir brauchen ein paar Sekunden, bis uns klar wird, es sind die Träger, die unterm Paso hinter Samtvorhängen verborgen den Rosenkranz beten. Gespenstisch wie aus einer Gruft dringt dieses Gemurmel zu uns, das jetzt beendet wird, denn das dritte Klopfen des Capataz, der den Paso führt, ist das Signal, den Weg fortzusetzen. Man hört nur das Knirschen des Baldachins und der schwarze Samtmantel verschmilzt mit der Nacht.

Heute hat die Bruderschaft nur wenige Anhänger. In Sevillas Goldenem Zeitalter im 16. und 17. Jahrhundert war Vera Cruz jedoch die wichtigste und zu ihren Mitgliedern gehörte jeder, der Rang und Namen hatte: Adlige und berühmte Künstler wie der Maler Murillo und der Dichter Rodrigo Caro. Gegründet wurde sie 1448 und wäre damit die viertälteste Bruderschaft Sevillas. Aber es gab einen dunklen Punkt oder vielmehr eine Lücke in ihrer Geschichte. Seit 1649 verlor sie an Bedeutung und Mitgliedern, offenbar hatte die große Pest sie besonders hart getroffen. Seitdem verlief der Niedergang immer dramatischer, bis in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Heilige Woche mehrfach ohne Vera Cruz stattfand. Alarmiert durch die Tatsache, dass die Bruderschaft keine Prozession mehr organisieren konnte, rief der Erzbischof von Sevilla 1924 zur großen Krisensitzung und es erschien - niemand! Damit erklärte er die Vereinigung für "erloschen". Doch 1942 wurde die Bruderschaft unter gleichem Namen neu gegründet und seitdem wird das Wahre Kreuz wieder durch Sevilla getragen.

Die Invasion der Englein
1.00 in der Calle Cardenal Cisneros. Es zieht eine weitere "finstere" Prozession vorüber. Die Nazarenos der 1875 gegründeten Vereinigung Las Penas de San Vicente gehen ganz in Schwarz. Aber es geht nicht so streng zu wie bei Vera Cruz, die Atmosphäre - auch unter den Zuschauern - ist lockerer. Und Musik gibt es auch, denn leise Oboenklänge verraten, dass der erste Paso nicht mehr fern ist. Ein diffuses Leuchten zwischen den Orangenbäumen, dann erkennt man eine prunkvolle Laterne aus Silber, darunter ein niedliches Englein, das seine Hände nach dem Licht ausstreckt.

Dann rückt mit einem Schritt die ganze mit roten Nelken übersäte, goldstrahlende Plattform ins Bild, geschmückt mit einer Invasion neobarocker Englein, die überall herum purzeln.

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Auf der Bühne fällt zuerst das pompöse Kreuz ins Auge, das im 17. Jahrhundert in Mexiko aus Silber und Perlmutt hergestellt wurde. Alles an dieser Altarbühne ist glitzernde Pracht, die fast ablenkt von der Hauptfigur: dem Jesus der Leiden. Diese Christusfigur kniet, zusammengebrochen unter der Last des Kreuzes. Die Statue des Erlösers gilt als eines der letzten Werke des großen Barockbildhauers Pedro Roldán (ca. 1690) und verdient alle Aufmerksamkeit. Mit seinen schönen, leicht orientalischen Gesichtszügen wirkt dieser Jesus wie ein maurischer Prinz.

Im Haus gegenüber öffnen sich die Fensterläden, wir sehen eine einsame alte Frau hinter dem Fenstergitter des kleinen Balkons. Ihre rechte Hand mit welker Haut krampft sich um einen der Gitterstäbe, mit der linken Hand versucht sie, das Kreuz zu berühren. Zitternd hebt sie die Hand wieder, um ein paar Tränen abzuwischen. Wir schätzen ihr Alter auf etwa 80. Wie viele Heilige Wochen hat sie schon miterlebt? Vielleicht hat sie als junges Mädchen, an der Hand ihres Freundes, die Semana Santa vor allem als Frühlingsfest genossen, während sie jetzt beim Anblick der Pasos an Tod und Vergänglichkeit des eigenen Lebens erinnert wird. Oder sie denkt gerade an Freunde, mit denen sie früher diese Woche gefeiert hat und die schon längst verstorben sind. Sie stützt sich auf das Fenstergitter, während sie dem nach Golgotha ziehenden Christus nachblickt. Sie öffnet ihren Fächer und fächelt sich die nach Blüten duftende Nachtluft zu, wartet noch einen Moment, bevor sie die Fensterläden wieder schließt.

Der Christus der Silberschmiede
3.00 auf dem Platz vor dem Museum der Schönen Künste. Die Kühle der Nacht wird jetzt spürbar, während die 1000 Nazarenos der letzten Prozession des Tages im Portal der Kapelle gegenüber verschwinden. Ihre Schritte sind schleppend, müde vom sieben Stunden langen Gang zur Kathedrale. Auch sie sind ganz in Schwarz gehüllt. An einem Tag der Kontraste, der am lichtdurchfluteten Nachmittag farbenfroh begann, haben nach Einbruch der Dunkelheit die Farbe Schwarz und eine mystisch-meditative Stimmung das Zepter übernommen. Diese letzte Bruderschaft des Heiligen Montags, von den Sevillanern El Museo genannt, wurde schon 1575 von der Zunft der Silberschmiede gegründet.

Plötzlich setzt Gedränge ein, schon nähert sich die Altarbühne mit dem Christus, schweigend wird er getragen. Klein ist dieser Paso, aber künstlerisch wertvoll. Auf einem Hügel roter Nelken der Schatten des Gekreuzigten, in dem Moment, als er sein Leben aushaucht. Ein Meisterwerk des Sevillaner Renaissance-Bildhauers Marcos Cabrera (1575), der in seinem bewegten, emotional mitreißenden Stil schon den Barock vorweg nimmt. Cabrera schuf eine Statue, die sich in Todesqual windet, beinahe ein "S" formt und alle Glieder anspannt in einer letzten Rebellion gegen den Tod. Fast expressionistisch scheint die Skulptur in ihrer bizarren, verdrehten Körperhaltung und dem vom Todesschrei verzerrten Gesicht.

Nachdem der sterbende Christus in der Kapelle verschwunden ist, gibt es zum Abschluss doch noch einen Lichtblick in der düster gewordenen Frühlingsnacht.

Umringt von flackernden, herunter gebrannten Kerzen, zieht die "Jungfrau der Wasser" an uns vorbei, begleitet von einer Welle des Jubels.

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Ein Aufatmen geht durch die Menge. Wie immer während der Semana Santa in Sevilla steht die hier zur Frühlingsgöttin erhobene Jungfrau Maria für die Wiedergeburt, die auf den Tod des Gekreuzigten folgt. Applaus brandet auf, als die Träger sie ein letztes Mal tanzen lassen, im Kreis drehen, bevor sie sich verabschiedet - mit dem Gesicht zum Publikum. Das Kirchenportal schließt sich vor ihrer Kerzenpyramide, die letzten Töne der Musik gehen unter in der aufbrausenden Geräuschkulisse. Die Vorstellung ist vorbei, die Zuschauer zerstreuen sich, manche summen auf dem Heimweg die Melodien der Trauermärsche, die gar nicht mehr traurig klingen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]

[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]

[Semana Santa in Sevilla-Die Geheimnisse der Madrugá]





[art_2] Brasilien: Viel Rauch um Nichts
8. UN- Artenschutzkonferenz

Kalt war`s in Curitiba. Geregnet hat`s, und alles war irgendwie grau in grau. Passend zu der hier stattfindenden 8. UN-Artenschutzkonferenz. Eine trübe Veranstaltung, auf der eigentlich einiges erreicht werden sollte. Denn man hatte sich ehrgeizige Ziele gesetzt: bis 2010 sollte der Rückgang der Artenvielfalt auf unserer Welt gestoppt werden. Dann wollte man riesige Schutzzonen eingerichtet haben, in denen die noch einigermaßen intakten Naturgebiete dieser Welt geschützt werden sollten. Das Gleiche wollte man bis 2012 auch auf den Weltmeeren erreichen, um den rasenden Rückgang der Fischbestände zu stoppen.

"Vor vier Jahren hat man dieses Ziel beschlossen, und man hat nur noch vier Jahre Zeit. Doch bisher ist nichts geschehen. Zur Halbzeit liegen wir 0:3 zurück", so Martin Kaiser, Delegationschef von Greenpeace International.

Auch beim zweiten heißen Eisen, den genmanipulierten Pflanzen, ist man nicht weiter gekommen. Während auf der Straße vor dem Konferenzgebäude die Landlosen- und Bauernorganisation Via Campesina lautstark gegen die Allmacht der Multinationalen Nahrungsmittel und Saatgut-Konzerne protestiert, können sich die 6.000 Delegierten aus den 188 Unterzeichnerstaaten drinnen auf nichts einigen. Eine Zwischenkonferenz sei dies lediglich, sagt der Leiter der deutschen Delegation, Umwelt-Staatssekretär Matthias Machnig.

"Wir laden alle Delegierten für die nächste Konferenz 2008 nach Berlin ein – dort wird man dann wohl zu Einigungen kommen", lässt der SPD Politiker verlauten. "Das große Problem dieser Konferenzen ist das Konsenzprinzip – das verhindert wirkliche Ergebnisse", meint der Leiter des Greenpeace Amazonas-Programms Dr. Thomas Henningsen.



Und gebremst haben in Curitiba vor allem die Australier. Sie, so meinen viele NGOs, sind im Auftrag der USA unterwegs, die nicht an der Konferenz teilgenommen haben. Sie gehören auch nicht zu den Unterzeichnerstaaten.

Für Brasilien ist besonders der Schutz von Gen-Ressourcen wichtig. So fürchtet man, dass die Multis die Gen-Pools indianischer Heilpflanzen patentieren lassen und damit viel Geld verdienen – ohne die Indianer an den Gewinnen zu beteiligen. Doch auch in diesem Punkt ist man  nicht vorangekommen. „Benefit Sharing“ heißt das Zauberwort, doch davon will man nichts wissen. „Die Natur gehört allen Menschen, und nicht bloß einigen Konzernen“, schreit ein Aktivist der Via Campesina ins Mikro. Delegierte in feinen Anzügen stehen etwas abseits und hören neugierig zu, beäugeln die mit grünen Fahnen bewaffneten Bauern argwöhnisch.

Erbost ist man in der so genannten Dritten Welt auch über die Terminator-Technologie, die Saatgut genetisch verändert, so dass es nur einmal keimen kann. So müssen die Bauern für die nächste Ernte wieder neues Saatgut kaufen, statt einen Teil der Ernte für die nächste Aussaat zurück zu halten. "Das ganze ist ein Teufelskreis. Das genmanipulierte Saatgut erfordert den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden, die natürlich auch von den Multis geliefert werden. Nach drei Jahren Bebauung ist der Boden dann kaputt, die Flüsse vergiftet, und der Bauer muss weiter ziehen, ein neues Stück Urwald roden. Und so geht es immer weiter. Jedes Jahr verschwindet 1% des Amazonas-Regenwaldes." Dr. Thomas Henningsen ist wahrlich nicht nach Feiern zumute.

Es regnet schon wieder in Curitiba. So kalt habe man sich Brasilien aber nicht vorgestellt, klagen die Delegierten, die wohl lieber im wärmeren Rio de Janeiro ihre Konferenz abgehalten hätten.


Aber Curitiba wird gerne von der brasilianischen Regierung für internationale Konferenzen ausgewählt. Gilt die Stadt doch als Vorzeigestadt, aufgeräumt-europäisch mit breiten Straßen und einem perfekt funktionierenden öffentlichen Verkehrsnetz. Das hat man sogar in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá exportieren können.

Konferenzen in Curitiba beinhalten aber immer auch den Auftritt des Gouverneurs von Paraná, dessen Hauptstadt Curitiba ist. Und Roberto Requião ist nicht auf den Mund gefallen. Mit Lederjacke und rotem Hemd tritt er vor die Delegierten und schwingt seine Eröffnungsrede. "Die neuen Vandalen" nennt er die Multis, die angetreten seien, "um ihres Profites willen die Zivilisation zu zerstören." Die Delegierten schauen leicht pikiert, während man bei den NGOs freudestrahlt. Derartige Töne wird man während der Konferenz nicht mehr hören. Brasiliens Präsident Lula scheint schon vorher kapituliert zu haben. "Statt über die schwierigen Verhandlungen frustriert zu sein, solle man sich über das bisher Erreichte freuen", sagt er in seiner Eröffnungsrede. Kein guter Beginn war das!

Was bleibt ist die Hoffnung auf Berlin 2008. Deutschland habe absichtlich gebremst, um dann in zwei Jahren in Berlin die Abschlüsse präsentieren zu können, unkt man.

Ob es aber tatsächlich in zwei Jahren zu großen Durchbrüchen kommen wird, bleibt abzuwarten. In Sachen Regen und Kälte kann Berlin aber auf jeden Fall mit Curitiba mithalten. Und einen gut funktionierenden Nahverkehr auf breiten europäisch-aufgeräumten Straßen wird man dort auch zu bieten haben. Na dann!

Text + Fotos: Thomas Milz





[art_3] Guatemala: Gemeinsam sind wir stark
Kaffeekooperative Union Huista

Es ist das Herzstück des Dorfes: ein Gewirr aus Rohren, Becken, freien Flächen und grünen Maschinen. Besorgt fragt Letitia Cano Armas den Techniker, ob auch alles in Ordnung sei. Denn wenn diese simple, aber gut durchdachte Anlage nicht einwandfrei funktioniert, dann gerät ihre Gemeinschaft in Schwierigkeiten. Der Techniker lächelt - alles ok. Die Männer können anfangen die Säcke vom Pickup zu laden und den Kaffee in einen großen Wasserbehälter zu kippen. Wenn die Maschine durchhält und das Wetter mitspielt, dann kann in den nächsten Wochen die Ernte geschält, gewaschen und getrocknet werden, dann ist das Überleben des Dorfes für ein weiteres Jahr gesichert - auch wenn Hurrikan Stan im Oktober an einem einzigen Tag fast die Hälfte der Kaffeepflanzen zerstörte.

Die Anlage, der Pickup, der Lastwagen, der kleine Laden - das alles gehört nicht einzelnen Besitzern, sondern der Kooperative Union Huista. Was auch immer hier im Dorf zu sehen ist, ist Gemeinschaftsgut.

"Weil wir alles teilen, haben alle viel. Nur gemeinsam können wir solche Geräte anschaffen und halten", erklärt Letitia. Die 38-jährige ist augenblicklich die demokratisch gewählte Präsidentin der Kooperative.

Die Gemeinschaft ist jung, entstanden aus den Wirren des Bürgerkrieges. Bis 1983 lebten die Familien in einem Dorf im Norden Guatemalas und gerieten im Bürgerkrieg zwischen die Fronten der Guerilla und der Regierungstruppen. Sie flohen nach Mexiko und kehrten 18 Jahre später in ihre Heimat zurück, so wie Tausende andere. Die UNO stellte den guatemaltekischen Flüchtlingen Gelder zur Verfügung, mit denen Land gekauft wurde. Union Huista erhielt zehn Quadratkilometer, die einst einem deutschen Großgrundbesitzer gehörten. Noch vor sieben Jahren gab es hier nicht viel mehr als ein paar Ruinen. "Wir haben das alte Herrenhaus niedergerissen und dort eine Kirche errichtet", erinnert sich Letitia, die mit anderen Frauen der Kooperative am Wochenende in der nächstgelegenen Stadt Tortillas verkauft, um endlich eine Jungfrau für ihr Gotteshaus anschaffen zu können. Oberhalb der Kirche stehen 125 kleine wellblechgedeckte Häuschen im sozialistischen Einheitslook.

Gut 1.000 Menschen leben heute von dem Land am Fuße des Feuervulkans, der ständig kleine Rauchwolken ausstößt. Hier haben sie alles, was sie zum Leben brauchen: sauberes, mineralhaltiges Quellwasser, fruchtbare Böden, sogar Bergregenwald - eine ideale Gegend um Kaffee anzubauen.


Es ist kühl und schattig in der Parzelle. Üppig grün wuchern die Blätter des Kaffees, darunter hängen die roten Kaffeefrüchte. Letitia reißt eine nach der anderen ab und wirft sie in ihren Korb. Es ist zwar ihre Parzelle, doch sie arbeitet hier nicht alleine, sondern gemeinsam mit den Genossen. "Ich trage nur die Verantwortung für dieses Stückchen Land", erklärt sie, "aber es gehört uns allen, und wir alle bekommen das Geld aus dem Kaffeeverkauf. Also helfen auch alle gemeinsam bei der Ernte, wenn einer alleine es nicht schaffen kann." Der jüngste Erntehelfer ist gerade mal zehn Jahre alt - nur wenn auch die Kinder mithelfen, ist die Arbeit zu bewältigen. Und Dank des gemeinschaftlichen Pickups müssen die 45 Kilo schweren Säcke mit dem geernteten Kaffee nicht eine Stunde lang bis zu der Verarbeitungsanlage getragen oder vor Ort von Hand durch eine kleine Schälmaschine gedreht werden.

Ihren Kaffee verkauft Union Huista an den Dachverband Fedecocagua, ein Zusammenschluss von 148 Kaffeekooperativen aus ganz Guatemala. Fedecocagua exportiert 30 Prozent des Kaffees an den Fairen Handel in aller Welt, in Deutschland an die gepa.

Die Organisation stellt den einzelnen Kooperativen Agraringenieure zur Verfügung, die beraten, wie man Ertrag und Qualität des Kaffees steigern kann, vergibt Kredite und Vorschüsse auf die Ernte. Vor allem aber macht der Dachverband unabhängig von den gefürchteten Coyoten. "Bevor wir unseren Kaffee an Fedecocagua verkauft haben, waren wir auf diese Art Aufkäufer angewiesen. Die haben den Preis diktiert und manchmal haben sie gar nicht bezahlt. Jetzt fühlen wir uns gerecht behandelt."

Die Kooperative hat viel vor in den nächsten Jahren: Die Schule soll ausgebaut werden, und sie wollen unbedingt einen Fußballplatz anlegen. "Damit die Kinder sinnvoll beschäftigt sind", erklärt Letitia. Vor allem aber wollen sie investieren. An eine Forellenzucht haben sie gedacht, und an ein Wasserrad, zur Stromgewinnung. Bienenvölker wollen sie anschaffen und Kühe züchten. "Um all das, was wir vorhaben, umsetzten zu können, brauchen wir noch viel mehr Mitglieder. Es ist ein gutes Gefühl, dass die Farm auch unsere Kinder ernähren wird", sagt Letitia. Erst mal aber fangen sie klein an. Ihr neuestes Projekt: Eine Regenwurmzucht. "Wir wollen in Zukunft nur noch organischen Kaffee anbauen, ohne chemischen Dünger. Denn können wir an den Fairen Handel verkaufen und so mehr Geld verdienen." Stolz präsentiert Letitia den ersten Sack Humus, den die Würmer produziert haben. "Das reicht für 30 Kaffeepflanzen."

Die Mitglieder der Kooperative Union Huista sind sehr zufrieden, wie sich alles entwickelt hat. "Noch vor wenigen Jahren hatten wir nichts, waren wir Flüchtlinge ohne Land und ohne Einkommen. Heute fühlen wir uns reich", sagt Letitia, während sie auf einem einfachen Holzofen Tortillas backt. Nach unseren Maßstäben ist "reich sein" etwas ganz anderes, aber in einem Land wie Guatemala, indem 80 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, sind die Mitglieder der Kooperative tatsächlich wohlhabend. Und um eine Errungenschaft der Kooperative würde Union Huista von jedem deutschen Dorf beneidet werden: Der Pool. Im letztes Jahr reinigten alle zusammen das ehemalige Schwimmbad des Großgrundbesitzers von Laub und Erde, leiteten frisches Quellwasser durch das Becken und schufen so einen Platz, an dem sich die Familien am Wochenende treffen. Die Kinder vergnügen sich mit den Vätern im Wasser, während die Mütter unter einem großen Baum das Picknick vorbereiten. "Dieses Dorf ist das Paradies."

Doch all das kann kaum über die Wunden hinwegtäuschen, die der Bürgerkrieg in die Seelen gerissen hat. An eine Hauswand haben Kinder die Geschichte des Dorfes gemalt.


Bilder von Soldaten, die Menschen erschießen, von Flucht und Baracken. Jede Familie hier hat Angehörige im Krieg verloren. Auf der kleinen Plaza vor der Kirche wird den Gästen aus Deutschland zu Ehren ein Tanz vorgeführt. In traditionellen, handgewebten Kostüm tanzen alte Frauen zu einem traditionellen Lied mit neuem Text: "Sie töteten unsere Eltern, sie töteten unsere Söhne. Aber wir müssen in die Zukunft blicken. Gemeinsam werden wir es schaffen."

Text: Katharina Nickoleit
Fotos:
Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
276 Seiten
36 detaillierte Karten und Ortspläne, Umschlagkarten, Register, Griffmarken, 120 Farbfotos ISBN 3-89662-338-9
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2005





[art_4] Brasilien: Im Tal der Morgendämmerung

Der Reichtum eines Menschen liegt nicht in der Summe oder Verteilung seiner materiellen Güter, sondern in seiner Würde.
Vilela

Ich lese diese weisen Worte, die auf ein weißes Blatt Papier gedruckt an einer Säule hängen, und sehe hinüber zu Vilela, der umgeben von zahlreichen Souvenirs, Paraphernalien und Broschüren, die sein Konterfei tragen, hinter der Theke steht. Er sieht mir in die Augen, als erwarte er vielleicht, dass ich ihm ergriffen zunicke.

Der Mann, der seine eigenen Weisheiten weise genug findet, um sie an den Wänden seines Ladengeschäftes zu verteilen, ist eine prominente Persönlichkeit in einer kleinen Stadt nicht weit von Brasília, deren inzwischen 20.000 Bewohner sich seit fast vierzig Jahren auf eine neue Weltordnung vorbereiten.

Von der einen Wand blicken Bilder erleuchteter Geister auf uns herab - zum Beispiel Ayrton Senna. Und Juscelino Kubitschek, der Präsident Brasiliens, der Ende der 50er Jahre Brasília aus dem Boden stampfen ließ, die Hauptstadt des neuen Jahrtausends, in der heute esoterische Stadtführer verteilt werden, die den Besucher auf die unglaublich geheimen, geheimnisvollen und spirituell hochbedeutsamen Ähnlichkeiten der Stadt mit der ägyptischen Metropole Akhetaton von vor 3500 Jahren aufmerksam machen.

Die andere Wand ist mit Portraits einer imposanten, aufwendig frisierten Dame behängt, mit der die Geschichte des Vale do Amanhecer ihren Anfang nahm. 1957 begann die Lastwagenfahrerin Neiva Chaves Zelaya, Geister zu sehen. Der mächtigste unter ihnen war ein mit einem prächtigen Kopfschmuck aus weißen Federn behangener Indianerhäuptling, der spanisch sprach, sich als Vater Weißer Pfeil zu erkennen gab und fortan ihr spiritueller Mentor wurde.

Von Weißer Pfeil erhielt Neiva einiges Wissen, das allen anderen Menschen auf der Welt bisher vorenthalten worden war: Tatsächlich stammt die Menschheit von den Bewohnern des Planeten Capela ab, einer Rasse von physisch, wissenschaftlich und spirituell hoch entwickelten Wesen, die mit der Mission betraut wurden, die Erde zu besiedeln. Weil ihnen aber ihre physischen Körper nicht erlaubten, sich an den neuen Planeten anzupassen, mussten sie sich verwandeln. Sie wurden zu den halbgottartigen Equitumanern, die nicht nur geschlechtslos waren, sondern auch zwischen drei und vier Meter groß. Die Equitumaner kamen in Schiffen auf die Erde und ließen sich in der Andenregion nieder. Dort blieben sie 2000 Jahre, bis sie einer weltweiten Naturkatastrophe zum Opfer fielen, die ausgelöst wurde durch die Annäherung eines raumschiffartigen Objektes, genannt "Weißglühender Stern". Zu dieser Zeit war Weißer Pfeil der Kapitän des Weißglühenden Sterns und als solcher für den traurigen, aber spirituell-evolutionär nötigen Paradigmenwechsel auf der Erde verantwortlich; er sorgte für die Beerdigung der Equitumaner auf der heute bolivianisch-peruanischen Hochebene. Aus den Tränen des weißglühenden Sterns entstand dort der Titicaca-See.



Im Anschluss organisierte Weißer Pfeil die wenigen Überlebenden in Gruppen von jeweils sieben, die für die Neubesiedlung des Planeten sorgen sollten. Von nun an nannten sie sich Orixás - offenbar haben diejenigen, die die Orixás bloß für in Amerika und Afrika verehrte Götter afrikanischer Herkunft halten, das Gesamtbild aus den Augen verloren.

Aus den Gruppen der Orixás wiederum entstanden verschiedene Clans von Missionaren, die Tumuchis, großartige Künstler und Wissenschaftler, die den Krieg verachteten. Unter der Führung von Weißer Pfeil manipulierten sie planetarische Energien, bereisten die Welt in Schiffen und errichteten Monumente, deren Überreste noch heute zu besichtigen sind: Machu Picchu in Peru, die ägyptischen Pyramiden, die steinernen Köpfe auf der Osterinsel.

Die Tumichis wurden abgelöst von den kriegerischen Jaguaren, die, wiederum angeführt vom großen Krieger Weißer Pfeil, ebenfalls verschiedene Großartiges vollbrachten. So löste eine Zivilisation die andere ab, im Abstand von 2000 Jahren.

Nach der Geburt Jesu Christi entschied Weißer Pfeil, seine kriegerische Gestalt abzulegen und inkarnierte als Franz von Assisi, um in dieser Form nichts als Liebe und Willensfreiheit unter den Menschen zu verbreiten.

Im sechzehnten Jahrhundert war Weißer Pfeil Häuptling eines Indianervolkes in den Anden, und es gelang ihm nur durch die Weisheit der von göttlicher Liebe Erleuchteten, die er in den Augen trug, die spanischen Invasoren davon abzuhalten, auch die letzten Inka-Dörfer auszurotten.

Inzwischen ist die Anzahl der ihm gestatten Inkarnationen verbraucht, und so wählte er Neiva, um als sein Agent auf Erden zu wirken, und es war unter seiner Anleitung, dass sie 1968 mit dem Bau des Vale do Amanhecer begann, wo eine Elite von Wissenden den Anbruch des neuen Jahrtausends und der neuen Weltordnung erwarten sollte. Zuvor fand sie allerdings noch Zeit, Juscelino Kubitschek genaue Anweisungen für den Plan seiner Hauptstadt zu geben, deren Grundriss nicht etwa ein Flugzeug repräsentiert, das sich Ordnung und Fortschritt entgegen in die Lüfte schwingen soll, wie gemeinhin angenommen, sondern eine Allegorie des Heiligen Geistes.

Was hier eine Rolle spielt, ist Katholizismus, Protestantismus, Spiritismus, afro-brasilianische Einflüsse, Freimaurer- und/oder Rosenkreuzertum sowie weiteres Geheimbundwesen, Okkultismus theosophischer Prägung, UFO-Glauben, eine ganze Menge anderes Zeug - und die Kreativität einer offenbar sehr ausstrahlungsstarken Führergestalt, die all diese Dinge auf für nicht wenige Menschen überzeugende Weise zusammenbrachte. Tia Neiva, Tante Neiva, wie sie sich nach ihrem Erweckungserlebnis zu nennen begann, vollzog die Synthese aller ihr (in mehr oder weniger Tiefe) bekannten weltanschaulichen Strömungen, die Weltformel, die Widersprüche beseitigt und mit einem Mal alles erklärbar macht. Bestimmt nicht die einzige ihrer Art, umso weniger in Brasilien, aber doch die in ihrer äußeren Form beeindruckendste, die mir bisher unter die Augen gekommen ist.

Intoleranz kann man einem solchen Vorgehen auf den ersten Blick nicht vorwerfen. Wohl aber eine beträchtliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Feinheiten der einzelnen Glaubensrichtungen, deren Anhänger sich in Tia Neivas allumfassender Doktrin kaum wiederfinden werden.

Neiva starb 1985. Inzwischen besetzt eine Gruppe von ihr persönlich eingesetzter Medien die obere Spitze der sehr rigiden Hierarchie des Vale do Amanhecer - nicht ganz unangefochten, wenn man einem kritischen Kommentar glauben darf, den Vilela, Präsident des Vereins Arbeit und Licht (Associaçao Tralbalho e Luz - ASTRAL) im offiziellen Organ eben dieses Vereins veröffentlichte, dann fotokopierte und an der Wand seines Ladens aushing. Das ist nicht untypisch - viele solcher Bewegungen, die um charismatische Anführer wie Tia Neiva entstehen, leben nicht wesentlich länger als ihre Gründer und gehen an Nachfolgestreitigkeiten zugrunde. Wenn man bedenkt, dass sie schon über zwanzig Jahre tot ist, hält sich das Vale do Amanhecer sogar sehr gut und lebendig; es war ganz offenbar nicht allein die Figur Neivas, die die Anziehungskraft ihrer Doktrin ausmachte.

Wir stehen nicht lange in Vilelas Laden und betrachten Bilder, in denen Weißer Pfeil aussieht wie ein Häuptling bei Karl May, als sich uns einer der Adepten als Führer anbietet, ohne dass wir ihn darum gebeten hätten. Er trägt eine Schärpe in violett und gelb, ein schwarzes Hemd und darüber eine weiße Weste, auf der ein Kreuz prangt, ein Davidsstern und ein ganzes Sortiment weiterer Symbole, und das Braun seiner Hose ist eine Hommage an das Braun der Franziskanerkutten, im Anklang an Weißer Pfeils berühmteste fleischliche Form. Damit ist er nicht alleine: Nahezu die gesamte Bewohnerschaft des Vale do Amanhecer ist in Kleider gehüllt, die der Nichteingeweihte ignorant als naive, kindergeburtstagsartige Phantasieuniformen bezeichnen würde. Da sind ganze Massen flitterbunter Prinzessinnen mit wehenden Schleiern und Ritter mit Templerkreuzen auf Umhängen, mit hohen Stehkrägen, die mich unweigerlich an Graf Zahl denken lassen.



Gemeinsam vollführen sie auf einem weitläufigen Gelände komplizierte Rituale zwischen symbolüberladenen Monumenten aus bunt angemaltem Beton - Pyramiden, Elipsen, Wasser, Kreise, Pfeile, Kreuze, Sterne, Jaguare, Flammen, Pharaonen, Sonnen, Monde, Orixás - unter dem Kommando einer männlichen Stimme, die salbungsvoll und vollkommen unverständlich aus miserablen Lautsprechern tönt, unterbrochen von unsäglich schnulzigen Ave-Maria-Versionen. Oder sie trinken zwischendurch zur Entspannung eine Limonade und essen ein Eis.

"Ach, ihr seid Deutsche? Wir arbeiten hier auch mit zwei Deutschen, Dr. Fritz und Dr. Ralf. Große Heiler. Die behandeln hier alle möglichen Krankheiten. Beide im Ersten Weltkrieg gestorben", lässt uns unser Führer wissen. Mein Urteil ist schnell gefällt: Hier handelt es sich um die Art luftiger Patchwork-Spiritualität, zu der nicht wenige Menschen neigen, denen die materielle Behaglichkeit und Entzauberung das Leben sinnentleert hat - wenn auch mit einer Entschlossenheit durchgeführt, die ich so noch nirgends gesehen habe. Dann, als ich mit verschiedenen Leuten spreche, merke ich, dass es nicht ganz so einfach ist. Es sind nicht nur wohlstandsverwöhnte, gelangweilte Sinnsucher, die sich hier zusammenfinden.

"Ich kann dich reinlassen, wenn das Ritual zu Ende ist. Und frag mich nicht, was die Zeichen bedeuten! Da musst du jemand anderen fragen. Aber die Arbeit, die die Leute hier drin machen, mit den Geistern - kein Kinderspiel, dass sage ich dir. Schwere, gefährliche Arbeit."

Während ich warte und den rätselhaften Vorgängen auf der anderen Seite des Gittertores zuschaue, erzählt mir Maria, dass sie aus dem Nordosten kommt, aus einfachsten Verhältnissen. Seit 20 Jahren ist sie im Vale do Amanhecer, aber bald möchte sie zurück nach Paraíba.

Hier im Distrito Federal ist nämlich das Sterben zu teuer - da kann sich kein normaler Mensch ein ordentliches Grab leisten. Am Ende dauert mir das Ritual, das böse Geister auf den richtigen Weg bringen und neue Adepten initiieren soll, zu lange, und wir machen uns auf dem Rückweg.

In einer Pyramide, deren Inneres mit Abbildungen großer Pharaonen gepflastert ist, führe ich mir mit zwei Fingern eine Prise Salz aus einer Messingschale zwischen die Lippen, dann tauche ich den Zeigefinger in ein Becken mit parfümiertem Wasser und benetze mir die Schläfen. Einer, der auf einer Bank an der Wand in tiefe Meditation versunken schien, zischt mich an, wie man es in Brasilien tut, wenn man jemandes Aufmerksamkeit erregen will. Er gestikuliert: So musst du das machen, mit den Daumen. Eine prachtvoll gekleidete Frau reicht mir mit einem freundlichen Lächeln einen Becher Wasser, und ich sehe in ihren Augen, dass sie ganz sicher ist, etwas Gutes, Wichtiges für mich zu tun.

Es fällt mir sehr schwer, ernstzunehmen oder gar nachzuvollziehen, was so viele so verschiedene Menschen dazu treibt, sich einem offensichtlich so absurden Spektakel hinzugeben. Die Antwort kann jedenfalls nicht einfach sein, die Masse als dumm und die Anführer als Schwindler abzutun.



Ich kann mich nur unbeholfen daran erinnern, dass Absurdität relativ ist. Und wenn man wie ein guter Kulturforscher weiß, dass jede Tradition auch erfunden ist und die wenigsten Traditionen so alt und seit Generationen unverändert sind, wie sie sich ausgeben, gibt es wenig objektive Gründe, anderen Religionen mehr oder weniger Respekt entgegenzubringen als den Mystikern aus dem Tal der Morgendämmerung.

Ist aber schon lustig, wie albern die sich anziehen. Und Tia Neiva... diese Frisur.

Text + Fotos: Nico Czaja

Link:
Cavalcante, Carmen Luisa Chaves (2002): O Vale do Amanhecer e as Configurações de um Mito em Códigos Verbais, Cinéticos, Visuais e Sonoros: http://www.naya.org.ar/congreso2002/ponencias/carmen_luisa.htm








[kol_1] Hopfiges: Bucanero vs. Cristal

Cristal
War da was? Oder hab ich ein leeres Glas erwischt? Ein bisschen hat`s ja dann doch noch gekitzelt, hinten am Zäpfchen. Aber Geschmack ist in der 350 ml Flasche ja nicht mit dabei. Wässrig ist dieses Cristal. "La preferida de Cuba" steht auf der Badarole - was ist bloß mit den feurigen Cubanos los? Wasser hätte man ja direkt bestellen können. 4,9% Alkohol hat`s, merkt man aber nicht. Hell-gelb brütet das flüssige Brot im Glas.

Die Banderole lügt: "Cristal es la auténtica cerveza cubana, elaborada con ingredientes de insuperable calidad. Su sabor intensamente refrescante la ha convertido en la cerveza preferida de Cuba, ideal para disfrutar de los más gratos momentos."

Ich hab Dich nicht lieb, Inselgebräu! Da mach ich mir rasch einen Mojito, mit kräftig Rum und frischer Minze, der pfeffert wenigstens.

Bucanero
Bucanero Fuerte verkündet der Flaschenaufdruck. "100% Cubana", aber was denn auch sonst? Kölsch ist ja wohl nicht mit drin! Skeptisch bin ich mittlerweile, wenn ich eine Flasche kubanisches Bier öffne. Nach dem Fiasko mit Cristal begibt man sich am besten in "Hab-Acht-Stellung", hält die Flasche weit vom Körper weg und kneift die Augen beim Öffnen zu. "Blöp" macht`s, der Deckel fliegt, Kohlensäurengebräusel ist zu vernehmen. Ins Glas damit, zack-zack, dunkel ist`s. Erstaunen. Die Farbe ist gut!

Oh, Oh, surprise! Der Geschmack auch! Ja so was Feines! Schmeckt klasse. Malzig, rau, kratzt im Hals, umspült die Speiseröhre und füllt das Bäuchlein. "Fuerte" ist es auch, gut dass ich nur eine Flasche da hab.

Sonst wär der Abend ja direkt gelaufen. 5,4% Alkoholgehalt. (Könnte aber auch an den drei Mojitos liegen, die ich vorher getrunken habe...)

"Bucanero le brinda el misterio y pasión de Cuba en una cerveza dorada, de sabor robusto y vigoroso. Su antiguo y secreto proceso de elaboración combina la más fina selección de lúpulo, agua y cebada malteada. Atrévase a disfrutar el placer de esta tentadora cerveza." So die Banderole. Da ist was dran.

Viva Cuba!

PS: Beide Biere stammen übrigens aus der gleichen Brauerei, der Cerveceria Bucanero in Holguin.

Cristal (1-4):

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Bucanero (1-4):

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Fotos: Thomas Milz






[kol_2] Macht Laune: Tango entmystifiziert

Das Taxi hält. Ich bin angekommen. Angekommen an einem Ort, den ich bis zuletzt meiden wollte und es letztendlich nicht mehr durchhalten konnte. Mit weichen Knien steige ich aus und nähere mich dem Eingang, der mit einem großen, gelben Neonlichtschild einlädt: Tanguera. Milonga. Meine Freundinnen warten bereits auf mich und mir kommen dumpf die Bilder unseres ersten Tanzabends in den Sinn, der unter ganz anderen Vorzeichen stand. Ich war neu in Buenos Aires, hatte ordentlich einen in der Krone und es war mir daher ziemlich egal, mich vor allen Leuten zum Affen zu machen. Und: es handelte sich nicht um einen obligatorischen Partnertanz!

Die Damen versuchen mir sogleich das komplette Procedere zu erklären, aber fast apathisch nehme ich nur die Hälfte auf. Es riecht bereits nach Schweiß als die Eingangstür zurückschwingt und wir die erste Tanzfläche sehen. Hier tanzen die Paare mit Niveau vier, wird mir erklärt. Wir gehen also einen Stock tiefer und zu meinem Leidwesen muss ich feststellen, dass diese Tanzfläche fußballfeldartige Größe erreicht. Ich komme wohl nicht ungeschoren davon, schwant es mir in diesem Moment. Niveau eins bis drei, lächeln mir die Damen entgegen. Ja sagt mal, fehlt da nicht die Anfängerstufe null, wo auch Einbeinige und Hüftkranke ihr Glück versuchen können? Und es gibt sie tatsächlich nicht, wenn auch in der ersten Stufe mindestens noch die Hälfte eine weitere Unterteilung mehr als dringend gebraucht hätte. Allen voran natürlich ich selbst!



Die Damen begleiten mich zum Salsakreis, der schon in vollem Gange ist. "Da gehst Du jetzt einfach zu einer Frau und tanzt die Schritte mit. Wir selbst sind Stufe drei und sehen uns anschließend an der Bar." Da stehe ich also. Von meinen liebenswerten argentinischen Mentorinnen verlassen, außerhalb des Kreises verrückter Tanzwütiger, die sich von kubanischen Drill-Instruktoren in der Mitte die Anweisungen und den Takt vorgeben lassen. Alter Mann, da wirst Du wohl gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Ich fasse mir ein Herz, gehe zur nächsten Dame, murmle ein kurzes "Hola" und ehe ich überhaupt noch mit meinen Schritten beginnen kann, wird der Kreis aufgelöst und wir beklatschen uns gegenseitig für die gute erste Runde. Aber meine Hoffnung, dass wir nun ein kühles Bierchen an der Theke trinken könnten, zerschlägt sich sofort als der bemützte Kubaner die zweite Schrittfolge erklärt. Wie war doch gleich die erste?

Eine gewichtige Tanzgrazie packt mich kurzerhand am Arm und zieht mich zu sich hinüber. Himmel. Eins, zwei, drei - vier fünf sechs und ... wer führt hier eigentlich wen? Der Instruktor hat ein Einsehen mit meiner misslichen, um nicht zu sagen schraubstockähnlichen Situation und es kommt zum Partnerwechsel. Herrlich, das Mädchen vorne hat mir schon vorher zugelächelt - ich bin sicher, es lag an meinem unwiderstehlichen Hüftschwung - und sie kann auch sehr süß mit ihrem Po wackeln. Aber auch dieser Wunsch wird mir an diesem Abend verwehrt bleiben, denn der Partnertausch ist doppelt und die Frau mit dem Goldzahn und stärkerem Bartwuchs lächelt mir schon aufgeregt zu. Nun ja, wenigstens scheint sie nett zu sein und verzeiht mir auch, dass ich bei der dritten Schrittfolge beinahe kapituliere und ihr mehrfach mein Knie auf den Oberschenkel sausen lasse. Vielleicht ist es deshalb auch besser, dass ich die powackelnde Diva erst beim zwölften Partnerwechsel zugeteilt bekomme, so kann doch gewährleistet werden, dass nicht schon frühzeitig ein Krankenwagen gerufen werden muss. Wir beklatschen uns noch mal gegenseitig, wohl dass kein Tanzteilnehmer erhöhten Schaden genommen hat und ich tänzle lässig - so gut es eben geht - zur Theke und bestelle ein Bier.

Ah, da kommen ja auch die Mädels wieder, die mich vorher so unkollegial im Stich gelassen haben. Sie bestürmen mich mit allerlei mehr oder weniger rhetorischen Fragen. "Gut", sag ich kurz angebunden, "jetzt können wir einen trinken gehen, oder?" Hm, nein, jetzt kommt doch noch die Tangovorführung und anschließend Runde Nummer zwei mit den Grundschritten dieses anmutigen Tanzes. Auch hier kann ich mich nicht herausreden und nach der eröffnenden Tangoshow - die Vorführung ist wirklich sehenswert und macht richtig Lust auf Tango - geht es auch schon mit den Grundschritten los. Glücklicherweise beginnen hier Frauen und Männer getrennt, so dass ich zunächst nur meine maskulinen Mitopfer mit meinem Bewegungstalent beglücke. Klatsch, Klatsch und die Damen eilen herbei. Die erste freut sich sichtlich, einen so jungen, dynamischen "Alemán" zugeteilt zu bekommen und tatsächlich, sie tanzt schlechter als ich! Leider geht sie nach drei Runden schon wieder und ich "bekomme" eine wirklich kesse Engländerin mit High-Heels, schwarzem Abendkleid und tiefem Dekolleté. Mir bleibt die Spucke weg und ich unterhalte mich ein wenig, drehe sie mal hier, mal dort hin und steige ihr nicht einmal auf die Füße. Allerdings ist sie über meine Fortschritte nicht ganz so glücklich wie ich selbst und so kommt es auch nicht zu einem lockeren Gespräch, geschweige denn zu einem lockeren Tänzchen. Den Abschluss macht eine Dame aus Triest, mit der ich mich gut unterhalten kann, die nett ist und die mich in der Tat vergessen lässt, dass ich nebenher die Grundschritte des Tangos in Perfektion vollführe.

Dann ist die offizielle Tanznacht auch schon wieder vorbei. Meine Damen wollen beim anschließenden Erfrischungsgetränk wissen, wie es mir denn ergangen sei. Auf meine Nachfrage, warum bei der zuvor gezeigten Tangoshow niemand die Schritte tanzte, die ich gerade erlernen musste, bekam ich die lapidare Antwort: Beim Tango ist 100 Prozent improvisiert. Hätte mir das bloß mal jemand vorher gesagt.

Text: Andreas Dauerer
Foto: Sofia Prentki





[kol_3] Grenzfall: Kakerlake impulsiv - #1 #2 #3 #4

# 1
Zweimal im Jahr kommt der Schädlingsbekämpfer und befreit das Haus von Ungeziefer, genauer von Kakerlaken, Küchenschaben, Cucarachas, den ungeliebten Krabbeltieren, denen man auf Schritt und Tritt innerhalb der eigenen vier Wände begegnet. Zunächst scheinen die chemischen Eingriffe Früchte zu tragen, eine Woche später jedoch ist das Ungeziefer zurück. So zahlreich wie zuvor.

Unsere Kakerlaken sind daumengroß, haben zwei Fühler, die die Körperlänge um das Doppelte übertreffen. Der Panzer ist braun und obwohl er nicht flach wirkt, passt er in jede Ritze.

Eine Cucaracha gleicht der anderen als seien sie Klone einer cucarachischen Urform. Kinder sieht man selten. In der Öffentlichkeit horten sie sich nicht zu zusammen und treten meist allein auf oder mit Abstand zu Ihresgleichen. Und sie sind überall dort, wo es etwas zu fressen gibt: Im Bad bei der Seife, im Wohnzimmer in der Schublade für Kerzen und in der Küche bei den Lebensmitteln.


# 2
Es ist der unbedachte Schritt der Nacht, wenn Durst den Schlaf unterbricht und man barfuß die Küche betritt: Knack, Knack, Knack. Drei Schritte, drei Treffer. Finden sich die Schuhe obgleich schlaftrunken, dann spart man sich den Glibber unter dem nackten Fuß. Findest sich der Lichtschalter, dann gleicht die Küche dem konfusen Durcheinander einer Großstadt aus der Vogelperspektive im Zeitraffer: Unzählige Kakerlaken tummeln sich auf Boden, Tisch und Spüle, an den Schränken, auf, neben und im Kühlschrank und rund um den Hundenapf. Licht bringt die Menge in Aufruhr und sie huscht geschwind den Ritzen entgegen, wo sie im Nu unsichtbar wird und die Küche nur eine Sekunde nach Betätigung des Lichtschalters wieder unbewohnt erscheint.


# 3
das meer gegenüber dem eingang
wasserfarbe hinter glas

zwei cucarachas darauf
eine in der linken, eine in der rechten
unteren ecke des bildes
entgegengesetzt, symmetrisch, diagonal
köpfe und fühler nach unten gerichtet

davor vollrum
konzentriert
seit stunden im begriff die komposition aufzulösen
vergeblich
zur klärung der sinne
stärkung

im kühlschrank tortillas und schwarzes bohnenmus
bevor er den ersten bissen setzen kann
erscheinen erst die fühler und dann der kopf
und heißen ihn herzlich willkommen in américa latina


# 4
Das, was mein Körper in dieser Nacht mit mir veranstaltet, liegt jenseits jeglicher Definition des Begriffs kribbeln.

Ich weiß wovon ich spreche, denn ich gehöre zu den Menschen, die immer heiße Hände und Füße haben und nachts niemals eine Decke über den Füßen ertragen. Außer diese sind extrem kalt, was leider selten vorkommt. Denn obwohl kalte Füße den Körper ebenfalls vom Schlafen abhalten, so kann man doch wenigstens im Bett liegen bleiben, ein wenig Strampeln und durch die Reibung einen Auftauungseffekt erzielen oder mit List und Tücke versuchen, dem Partner, sofern er anwesend ist, die kalten Füße unter zu mogeln. Leider aber sind meine Füße fast immer heiß und das bedeutet, Füßeln wird zur größten Folter, ruhiges Liegen bringt mich um den Verstand. Aufspringen und kalte Fliesen suchen, Füße unter den Wasserhahn oder ins Eisfach gehören zum Alltag.

Heute Nacht aber scheint es als haben Abermillionen kleiner Kakerlaken von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen und ihn in einen Aqua-Vergnügungspark umfunktioniert. Das Blut zirkuliert mit rasender Geschwindigkeit durch die Adern, wie durch eine riesige Wasserrutsche, aufbrausend und in den Kurven überschwappend. Plötzlich herrscht Stillstand und der Schlaf setzt ein. Doch unmittelbar nach dem finalen Zucken, das die Glieder von der letzten Anspannung befreit, setzt das vergnügungsgetränkte Treiben erneut ein, heftiger als zuvor. Wasserspeier zur Beschleunigung der rutschenden Kakerlaken werden zugeschaltet, Hubbelpisten eingerichtet und eine Meeresbrandung simuliert.

Ein inneres Brodeln jagt durch den Körper unzählige Zuckungen auslösend, die die Gesichtszüge verzerren und den Oberkörper aufbäumen lassen. Duschen, Whiskey, Autogenes Training: nicht das geringste Anzeichen des Erfolges stellt sich ein. Auf Ohnmacht folgt Zorn und das Verlangen reale Kakerlaken aufzuspüren und sie an die Wand zu klatschen.

In der Küche öffne ich den Kühlschrank und überlege, ob Wasser oder Bier, als aus dem Bohnenmus erneut die Fühler und dann der Kopf der allwissenden Kakerlake auftauchen und sie spricht: "Du findest den inneren Frieden, wenn du eine Scheibe Käse zerteilst und die Stücke im Halbkreis angeordnet auf dem Küchenboden ausbreitest."

Dreimal prescht meine Rechte in das Mus. Nicht, dass am Ende irgendjemand glaubt, ich hätte Gefallen gefunden an den krabbelnden, widerlichen, fühlerschwenkenden Allesfressern.


Text + Fotos: Dirk Klaiber





[kol_4] Lauschrausch: Jazzgebete vs. Tangokönig

Guillermo McGill
Oración
Nuba/Karonte 7781


Selten habe ich so lebhafte Gebete gehört. "Oración", das dritte Album des uruguayischen Schlagzeugers und Percussionisten Guillermo McGill, hat nichts mit esoterischer Entspannungsmusik zu tun, sondern überzeugt durch seine musikalische Klarheit und Kraft, sowohl in den andächtigen Momenten als auch während der Improvisationen. Zu seinen Begleitern der letzten CD – dem britischen Saxophonisten Julián Argüelles, dem portugiesischen Pianisten Bernardo Sassetti sowie dem deutschen Bassisten Tjitze Vogel, gesellt sich das Sopransaxophon des Miles-Davis-Begleiters Dave Liebman.

Und so erinnern manche Passagen von z.B. "Leonardo" auch an "Bitches Brew". Einmal scheint auch ein wenig Flamenco durch, ein Erbe aus McGills Jahren als Begleiter des Pianisten Chano Domínguez - vielleicht auch weil McGill gerade auch einen DVD-Kurs zum Thema "cajón flamenco" herausgegeben hat.

McGill, der im Alter von 19 Jahren nach Spanien kam, ist ein spiritueller Mensch und versucht, diese Spiritualität in all sein Tun einfließen zu lassen. Über seine Kompositionen möchte er die Menschen an Themen heranführen, die man gemeinhin nicht mit Musik / Jazz in Verbindung bringen würde: die Philosophie von María Zambrano oder, wie in diesem Fall, die lateinamerikanische "Theologie der Befreiung". Sein soziales Gewissen trieb ihn, der nicht getauft ist, dazu an und nicht etwa religiöser Fanatismus. Er bewundert Theologen wie Leonardo Boff oder Luis Peréz Aguirre, die sich der Nächstenliebe verpflichtet fühlen und dafür nicht einmal die Konfrontation mit dem Vatikan scheuen - bis hin zum Lehrverbot. McGill glaubt wie sie an das Prinzip der Gleichheit in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen, sei es in einem Jazzquintett oder in einem Staat. Sieben Titel auf "Oración" sind den Theologen gewidmet. Mir fällt es schwer, die Verbindung zwischen ihren Gedanken und der Musik herzustellen (obwohl auch die "Theologie der Befreiung" in ihrem dauernden Kampf um Gerechtigkeit ja keine ruhige Angelegenheit war). Aber McGill hat sein "gesellschaftliches" Ziel erreicht: Anhand der Texte über die Theologen (alle auf Spanisch) setzt man sich mit ihren Gedanken und der Welt, die sie verändern wollen, auseinander. Und das, während man diesen wunderbaren Klängen lauschen darf.


Juan Llossas
J. L. und sein Tango Orchester
Membran Music

Wäre Juan Llossas ( geboren 1900) nicht als Jugendlicher von zuhause ausgerissen und als Blinder Passagier nach Südamerika gelangt, so hätten unsere Großeltern nicht zu Hits wie "O Fräulein Grete", "Samba Caramba" oder "Tango Mio" schwofen können. Der in Barcelona geborene Bigbandleader hatte keine Lust Kaufmann zu werden, lieber schon Musiker. Er lernte die verschiedenen lateinamerikanischen Rhythmen kennen und lieben, vor allem den Tango.

Zurück in Europa studierte er in Darmstadt Musik und ging von dort nach Berlin. Llossas schrieb erste eigene Tangos und gründete 1925 ein Orchester. Auch Dank der allgemeinen Beliebtheit lateinamerikanischer Musik in den 20er und 30er Jahren wurde er schnell zum "Tangokönig aus Barcelona".


Wobei das mit dem Tango nicht zu eng gesehen werden darf, das Orchester spielte auch Sambas, Rumbas oder was sonst gut ankam. Llossas Karriere setzte sich während des Krieges und danach beim britischen Militärsender BFN fort, bis er 1957 überraschend starb. Auf dieser Compilation finden sich in entsprechender Tonqualität Aufnahmen aus den Jahren 1930-1944; neben zuvor genannten Hits aus Llossas Feder auch international bekannte Titel wie "El Cumbanchero" und "Managua, Nicaragua". Besonders amüsant: "Zwei rote Lippen und ein roter Tarragona" und "Nachts am Kongo".

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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