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[art_4] Bolivien: Tourismus gegen Kokain
Der Stamm der Yuracaré und der Ökotourismus

Zwei Tage bei einem Indianerstamm im Amazonasgebiet Boliviens leben - das ist der Plan. Aber erst einmal müssen wir überhaupt zu den Yuracaré-Indianern gelangen, und das ist gar nicht so einfach. Die Reise beginnt morgens früh um 7 Uhr an einem Militärkontrollpunkt hinter dem Städtchen Villa Tunari im Zentrum des Landes. Indianische Frauen mit langen Zöpfen und bunten Bündeln warten auf eine Mitfahrgelegenheit, ein paar Hühner scharren im Dreck, ein Soldat schiebt seine Sonnenbrille zurecht.

Schließlich haben wir den Fahrpreis für ein erbärmlich klapperndes Taxi ausgehandelt, das uns über eine holprige, mit Flusssteinen gepflasterte Piste bis tief hinein in den Chapare, das Hauptanbaugebiet für bolivianisches Coca, bringt.


An vier Kontrollpunkten werfen gelangweilt dreinblickende Soldaten einen nachlässigen Blick in unser Gepäck - es könnte ja sein, dass wir Chemikalien dabei haben, die für die Kokainproduktion eingesetzt werden können. Die letzten Ausläufer der Anden verschwinden hinter sich hoch auftürmenden Wolkenbergen, der Dschungel links und rechts der Straße wird immer grüner und dichter. Die Luft ist feucht und heiß. Nach zwei Stunden erreichen wir das Örtchen San Gabriel, ein Kaff aus windschiefen Bretterbuden, auf deren Wellblechdächern große Satellitenschüsseln prangen. "Na ja", sagt der Fahrer augenzwinkernd, "Coca ist eben ein gutes Geschäft."

San Gabriel ist das letzte Dorf vor unserem Ziel, dem Nationalpark Isiboro, der zugleich den Yuracaré-Indianern als Siedlungsgebiet zugewiesen wurde. Eine Weile lang sieht es so aus, als würden wir gar nicht erst bis dorthin kommen. Der bestellte Fahrer ist nicht da, die Straße, so heißt es, sei weggespült. Aber wir finden schließlich den Besitzer eines noch klapprigeren Wagens, der uns doch noch zum Rio Isiboro bringt: über eine Schlammpiste, die der Fluss schon halb verschlungen hat, und über Brücken, die nicht mehr sind als zwei Bretter in Reifenbreite.

Holt uns der Taxifahrer übermorgen wieder ab?
In zerrissenen Shorts und T-Shirts stehen die Abgesandten der Yuracaré-Indianer am Wegesrand und warten auf die Gäste. Don Freddy sagt nicht viel, er schultert das Gepäck und läuft voran auf einem schmalen Pfad, der sich durch dichtes Unterholz bis an den Fluss schlängelt, wo ein Kanu für uns bereit steht. Wir stolpern hinterher und hoffen, dass sich der Taxifahrer daran erinnern wird, uns übermorgen wieder hier abzuholen.

Es ist Mittag, als wir schließlich die kleine Lagune im Nationalpark erreichen, an deren Ufer die Yuracaré-Indianer leben.


Die Hütten der zwölf Familien stehen auf Pfählen, über Leitern klettert man auf einen aus Blättern geflochtenen Zwischenboden, auf dem Schlafstätten eingerichtet sind. In der gesamten Konstruktion steckt kein einziger Nagel, die Querhölzer sind mit Lianen an den Stützpfeilern festgezurrt. Doña Marie Luz schuppt frisch gefangene Piranhas und brät sie für uns an Holzstecken über einem offenen Feuer.

Ihre Kinder schauen uns mit großen Augen an, ihr Mann Don Freddy versucht Konversation zu betreiben, indem er uns erzählt, dass sein fünfjähriger Sohn am Morgen beim Fischen unseres Mittagessens fast von einem Kaiman gefressen wurde. Irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, hier Eindringlinge zu sein, die in dem beschaulichen Dorfleben des Indianerstammes nichts verloren haben. Schließlich fasst sich Don Freddy ein Herz: "Wir sind noch nicht richtig daran gewohnt, Fremde hier zu haben, und wir wissen nicht so genau, was Ihr euch wünscht. Aber wir sind froh, dass ihr da seid, denn der Tourismus ist für uns die letzte Überlebenschance."

Cocafelder reißen riesige Wunden in den Dschungel
Bis vor einer Generation waren die Yuracaré-Indianer Jäger und Sammler, die von dem lebten, was der Urwald ihnen bot. Doch ihr Lebensraum wird immer kleiner, die Gebiete sind längst nicht mehr groß genug, um darin herumzuziehen. Der Stamm löst sich langsam auf, gerade mal 200 Familien leben noch in dem zugewiesenen Areal. Das Gebiet schrumpft zusehends, denn aus dem bitterarmen Hochland Boliviens ziehen immer mehr Siedler ins tropische Tiefland. Hier gedeiht der Cocastrauch - und der verspricht ein gutes Auskommen.

Auf der Suche nach Anbauflächen für das grüne Gold machen die Siedler weder vor Nationalparkgrenzen noch vor Gebietsansprüchen der Ureinwohner halt und roden den Regenwald.

Über Google Earth ist gut auszumachen, wie die Cocafelder Wunden in den Dschungel reißen. Die Yuracaré haben weder die Möglichkeit, die Siedler zurückzudrängen, noch eine Lobby in der Regierung.

"Wenn Touristen zu uns kommen, verschafft uns das eine Stimme, dann bekommen wir Aufmerksamkeit und können nicht mehr so einfach ignoriert werden", erklärt Don Freddy den Einstieg seines Stammes ins Reisegeschäft. "Außerdem kann unser Stamm so etwas Geld verdienen. Ohne Touristen bleibt uns nur, selber Wald zu roden um Coca anzubauen." Mit Hilfe einer deutsch-bolivianischen Initiative haben die Yuracaré deshalb ein Programm für Ökotouristen entworfen. Wanderungen durch den ursprünglichen Regenwald mit Erklärung der verschiedenen Pflanzen gehören dazu, ebenso nächtliche Kanufahrten zur Kaiman-Beobachtung.

Beim Aushöhlen eines Einbaums mithelfen
"Das Projekt will den Yuracaré mit dem Tourismus eine Alternative zum Coca-Anbau bieten und so zum Erhalt der Kultur dieses Stammes beitragen", sagt Bastian Müller. Der Münchner ist einer der Initiatoren des Ökotourismusprogramms. Damit es sich von den Touren anderer Anbieter abhebt, wird den Besuchern angeboten, am täglichen Leben der Dorfgemeinschaft teilzunehmen. Wer will, kann beim Aushöhlen eines Einbaums mithelfen, lernen, wie traditionelles Kunsthandwerk hergestellt wird, sich mit Pfeil und Bogen versuchen oder beim Fischen mit anpacken.

Übernachtet wird nicht in einer Lodge oder im Zelt, sondern in einer traditionellen Hütte, selbstredend ohne Strom, dafür mit nächtlichem Urwaldkonzert und garantiert ohne Straßenlärm.

Kaum dass sich die Nachtmoskitos verzogen haben, übernehmen kleine schwarze Stechfliegen die Tagesschicht. Inzwischen hat sich die Dorfgemeinschaft an uns gewöhnt.


Doña Marie Luz lacht darüber, dass wir uns mit Dschungelmilch einschmieren, sie will noch einmal die Postkarte mit dem Kölner Dom und die Familienfotos aus Deutschland sehen und wissen, was man in Deutschland so isst. Die Kinder schaukeln fröhlich in einer Hängematte und erklären uns, wie man ein Kanu lenkt, dass es nicht umkippt.

Das moderne Leben scheint unendlich weit weg zu sein - bis plötzlich von irgendwo in der Ferne das Knattern einer Motorsäge herüberklingt.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Links:
Informationen zum Yuracaré-Tourismusprojekt unter:
www.proyecto- yuracare.de

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.
Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
139 Seiten; broschiert
ISBN-10: 3896623648
ISBN-13: 978-3896623645
Verlag: Reise Know-How Verlag Hermann
2. Auflage (01.09.2009)