brasilien: Die guten alten Zeiten
Der ewig alte-neue Carnaval in Rio
THOMAS MILZ
[art. 1]
spanien: Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
brasilien: Geschichten eines brasilianischen Gringos
BILL HINCHBERGER
[art. 3]
spanien: Queralbs - Zwischen Mythos und Wirklichkeit
NIL THRABY
[art. 4]
filmprojekt: Die Session
ANNIKA ERIKSSON
[kol. 1]
macht laune: Die runde Revolution
Walter Casagrande und die "Democracia Corintiana"
THOMAS MILZ
[kol. 2]
grenzfall: Der Traum
ANDREAS DAUERER
[kol. 3]
lauschrausch: Sánchez vs. Übersee
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Die guten alten Zeiten - Der ewig alte-neue Carnaval in Rio

In Rio de Janeiro scheinen die Uhren seit Jahren still zu stehen. Die Kellner der in die Jahre gekommenen Restaurants der Copacabana tragen noch immer ihre 70er Jahre Uniformen, die so sehr nach Fußballweltmeisterschaft 1974 aussehen, und der gute alte Bossa Nova, der gerne aus den Lautsprechern diverser Bars dringt, schlägt die Brücke zurück in die goldenen 50er und beginnenden 60er Jahre, als die Welt noch in Ordnung, Brasilien eine aufstrebende Nation war und von einem anderen Weg in die Zukunft träumte. Dann kam die Militärdiktatur, danach die verlorenen 80er und dann die neoliberalen 90er Jahre mit ihren Privatisierungen all der staatlichen Gesellschaften, die man so zukunftsfroh in den 50ern gegründet hatte.


Rio hat immer noch diesen Vergangenheitsswing, durchbrochen nur durch die grauen Betonpfeiler der sich durch die Stadt schneidenden Hochautobahnen. Und genau an diesen Pfeilern sind jetzt zahlreiche Prunkwagen der Carnavalsgesellschaften auf ihrem Weg zum Sambódromo hängen geblieben. Auf der zum Busterminal Rio Novo führenden Avenia Brasil reihen sich Hunderte von Autobussen auf, die Fahrgäste recken ihre neugierigen Köpfe aus den Fenstern, um besser sehen zu können, warum es nicht weiter geht. Viele steigen aus und marschieren in einer endlosen Schlange im goldgleissenden Abendlicht der untergehenden Sonne ihrem Ziel entgegen.

Es ist Sonntag abend, kurz vor dem Beginn des ersten Tages des großen Aufmarsches der 14 besten Sambaschulen Rio de Janeiros. Schaulustige Touristen umringen die eingekeilten Prunkwagen, während kleine Jungs versuchen, ihnen die Kameras aus den Taschen zu stibitzen. Mitten auf einer breiten Avenida steht ein verlassener Wagen, gezogen von riesigen Pferden aus Pappmaché. Die lautlos in der Luft wirbelnden Hufe dem blauen Himmel entgegen gestreckt. Vielleicht wäre das das beste Bild des diesjährigen Carnavals geworden, doch wir sind in einem Bus eingeklemmt, der in unglaublicher Geschwindigkeit über die durchlöcherten Straßen dahinfliegt.


"Ich weiss, dass die Preise hoch sind, aber Carnaval ist die einzige Zeit des Jahres, in der wir wirklich ein bisschen Vorteil rausziehen können." Der portugiesische Hotelbesitzer guckt uns durch seine dicken Brillengläser an. Er versteht nicht, wieso zwei Leute zusammen in einem Einzelzimmer übernachten möchten. Und dafür natürlich nur den Preis für eine Person bezahlen wollen. "Ich bin der Hotelbesitzer, und ich dulde keinerlei Schweinereien in meinem Hotel!"

Noch einmal versuchen wir zu erklären, dass ich die Nacht im Sambódromo damit verbringen werde, hübsche Fotos zu schießen, während mein argentinischer Journalistenkollege in aller Ruhe schlafen wird. Morgens wechseln wir dann einfach - wozu also ein Doppelzimmer. "Hm hm…", raunt der potugiesische Hotelbesitzer hinter seiner dicken Brille in unsere Richtung.

Das Sambódromo vibriert bereits als ich um kurz nach 21 Uhr eintreffe. Der Kollege aus Argentinien hat sich mit seinem Journalistenausweis kostenlosen Zugang zur Haupttribüne verschafft, wo Hausfrauen mittleren Alters sich nach jeder Sambaschule die Abzeichen und Fähnchen der nächsten Gruppe anheften und wild zu den Klängen der bateria, der Rhythmusgruppe der Sambaschule, herumwippen.

Währenddessen treffe ich auf die gleichen Figuren, die schon letztes Jahr im Sambódromo anwesend waren. Nur die Kostüme unterscheiden sich, und der eine oder die andere ist vielleicht etwas dicker oder dünner als letztes Jahr, aber ansonsten scheint alles gleich. Auch der letztjährige Regen setzt wieder ein und durchnässt alle bis auf die Haut.

Ich sehe TV Globo Star Juliana Paes durch die hinteren Bereiche des Sambódromo hetzen, und mache mich mit meiner Kamera auf in ihre Richtung. Eine wilde Horde nationaler und internationaler Medienberichterstatter setzt mir nach, doch ich bin schneller und habe schon die ersten guten Bilder geschossen, bevor sich der Kreis verrückter Kameraleute und wild drängelnder TV Globo Kabelträger um mich schließt, um mich 20 Minuten später wieder auszuspucken. Die ganze Zeit liege ich unfreiwilliger aber nicht unangenehmer Weise Juliana zu Füßen, während alle anderen in meinem Rücken versuchen, mich beiseite zu schieben. Die ganze Zeit steht Juliana mit geschlossenen Augen da, geht noch einmal in sich, bevor sie die mit 120.000 Menschen gefüllte Arena betritt.


Ähnlich ergeht es mir bei Naomi Campbells Auftritt, und wieder bin ich der erste, der sie sieht und genug Zeit hat, sie zu fotografieren. In dem allgemeinen Trubel um Naomi verstrickt sich die traditionsreiche Portela-Sambaschule in so ein Chaos, dass es schließlich unmöglich wird, das Ganze in ein geordnetes Desfile zu retten. So fährt irrtümlicher Weise Wagen Nummer drei als erster in die Arena ein und muss an der Seite geparkt werden, von wo man ihn dann später kaum mehr weg bekommt. Ungünstig wirkt sich auch die Entscheidung der gerade erst neu ins Amt berufenen Direktion der Portela aus, dieses mal mit doppelt so vielen Desfilanten ins Sambódromo einzuziehen wie sonst. Als dann auch noch drei Wagen hintereinander den Geist aufgeben und die 80 Minuten Zeitlimit für die ganze Veranstaltung nahezu abgelaufen sind, beschließt man, einfach die Tore des Sambódromo zu schließen und den Rest der Schule draußen stehen zu lassen.

So geschieht es zum ersten mal in der Geschichte des Carnavals von Rio, dass die Velha Guarda, die Riege der großen alten Veteranen der Schule, nicht in die Avenida gelassen wird. Unter Tränen geben sie verzweifelte Interviews, während Feuerwehrleue versuchen, die gebrechlichen Veteranen von dem liegen gebliebenen Prunkwagen herunter zu hieven. "Selbst als meine Eltern gestorben sind, habe ich es nicht versäumt, für meine Sambaschule in die Avenida zu gehen. Und jetzt das…."

"Das Problem war wohl, dass die Portela bei ihrem Auftritt von den Vereinten Nationen unterstützt wurde - wir wissen ja, dass alles, was die UNO anfasst, in die Hose geht", spottet der Kollege aus Argentinien später, bevor ihm am zweiten Abend das Lachen vergeht. Nach 15 Minuten auf der Haupttribüne muss er feststellen, dass man seine Digitalkamera gestohlen hat. "Die habe ich mir gerade erst neu gekauft, da mir meine alte in Berlin geklaut wurde…".

Dafür empfängt uns unser Hotelwirt überaus freundlich und teilt uns ein gerade frei gewordenes Doppelzimmer zu, "natürlich zum Preis eines Einzelzimmers, versteht sich…" Wir verstehen es zwar nicht wirklich, nehmen das Angebot aber dankend an und beziehen das mit rotem Kunstleder aus den frühen 80er Jahren ausgestattete Zimmer. Auf Rios Straßen ist derweil kaum etwas von Carnaval zu sehen, bis auf die bunt geschmückten Gestalten, die die ganze Nacht hindurch mit der U-Bahn zum Sambódromo fahren, um dort ihre 80 Minuten puren Glücks zu erleben.


Trotz ihres vollkommen misslungenen Auftritts muss die Portela nicht wie befürchtet in die zweite Liga von Rios Sambaschulen absteigen. Erstaunlicher Weise bekommt die "Tradição" noch weniger Punkte und verabschiedet sich mit ihrem wenig ergreifenden Samba über chinesische Sojafelder von der Bühne. Die Velha Guarda der Portela hat dann auch noch ihren Auftritt und darf beim Desfile der sechs besten Sambaschulen beim diesjährigen Sieger Beija-Flor mitfahren. Es gibt also doch noch Happy Ends auf dieser Welt.

Wir lassen uns noch eine morgendliche Kokosnuss von einem in 70er Jahre-Leinen gewandeten Kellner servieren. Die Sonne hüllt die 50er Jahre Schuhkartonhäuser der Copacabana in wohlwollendes Licht, und irgendwie fehlt jetzt nur noch Chico Buarque, der mit seinem jugendlich-verschmitzten Lächeln und schwarzem Rollkragenpulli mit seiner Gitarre unterm Arm um die Ecke biegt. Vielleicht kuschelt er aber gerade ganz ausgelassen mit der Garota de Ipanema. Etwa so wie die blonden Touristen am Nachbartisch, die vielsagende Blicke mit den braungebrannten Schönheiten Rio de Janeiros austauschen.

Manche Dinge ändern sich nie. Zum Glück!

Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_2] Spanien: Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"

1. Tod am Nachmittag

Du starbst als mein Erlöser
Und ich war Dein Träger,
Ich trug Dich auf dem Altar,
Du hast das Kreuz getragen,
Und beide sind wir aus Liebe gestorben.
(José Portal Navarro, Gestorben: 26. März 1986)


So etwa lautet die Übersetzung einer Gedenktafel am Alfalfa-Platz in Sevilla. Viele Menschen laufen gedankenlos an ihr vorbei und wenn ein Besucher stehen bleibt und die Widmung liest, weiß er oft nicht, worauf sich dieser Text bezieht. Vor 19 Jahren, am "Heiligen Mittwoch" der Karwoche 1986, erlitt genau an dieser Stelle José Portal Navarro, einer der 29 Träger (Costaleros) unter der Last der Altarbühne (Paso) des Christus von San Bernardo während der Prozession einen tödlichen Herzinfarkt. Er wollte gerade mit seiner Mannschaft diesen Altar, der knapp zwei Tonnen wiegt, erneut anheben, als es passierte. Es ist möglich, dass sein Todeskampf nicht sofort bemerkt wurde, denn unter dem Paso stehen die Träger so dicht, dass er nicht stürzen konnte. Und es herrscht völlige Dunkelheit. Denn die Träger sind hinter dicken Samtvorhängen verborgen, damit für das Publikum die Illusion gewahrt bleibt, die Altarbühne bewege sich wie von selbst. Die Träger sehen also weder, was unter dem Paso geschieht, noch wohin sie gehen - sie werden vom Capataz, dem Lenker des Paso, dirigiert. Als man den Todgeweihten endlich unter dem Paso hervorzog, war es wahrscheinlich schon zu spät. Denn wer Sevilla kennt, weiß, dass in den engen Altstadtgassen und bei den Menschenmengen, die sich zur Zeit der Karwochen-Prozessionen dort drängen, für einen Notarztwagen kaum ein Durchkommen ist. Mehrere als "Nazarenos" Verkleidete aus der Prozession und ein Arzt aus dem Publikum trugen den Sterbenden bis zur nächsten Avenida, doch er starb, bevor man das Krankenhaus erreichte. Die Gedenktafel ist also diesem Helden der Bruderschaft San Bernardo gewidmet, der aus dem Leben schied, während er seinen Christus trug.

23. März 2005 um 15.00 Uhr in der Calle Gallinato: Wir wollen heute die Prozession von San Bernardo nicht auf der Plaza de la Alfalfa erwarten, sondern sind in die Nähe der Kirche gegangen, aus der sie kommt. Es empfiehlt sich, die Prozession in ihrem Stadtviertel zu sehen, da die Stimmung hier an Euphorie kaum zu übertreffen ist. Wir treffen gerade noch rechtzeitig ein. Von irgendwo findet ein trauriges Trompetensolo seinen Weg durch die Frühlingsluft und schon sieht man am Ende der engen Gasse ein goldenes Glitzern. Erstaunlich schnell biegt nun der tonnenschwere Paso mit dem gekreuzigten Christus um die Ecke. Als er aus dem Schatten kommt und Sonnenlicht auf ihn fällt, erstrahlt die ganze Altarbühne in einem Goldglanz, der die Augen blendet. Um diesen Effekt noch zu untermalen, setzt das ganze Orchester mit schmetternden Trompetenfanfaren ein. Nun weiß auch der Letzte im Viertel, dass es Zeit ist, ans Fenster zu treten, um das sakrale Spektakel zu betrachten. Der Paso nähert sich schwankend im Rhythmus der Musik. Da er fast die ganze Breite der Gasse ausfüllt, sieht es aus, als ob er die Zuschauer vor sich her schiebt. Endlich wird er zum Stehen gebracht. Gebannt richten sich alle Augen nach oben, wo am Kreuz der "Christus des Heils", so sein offizieller Name, leidet. Es ist eine Statue von klassischer Schönheit, ein Meisterwerk des Barockbildhauers Andrés Cansino von 1669. Die weit ausgebreiteten Arme des toten Erlösers vor dem blauen Himmel ergeben ein dramatisches Bild. Obwohl diese Skulptur mit ihrem Realismus in allen anatomischen Details die Menschlichkeit dieses Leichnams aus Holz vorführt, geht doch eine geheimnisvoll überirdische Macht von ihr aus. Das laute Stimmengewirr wird zum Flüstern, und als mein Blick von der Statue auf die Zuschauer gleitet, stehen viele starr, mit entrücktem Blick meditierend. Es ist, als ob diese Skulptur aus Zedernholz für die Betrachter nicht nur ein Symbol, sondern wirklich Christus der Erlöser sei. Heilskonkretismus - mit diesem kalten Begriff würden Theologen dieses Verhalten definieren. Doch damit können sie nicht die Magie dieses Augenblicks erfassen, vor dieser barocken Bildgewalt wird jedes Wort klein und glanzlos...

Mit einem heftigen Ruck heben jetzt die Träger die goldstrahlende Bühne wieder an, wobei die meterhohen, filigranen Kerzenleuchter zittern, als ob sie im nächsten Moment abbrechen würden. Begleitet von Trommelwirbeln, scheint der Paso über dem wogenden Menschenstrom zu schweben.

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Die Augen des ganzen Viertels schauen ihm nach. Es ist der wichtigste Tag des Jahres für San Bernardo, das einzige Altstadtviertel Sevillas, das "Extramuros" liegt, denn jede Familie ist in der Bruderschaft, die 1748 gegründet wurde und über 4.000 Mitglieder hat, vertreten. Die Hälfte von ihnen geht mit in Sevillas drittgrößter Prozession, die immer mehr zu einem Identitätsmerkmal dieses vernachlässigten Stadtbezirks geworden ist. Denn Spekulantentum, der Abriss ruinöser Prachtbauten sowie gesichtslose Neubauten haben dem Viertel übel mitgespielt und viele Bewohner mussten San Bernardo verlassen, weil sie die teuren Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Doch am"Heiligen Mittwoch" kehren alle zurück, verwandeln sich für die Prozession in "Nazarenos" und legen das violette Gewand und die schwarze, unheimlich wirkende Kapuzenmaske an, um den Christus des Heils oder die Jungfrau der Zuflucht zu begleiten. Die Madonna, die diesen viel versprechenden Namen trägt und mit ihrem Paso die Prozession beschließt, wird gerade in die Gasse hereingetragen, die zum Nadelöhr wird. Gendarmen müssen die Flut der Zuschauer wie eine Welle vor sich herschieben, um dem Paso einen Weg zu bahnen. Denn viele wollen der Madonna mit dem dunklen Gesicht, eine der schönsten Sevillas, nahe sein, möglichst die Silberstäbe ihres Baldachins berühren - das soll Glück bringen. Und so setzt die Virgen del Refugio, dicht bedrängt von der glühenden Verehrung ihres Volkes, einer Schönheitsgöttin der Antike gleich, ihren Triumphzug Richtung Kathedrale fort.

17.00 in der Calle Santiago: Eine endlose Doppelreihe von Nazarenos mit schwarzen Tunikas und weißen Umhängen defiliert durch die Straße Santiago nahe der historischen Stadtgrenze. Diese Prozession der Bruderschaft La Sed, die erst 1969 gegründet wurde, hat einen unglaublich weiten Weg zurück zu legen. Ihre Kirche liegt in der Neustadt, noch hinter dem Fußballstadion. Dementsprechend bewunderswert ist der Enthusiasmus der Beteiligten, die15 Stunden unterwegs sind: Start 12.00 mittags, Rückkehr zur Kirche um 3.00 nachts. Nicht nur die lange Zeit wird dabei zum Problem, sondern auch Temperaturunterschiede: oft von über 30° Grad tagsüber bis 10° Grad in der Nacht. Besonders die Costaleros, die den Cristo de la Sed (Christus des Durstes) tragen müssen, sind nicht zu beneiden - allerdings verfügen sie über mehrere Mannschaften, die sich beim Tragen abwechseln. Seinen seltsamen Namen erhielt diese Statue, weil es sich um einen "sprechenden Christus" handelt. Im Gegensatz zum Christus von San Bernardo, der als Toter dargestellt ist, schmückt dieser hier noch lebend das Kreuz - und mit geöffnetem Mund, als ob er zu den Betrachtern sprechen würde. Die Bruderschaft hat sich entschieden, dass er den fünften der sieben Sätze, die Christus am Kreuz sagte, ausspricht: "Ich habe Durst" (Tengo Sed).

2. Ein Engel wird zur Jungfrau
21.00 in der Calle San Vicente: Überraschend schnell ist die Nacht hereingebrochen und an den Palästen und Häusern des aristokratischen Stadtviertels San Vicente leuchten die alten Laternen auf.

Eine würdige Kulisse für die feierliche Prozession der "Siete Palabras" - der Bruderschaft der Sieben Worte Jesu, die bereits im 16. Jahrhundert gegründet wurde. Wie Nachtgespenster nähern sich die weiß gekleideten Nazarenos durch die dunkle Gasse und lautlos schiebt sich - immer heller glitzernd - der silberne Paso des Kreuz tragenden Christus heran.

Sein Kreuz wirft einen bizarr vergrößerten Schatten auf die Wände der Häuser. Die Christusstatue im violetten Gewand ist ein Werk von Felipe de Ribas (1641) und mit ihrer gebückten Haltung und anderen Details ein gutes Beispiel für den Naturalismus des Sevillaner Barocks.

Leider wird dieser Paso viel zu schnell vorbei getragen. Aber diese Prozession ist die einzige am Mittwoch der Karwoche, die sogar drei Pasos aufbietet. So biegt bereits die nächste Altarbühne um die Ecke. Die Passionsszene mit dem schönen mystischen Namen "Siete Palabras" zeigt Christus, wie er an seine Mutter Maria und an den heiligen Johannes folgende Worte richtet: "Frau, siehe Dein Sohn... und Du sieh Deine Mutter..." Damit fordert er Maria und Johannes auf, nach seinem Tod wie Mutter und Sohn zusammen zu bleiben.

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Nach etwa weiteren hundert Nazarenos zieht auch der dritte Paso an uns vorbei: die schmerzensreiche Jungfrau unter einem Baldachin aus massivem Silber. Meine deutsche Begleiterin kommentiert spontan: "Diese Madonna sieht irgendwie komisch aus." Recht hat sie. Wenn den Zuschauern diese Jungfrau sonderbar vorkommt, so liegt das daran, dass sie früher ein "Mann" war. Geschaffen wurde sie im 19. Jahrhundert eigentlich als Engel, bevor der Bildhauer Manuel Escamilla, da die Bruderschaft dringend eine Madonna brauchte, diesen Engel einfach zur Jungfrau ummodellierte. Die Schönste ist sie nicht geworden. Vor zwei Jahren gab es in der Bruderschaft der Sieben Worte eine Kampfabstimmung, ob diese Madonna nun durch eine neue und schönere ersetzt werden sollte. Dies wurde jedoch mit knapper Mehrheit abgelehnt und so wird diese Engelsmadonna weiter an jedem Heiligem Mittwoch durch die Straßen getragen.

3. Das Kreuz im Weihrauchnebel
22.00 in der engen Gasse mit dem kuriosen Namen "Cuna" (Wiege). Jeweils eine Reihe Zuschauer drückt sich eng an die Wände der Häuser - mehr Platz steht nicht zur Verfügung, denn schon erscheinen Nazarenos in braunen Gewändern, die Franziskanerkutten ähneln, mit dem Leitkreuz ihrer Prozession. Die Bruderschaft des "Cristo del Buen Fin" (Christus des guten Endes), ursprünglich 1593 von der Zunft der Gerber gegründet, stand immer unter dem Einfluss der Franziskaner und hat ihren Sitz bis heute im Kloster dieses Ordens. Diszipliniert schreiten die beiden Reihen der Nazarenos voran und halten dabei die Kerzen so, dass sie sich kreuzen. Ein unheimliches Bild, wie diese finsteren Boten der Ewigkeit unerbittlich vorrücken und die Gasse in Besitz nehmen. Durchdringende Trompeten erklingen - da taucht am Ende der Gasse der düsteren Kapuzenmänner der golden leuchtende Paso auf mit hoch geschwungenen Kerzenleuchtern.

Sofort bevölkern sich Balkone und Zuschauer drängen sich hinter jedem Fenster bis in die obersten Stockwerke, Omas stellen ihre Sherrygläser ab, Kinder werden hoch gehoben, damit sie den nahenden Paso besser sehen können. Zwischen den sehr hohen Leuchtern, auf einem Hügel roter Nelken erhebt sich der gekreuzigte Christus des Guten Endes, eine beeindruckende Skulptur des Barockbildhauers Sebastián Rodríguez von 1645. Dichte Weihrauchschwaden treiben vor ihm her, während er, begleitet von donnernden Posaunen, immer näher rückt. Genau vor uns wird der Paso angehalten - so dicht, dass uns die Costaleros auf die Füße treten.

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Das goldene Schnitzwerk, die aufgetürmten Nelken, alles zum Greifen nah. Jemand zwängt sich an uns vorbei, um den Trägern dort unten Wasser zu reichen, für einen Moment werden die Samtvorhänge weggeschoben und Arme strecken sich aus dem Dunkel nach dem Wasserkrug. Schräg über uns scheint der Gekreuzigte sich nach unten zu neigen. Die Gespräche sind verstummt, tiefes Schweigen umgibt das Kreuz. Auch das Publikum auf den Balkonen verharrt ergriffen und reglos, wie eine Konstellation von Statuen. Nur ein kleiner Junge, festgehalten von seinem Vater, versucht, vom Balkon aus das Kreuz zu berühren, doch es gelingt ihm nicht. Jetzt wird der Paso wieder emporgehoben und zieht weiter, verliert sich schemenhaft im Weihrauchnebel und Wolken bedecken den Vollmond.

4. La Lanzada - Eine Lanze brechen für die Gotik
23.00 an der gleichen Stelle in der Calle Cuna. Die Nacht ist vorgedrungen und im Licht der Laternen huschen Nazarenos mit cremeweißen Tunikas und purpurroten Kapuzen vorbei. Sie gehören zur 1596 gegründeten, aristokratischen Bruderschaft "La Lanzada", deren Prozession direkt auf "El Buen Fin" folgt. Dramatisch hallende Trommelwirbel und Trompeten kündigen bereits den ersten Paso an. Am Ende der Gasse ein entferntes Glitzern, das langsam näher kommt und sich in einzelnen Lichtpunkten auflöst. Es ist die größte Altarbühne des Tages, ein monumentaler Paso de Misterio.

Infokasten: Typen von Pasos bei der Semana Santa
Paso de Cristo: Auf diesem ist Christus allein zu sehen, entweder das Kreuz tragend (dann "Nazareno" genannt) oder als Gekreuzigter

Paso de Palio: Auf diesem steht die Jungfrau Maria allein (oder in Begleitung des heiligen Johannes) unter einem reich verzierten Baldachin (Palio = Baldachin)

Paso de Misterio: Auf diesem ist stets eine Gruppe von mehreren Skulpturen zu sehen, die eine Szene des Kreuzweges Christi darstellen, z.B. seine Gefangennahme, das Verhör vor Pilatus oder Herodes oder die hier präsentierte Szene des Lanzenstichs.

Im Rhythmus der Trommelwirbel schwankt dieses kleine Gebirge aus Goldglanz und flackernden Lichtern, das beinahe die ganze Breite der Gasse ausfüllt. Und man könnte annehmen, dass dies beim Wachsen und Werden dieser Stadt tatsächlich der Maßstab war: eine Gasse in der Altstadt Sevillas muss gerade so breit sein, dass ein Paso der Semana Santa hindurch passt, ohne mit Laternen oder Balkonen zu kollidieren. Dieser Misterio von La Lanzada ist nicht nur durch seine Größe außergewöhnlich, sondern auch durch seinen Stil. Im barocken Sevilla ist ein so konsequent (neo)gotisch gestylter Paso die Ausnahme. Leider wird er jetzt schnell vorbei getragen und erst 30 Meter hinter uns angehalten. Wir müssen uns an den Zuschauerreihen entlang drängen, um ihn zu betrachten. Das Schönste an der vergoldeten Altarbühne sind die filigranen, gotischen Kuppeltürme und die Engelsfiguren. Die Passionszene des Lanzenstichs, die dort oben dargestellt wird, ist hoch dramatisch: der Schmerz der Jungfrau angesichts des leblosen Leibs Christi am Kreuz, die Tränen des heiligen Johannes, der den Tod seines Freundes betrauert, und die aggressive Muskelanspannung des römischen Legionärs Longinos im Moment des Lanzenstichs - und im Kontrast dazu das gläubige Staunen in seinem Gesicht, als er das Blut sieht, das aus der Wunde des toten Jesus rinnt. Die harmonische Komposition dieser Szene ist beeindruckend, vor allem wenn man bedenkt, dass hier sieben Skulpturen aus vier verschiedenen Jahrhunderten zusammen geführt wurden: vom weinenden San Juan aus der Werkstatt von Pedro Roldán (Ende 17. Jahrhundert) bis zum Römer mit Pferd vom neuen Star der Sevillaner Bildhauerszene, José Antonio Navarro Arteaga (2000).

Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung stemmen die Costaleros die ganze Kreuzwegszene in die Höhe und schleppen ihre gut drei Tonnen schwere heilige Last weiter. Da nähert sich vom anderen Ende der Calle Cuna schon der Palio mit gotisch designtem Baldachin. Der Capataz läßt den Paso direkt vor uns absetzen. Das Gemurmel verstummt, wie hypnotisiert blicken die Zuschauer auf das hübsche Gesicht der Madonna unter der Sternenkrone. Unruhig flackern die Kerzen im Nachtwind und malen tanzende Schatten auf das Rot des Baldachins.

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Ein kleines, vielleicht dreijähriges, Mädchen mit schwarzen Zöpfen schaut vorwitzig unter den Paso, wo einer der Träger den Vorhang ein Stück beiseite schiebt. Erschreckt weicht die Kleine zurück, als der Costalero sein verschwitztes Gesicht aus der dunklen Unterwelt des Paso herausstreckt. Er lächelt sie an und legt dann den Zeigefinger auf den Mund - die Stille dieses Moments soll gewahrt bleiben. Nach ein paar Sekunden des Zweifels - soll sie nun doch schreien oder nicht? - lächelt das Mädchen zurück. Und wir sind sicher: dieser starke, dunkelhäutige Costalero mit dem hübschen Lächeln wird das erste Idol in ihrem Leben und sie wird diesen Augenblick nie vergessen. Doch dann reißt die Mutter sie aus ihren Träumen, nimmt sie auf den Arm, damit sie die Madonna besser betrachten kann.

5. Das programmierte Wunder
Kurz vor Mitternacht vor dem Postigo-Stadttor im Viertel El Arenal. Eine dicht gedrängte Menge, in der ein paar Ungeduldige hin und her schubsen, wartet auf den Höhepunkt, die schönste Szene des "Heiligen Mittwoch". Die Prozession der 1693 gegründeten und noch heute sehr populären Bruderschaft "El Baratillo" hat Verspätung. Der Name, reichlich unfromm, bedeutet soviel wie Trödelmarkt. Im 16. Jahrhundert, der Epoche des Sevillaner Wirtschaftswunders, war in diesem Stadtviertel der Hafen angesiedelt und daneben etablierte sich ein großer Markt, auf dem die Schätze aus Amerika gehandelt wurden. Und im Schatten des großen gab es bald einen kleinen Markt, auf dem auch billige oder gefälschte Waren angeboten wurden und dort entstand die Kapelle, in der die Bruderschaft gegründet wurde. Sie liegt direkt neben der Stierkampfarena, weshalb viele Sevillaner sie scherzhaft "Bruderschaft der Toreros" nennen.

Die Doppelreihe der lichtblau gewandeten Nazarenos hat Mühe, sich einen Weg durch die Zuschauer zu bahnen. Blasmusik und eine Welle von Applaus kündigen den lang erwarteten Paso der Piedad an. Erstaunlich schnell und wie von unsichtbaren Lotsen gezogen, gleitet er einer goldenen Barke gleich über das Meer aus menschlichen Körpern. Hoch auf dem Hügel roter Nelken, umrahmt von verschnörkelten Laternen, thront die wunderschöne Pietà.

Diese Passionsszene mit Maria, die den toten Körper ihres Sohnes im Schoß hält, ist eine der ergreifendsten Darstellungen der Semana Santa in Sevilla - und von erstaunlicher Harmonie, denn die Skulpturen von Maria und Christus stammen von zwei verschiedenen Bildhauern. Die Jungfrau ist ein Werk von Fernández Andes (1945), während die Christusstatue fünf Jahre später von Ortega Bru, dem wichtigsten Sevillaner Bildhauer des 20. Jahrhunderts, geschaffen wurde.

Inzwischen ist der Paso nur wenige Meter entfernt, direkt vor dem Bogen des Postigo-Stadttors abgesetzt worden. Die Plätze vor, hinter und unter dem Torbogen gehören zu den begehrtesten während der Karwochen-Prozessionen. Viele Zuschauer postieren sich schon mehr als eine Stunde vor der Prozession dort, lange bevor das Geschiebe um die Plätze im Innern des Tores beginnt. Dort kann wegen der Enge des Raums nur eine Zuschauerreihe rechts und links stehen. Leider ist durch die vielen überfüllten Bars hier im Arenal-Viertel der Geräuschpegel beträchtlich. Obwohl immer wieder jemand zur Ruhe mahnt und ein Zischen durchs Publikum geht, lässt sich sakrale Stille beim Anblick der Piedad nicht erreichen. Trotzdem versuchen wir, uns ganz auf Meditation zu konzentrieren, Eindrücke in der Erinnerung festzuhalten: das leise im Nachtwind wehende, strahlendweiße Leichentuch Christi, das vom leeren Kreuz herunter hängt, das tief traurige Gesicht der Madonna mit vor Schmerz gekrümmten Augenbrauen, der dahin gegossene Körper des Erlösers im Todesschlaf, schön und sehr realistisch modelliert in seinen anatomischen Details. Die in der Leichenstarre bizarr gekrümmten Hände greifen ins Leere, zu seinen Füßen liegen die Dornenkrone und eine Rose.

Da schwingt sich plötzlich eine weiße Taube flatternd in den Nachthimmel, die direkt aus dem Mantel der Madonna heraus zu fliegen scheint. "Ein Wunder!", murmelt meine deutsche Begleiterin aufgeregt.

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Ich beschließe, sie in diesem Glauben zu lassen und sie nicht darüber aufzuklären, dass dieses Wunder ein "programmiertes" ist. Denn jedes Jahr entlässt die Bruderschaft El Baratillo an dieser Stelle, unmittelbar bevor die Pietà den Torbogen unterquert, eine Taube als Friedenssymbol aus dem blauen Mantel in die Freiheit.

6. Vollmondnacht der Todesschatten
1.00 nachts auf der Plaza Cristo de Burgos. Eine große, aber erstaunlich stille Menschenmenge wartet auf dem Platz im Herzen der Sevillaner Altstadt. Wie viele mögen es sein: 500, 1000 oder 2000? Sie sind nicht zu zählen, denn es ist absolut finster hier, die Gesichter ringsum kaum zu erkennen. Die Straßenbeleuchtung wurde vor dem Eintreffen der Prozession ausgeschaltet. So erwartet das Publikum im Dunkeln die kleinste Prozession des Tages - den feierlichen Trauerzug der 1888 gegründeten Bruderschaft Cristo de Burgos. Sie wird hier in ihre Heimatkirche San Pedro zurückkehren, die am anderen Ende des Platzes liegt. Ich blicke zum Himmel, der noch immer bewölkt ist. Die Äste der riesigen, Jahrhunderte alten Ficusbäume scheinen über uns wie Fangarme in die Nacht zu greifen.

Da - plötzlich ein silbern glänzendes Kreuz, das wie von selbst durch die Finsternis zu schweben scheint. Das Gemurmel in der Menge verstummt, und wie schlafwandelnde Schatten huschen die schwarz vermummten Nazarenos vorbei. Unruhig flackernde Kerzen beleuchten für ein paar Sekunden einzelne Gesichter in den Reihen der Zuschauer, bevor die Dunkelheit sie wieder verschluckt. Für einen Moment lässt eine Kerzenflamme die Augen eines Nazarenos hinter dem Schwarz aufleuchten - der einzige Teil seines Gesichts, der nicht von der Maske bedeckt wird. Wie mögen sie die Welt wahrnehmen, wenn sie aus der Anonymität ihrer Dunkelheit heraus in erwartungsvolle Gesichter blicken? Oder sind sie schon zu müde, um auf das Publikum rechts und links zu achten? Und wie wird das Ganze von oben, von den Logenplätzen der Balkone, aussehen? Eine dunkle Masse, in der man nur durch die Lichtpunkte der Kerzen die Nazarenos von den Zuschauern unterscheiden kann.

Klänge von Oboen und Fagott durchdringen das flüsternde Stimmengewirr. Die schwarzen Schatten bilden eine Gasse - an ihrem Ende erscheint der Paso, in dessen Mitte - auch er nur ein düsterer Schatten - sich der gekreuzigte Cristo de Burgos erhebt. Da ziehen sich plötzlich, wie von einem überirdischen Regisseur dirigiert, die Wolken zurück und das bleiche Licht des Vollmonds gleitet über Platz. Ein erstauntes Raunen geht durch die Menge. Durch das Mondlicht erscheinen die Schatten der Nazarenos violett und der Körper des Gekreuzigten, dem vorher nur vier Grabesleuchten trübes Licht spendeten, wird deutlich erkennbar. Den gewohnten Prunk des Sevillaner Barocks sucht man hier vergebens: kein Goldglanz, keine geflügelten Putten - nichts mildert die asketische Strenge.

Nur das Kreuz - inmitten eines Hügels aus blutroten Nelken erhebt es sich in der Einsamkeit der Vollmondnacht. Und einsam erscheint der leblose Körper des Cristo de Burgos, 1573 vom Gründer der Sevillaner Bildhauerschule, Bautista Vázquez, geschaffen.

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Die Sevillaner verehren diese zweitälteste Statue ihrer Karwoche sehr. Dieser gekrümmte Körper mit aufgeschlagenen Knien und auf die Brust gesunkenem Kopf ist ein naturalistisches Symbolbild menschlichen Leidens.

In diesem Moment werden die ersten Töne einer Saeta angestimmt - jenes in Flamenco-Manier gesungenen Klage-Gebets - vorgetragen von einer jungen Frau ganz in Schwarz, die sich über einen Balkon lehnt und beim Singen wild mit den Händen gestikuliert. Fast krampfartig scheint sie mit heiserer Stimme die langgezogenen Töne herausringen zu müssen. Dabei wechselt sie kunstvoll zwischen beängstigend leisen und durchdringend lauten Tönen und es gelingt ihr mühelos, ohne Mikrophon den ganzen Platz zu beherrschen. Abrupt beendet die dunkle Klagegöttin ihre Flamenco-Arie und verlässt fluchtartig den Balkon, denn für eine Saeta sollte man keinen Applaus erwarten. Als dieser sich dennoch zaghaft andeutet, wird er sofort durch ein zur Ruhe mahnendes Zischen erstickt, denn schon begleitet eine weitere Saeta, diesmal von einem älteren Mann gesungen, den Christus auf seinem Weg zum bereits geöffneten Kirchenportal. Und obwohl der Sänger seinen Vortrag noch nicht beendet hat, beginnt ein paar Balkone weiter schon der nächste und sogar noch ein vierter Saeta-Sänger sein Werk. Ein ganzes Festival von Klagegesängen für den einsamen Cristo de Burgos, den nicht einmal ein Engel begleitet, wie es in einem der Texte heißt. Langsam verschwindet er jetzt im Portal von San Pedro, als sich die Aufmerksamkeit wieder dem anderen Ende des Platzes zuwendet, wo endlich als Lichtgestalt in all der Düsternis die Virgen de la Palma erscheint.

Zu den Klängen des Trauermarschs "Madrugá" (Morgendämmerung) nähert sie sich mit ihrer Kerzenpyramide unter rotgoldenem Baldachin.

Man spürt eine Erleichterung im Publikum, das aufzuatmen scheint, nachdem es beim Vorbeiziehen des Gekreuzigten den Atem anhielt. Die Madonna hat den tränenerfüllten Blick gen Himmel gerichtet und auch zu ihren Ehren wird von jedem zweiten Balkon aus eine Saeta angestimmt.

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7. Die Madonna der Bäcker
Fast 3.00 nachts in der Calle Orfila. Zum Schluss darf nochmal richtig gefeiert werden an diesem Tag der Kontraste. Eine große Ansammlung von Zuschauern, darunter besonders viele Jugendliche, verfolgt mit Begeisterung die Prozession der populären Bruderschaft der Bäcker - Los Panaderos - die schon im 16. Jahrhundert gegründet wurde. Hier ist nichts vom asketischen Ernst des Cristo de Burgos zu spüren und es geht auch nicht sehr diszipliniert zu. Die Doppelreihe der Nazarenos, die nicht unwesentlich Verspätung hat, ist weit auseinander gerissen, oft bunt gemischt mit dem Publikum. Man sieht sogar Nazarenos (oder Nazarenas?), die mit einem Zuschauer Händchen halten oder - was nun wirklich verboten ist! - kurz die Kapuzenmaske anheben für einen flüchtigen Kuss.

Die Bruderschaft der Panaderos gehört zu den liberalsten in Sevilla, wofür auch die Tatsache spricht, dass in ihrer Prozession prozentual mehr weibliche Nazarenos mitgehen als in jeder anderen. Endlich gerät wieder Bewegung in die Reihen und pathetische Musik kündigt den letzten Paso an. Alles fiebert der beliebtesten Madonna des Tages entgegen, der Virgen de Regla. Schon biegt sie um die Ecke und eine leuchtende Wolke von Rosenblättern regnet von den Balkonen auf sie herab. Ihr Baldachin gehört zu den prächtigsten in Sevilla. Er wurde in der Manufaktur von Esperanza Caro 1930 aus blutrotem Samt mit filigraner Goldstickerei angefertigt. Auch die schöne Jungfrau selbst ist das Werk einer Frau: Luisa Roldán ("La Roldana"), Spaniens berühmteste Barockbildhauerin, schuf sie in der Sevillaner Werkstatt ihres Vaters gegen Ende des 17. Jahrhunderts.

Über bizarr herunter gebrannte Wachskerzen hinweg schaut die Virgen de Regla als lichtbringende Hoffnungsträgerin auf ihr Volk und nimmt lächelnd alle Verehrung entgegen. Jeder will den Paso noch ein letztes Mal berühren. Dann lassen die Träger ihre Madonna unter dem Applaus des Publikums tanzen und drehen sie einmal im Kreis, denn sie muss rückwärts - mit dem Gesicht zum Volk - in die Kapelle getragen werden. Der Capataz springt mit völlig heiserer Stimme aufgeregt um den Paso herum und schreit seine Kommandos. Denn den hohen Baldachin durch das enge Portal zu dirigieren ist Zentimeter-Arbeit.

Endlich, nachdem der Capataz, schon am Rande einer Herzattacke, gerade noch die Kollision des Paso mit einer Ecklaterne verhindern konnte und seine Stimme endgültig verloren hat, scheint das Manöver zu glücken. Ruckartig geht der Paso und neigt sich gefährlich nach vorn, so dass man einen Moment lang glaubt, die Madonna stürze in die vor ihr brennenden Kerzen. Aber das Portal ist so niedrig, dass die Costaleros sie auf Knien hinein tragen müssen. Nun geht auch die hintere Hälfte nach unten, wankend bewegt sich der Baldachin nach innen. Mit Olé-Rufen belohnt die Menge diesen enormen Kraftakt. "In den Himmel mit ihr!", ruft der Capataz und eine Welle der Begeisterung verabschiedet die Jungfrau, bevor sich die Türflügel schließen.

Überraschend schnell zerstreut sich die riesige Menschenmenge und verliert sich im laternenbeleuchteten Labyrinth der Altstadtgassen von Sevilla, die sich an diesem Tage in Kulissen für sakrales Barocktheater nach Jahrhunderte altem Regieplan verwandelt haben.

Text + Fotos: Berthold Volberg

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[art_3] Brasilien: Geschichten eines brasilianischen Gringos

São Paulo – Morry Kepp sprühte nicht gerade vor Begeisterung nachdem er St. Louis, Missouri, im US-amerikanischen Landesinnern verlassen hatte, um seinen Sohn in Rio de Janeiro zu besuchen. "Ich fand es aufregender durch ein Altenheim zu latschen", sagte er.

Keine typische Reaktion für einen Gringo, der die Cidade Maravilhosa, die wunderschöne Stadt, besucht. Aber mit seinem nicht-existenten Portugiesisch und ohne auf eine Menge Englisch sprechender Menschen zu treffen, fühlte sich Morry seiner Lieblingsbeschäftigung beraubt: witzige Geschichten zu erzählen, die oftmals von seinen eigenen sexuellen Ausrutschern berichteten, und mit denen er besonders unter Frauen einen Chorgesang aus kollektivem Gelächter erntete.

Erst als er eine Party besuchte, auf der er hunderte schöner Frauen traf, die alle Englisch sprachen, wurde er lockerer. Er erzählte seine Geschichten und die Mädels lachten. Die Reise wurde doch noch zum Erfolg.

Mit dem Buch "Sonhando com sotaque: confissões e desabafos de um gringo brasileiro" (Träumen mit Akzent: Beichten und Gefühlsausbrüche eines brasilianischen Gringos) hat Michael Kepp, Morrys Sohn, seine eigene Party gefunden. "Sonhando" ist eine Sammlung von Geschichten und Essays, die als eine Art Hommage gedacht ist; sowohl an seinen Vater Morry als auch an das Land, das er seit 20 Jahren seine Heimat nennt - Brasilien.

Viele der Texte wurden bereits in der brasilianischen Presse veröffentlicht, beispielsweise in der Tageszeitung Folha de S. Paulo oder dem Magazin Exame. Andere dagegen sind bisher unveröffentlicht. Fast immer mit Humor und feiner Bobachtungsgabe beschreibt Michael Kepp die Details des brasilianischen Alltags, zeigt seine Kämpfe mit dem Land auf, in das er sich verliebt hat, die Schwierigkeiten sich mit ihm zu arrangieren und es zu verstehen.

Ebenso wie Mikes Selbstcharakterisierung als "brasilianischer Gringo" bilden seine Texte eine Mischung aus zwei Traditionen. Auf der einen Seite erinnern sie an Selbstbeichten, wie sie in den 90er Jahren in den USA in Mode waren und oft den eigenen Kampf gegen Drogensucht und Krebsleiden beschrieben. Zum anderen nähern sie sich an die in Brasilien so populäre Form der Crônica an, die Gewohn- und Eigenheiten des Volkes auf die Schippe nimmt.

So beschreibt Kepp in der Crônica "Was man mit dreckigen Tellern macht" ein brasilianisches Phänomen, das allen hier wohnenden Ausländern sofort ins Auge springt - die Unmöglichkeit brasilianische Jugendliche dazu zu bewegen, in irgendeiner Form im Haushalt Hand anzulegen. "Abwaschen hört sich eigentlich wie eine recht unschuldige Arbeit an", schreibt Kepp. "Aber von einem brasilianischen Jugendlichen aus der Mittelklasse zu verlangen, sich die Hände ausserhalb seiner Surfaktivitäten nass zu machen, gleicht eher einer Kriegserklärung." Kepp hat das am eigenen Leib mit seinen Stiefkindern erfahren müssen. Doch er hat diesen Kampf überlebt und kann uns so seine Erfahrungen weitergeben.

Niemals "Nein" zu sagen ist eine weitere brasilianische Angewohnheit, die auf Kepp ebenso befremdlich wirkt wie auf die meisten Gringos.

Auch meine eigene journalistische Arbeit als internationaler Korrespondent wurde oft durch diese Eigenheit torpediert. So schwor mir eine Sekretärin hoch und heilig, dass ihr Chef mir ein Interview geben würde, und ich schwor meinen Auftraggebern in London und New York das Gleiche - und schaute dann in die Röhre als das Resultat nur endloses Schweigen und meine "deadline" überschritten war.

"Da hat es wohl ein Nicht-Zusammenkommen gegeben", war die übliche Aussage der brasilianischen Gegenüber, wenn ich nach Genugtuung sinnte. "Die Idee des Nicht-Zusammenkommens ist für uns Amerikaner so abwegig, dass es noch nicht einmal ein passendes Wort für seine Übersetzung gibt", schreibt Kepp.

Indem er solche Beobachtungen für das brasilianische Publikum produziert, tritt Kepp selber in eine andere Tradition ein - die der "Brasilianistas", der ausländischen Brasilienkenner, die immer wieder im nationalen Dialog auftauchen, um ihren Senf abzugeben. In "Sonhando" bearbeitet Kepp dieses Feld, analysiert die Effekte, die Äusserungen von Ökonomisten wie Paul Krugman von der Princeton University und Rudiger Dornbusch vom Massachussets Institute of Technology auf die brasilianischen Märkte haben. "Ich erwarte nicht, den brasilanischen Ökonomisten Roberto Campos auf der ersten Seite der New York Times zu sehen, wo er Ratschläge über die amerikanische Ökonomie gibt", schrieb Kepp 1999.

Wenn wir Sokrates glauben können, dass das nicht analysierte Leben nicht lohnt, so lohnt sich Kepps Leben sehr. Er analysiert alles, was man sich vorstellen kann, sogar den eigenen Analysten, der ihn von seiner Schlaflosigkeit befreien sollte. Er findet sogar eine Möglichkeit, sich vor den Fragen von Freunden zu drücken, die wissen wollen, was seine Kinovorlieben seien.

Viele dieser Beobachtungen bringen einen zum Lachen. Manche zum Nachdenken. Manche auch zu beidem. Wenn Sie das Buch in einer Buchhandlung entdecken, dürfen Sie aber auf keinen Fall "Nein" sagen.

"Sonhando com sotaque: confissões e desabafos de um gringo brasileiro" wurde im Record Verlag veröffentlicht. (ISBN 8501065382, 240 Seiten, 21,40 Reais, www.fnac.com.br)

Text: Bill Hinchberger
Fotos + Übersetzung: Thomas Milz

Bill ist Herausgeber des Brasilien-Online-Magazins www.brazilmax.com. Um diesen Text im portugiesischen Original zu lesen, klickt hier. Weitere Informationen über Michael Kepp findet ihr hier.






[art_4] Spanien: Queralbs – zwischen Mythos und Wirklichkeit

Es ist vielleicht nicht so offensichtlich, dass man auch in Spanien romantische Begegnungen mit Bergwelten haben kann.

Wer nun neugierig geworden ist und meinen Schritten folgen möchte, sollte mit der Bummelbahn von Barcelona aus über Vic und Ripoll (mit einem sehr sehenswerten Kloster) bis in das verschlafene Ribes de Freser fahren. In der dortigen Bahnhofskneipe werden hervorragende bocadillos serviert, also vormerken! Von hier aus nimmt man die Zahnradbahn (angeblich die einzige Spaniens) Richtung Vall de Núria. Eine Fahrkarte ist vorher zu lösen, aber bitte heute nur bis Queralbs (Kerralps ausgesprochen), obwohl zugegebenermaßen der aufregende Teil der Strecke erst hinter Queralbs beginnt und Freunden aufregender Aussichten eine Fahrt bis nach Núria dringend ans Herz gelegt sei. Die Tiefe der sich direkt neben der Bahnlinie auftuenden Schluchten ist Atem beraubend.


Mein Ziel Queralbs auf halber Strecke aber ist unvergleichlich schöner als Núria, ein typisches Skigebiet mit dem Spitzenreiter auf meiner persönlichen Liste der hässlichsten Hotels der Welt.

Queralbs ist genau das, was ein Reisender sich unter einem versteckten Dorf in den Pyrenäen vorstellt. Vor dem Hintergrund einer aufregend dreidimensionalen Landschaft sieht man davon allerdings zunächst nur einen Parkplatz. Der ist für diejenigen erwähnenswert, die mit dem Auto unterwegs sind, da in Queralbs die Landstraße endet. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß (der Weg beginnt dort, wo die Straße endet) oder mit besagter Zahnradbahn. Wunderbar romantisch!

Zugegebenermaßen sieht man von dieser Stelle aus auch ein paar Neubauten, die sich aber recht annehmbar in die bestehenden Strukturen eingliedern, so dass wir sie getrost ignorieren können.

Man betritt das Dorf über eine kleine Steinbrücke. Wer sie überschreitet, befindet sich sofort auf dem, was üblicherweise "carrer major" (Hauptgasse) heißen würde, hier aber den Namen "carrer pla" (Ebene Gasse) trägt. Der Besucher, der links und rechts in die sich abzweigenden Gässchen blickt, zweifelt nicht einen Moment an dem Sinngehalt der Namensgebung. Das Material, mit dem die "Ebene Gasse" gepflastert ist, ist prä-Kopfstein: runde Steine sind hier in den Boden gesteckt. Das ergibt ein wunderbar mittelalterliches Flair und den Kühen genug Gelegenheit, gefährlich mit den Hufen rudernd um die Ecken zu rutschen.

Die Häuser sind mit Schieferplatten verkleidet, was den altertümlichen Eindruck noch verstärkt. Die einzige, aber sehr gelungene Ausnahme stellt das Rathaus dar: ein diskretgelber Bau mit einem Glockenturm. Ich will glauben, dass (a) die Glocke nur im Brandfall geläutet wird und dass (b) die Leute dann "Feurio! Feurio!" schreien. Respektive natürlich das, was immer das katalanische Äquivalent davon sein mag.

Auf dem Spaziergang von der Brücke bis zum Rathaus hat man schon zwei erwähnenswerte Stationen verpasst, denn Queralbs ist vor allem eins: klein.

Das wird offensichtlich, wenn man dem carrer pla folgend nach wenigen Metern bei der romanischen Kapelle und damit dem Ende des Dorfes ankommt. Aber was für einem Ende! Ein beeindruckender, unaufdringlicher Bau aus dem 12. Jahrhundert, in dessen Details ich stundenlang schwelgen könnte.

Wer das Glück hat, auch den Innenraum besichtigen zu können, sollte sich nicht davon ablenken lassen, dass die Originalfresken in Barcelona im Museu d’Art de Catalunya aufbewahrt werden: dort wirken sie fremd und beinahe langweilig, während die Kopie hier vor Ort eine unvergleichliche Magie ausstrahlt.

Hinter der Kirche und dem leider unspektakulären Friedhof endet das Dorf und beginnt die in den Pyrenäen recht karg ausfallende Natur. Wer mag, kann von hier aus zu endlosen Spaziergängen aufbrechen. Ich allerdings schlage vor, umzudrehen und einen Wermut in einer der beiden Dorfkneipen zu trinken.

Die Bar, die ich aus unerfindlichen Gründen der anderen vorziehe, liegt hinter dem Rathaus auf der rechten Seite. Einer ihrer wichtigsten Vorzüge ist der dazugehörige Laden, in dem man exzellenten Käse und sehr gute Wurstwaren aus der Region kaufen kann. Nicht zu verachten ist auch der Yoghurt, der zugegebenermaßen alles andere als fettarm ist. Aber wie sagt doch so schön die Volksweisheit: Fett schmeckt eben.

Wo wir schon beim Essen sind: wer schlau genug war, vorher einen Tisch zu bestellen oder wer einfach unverschämtes Glück hat, der isst nach dem obligatorischen Wermut in Mas Constans. Nicht, dass dieses gutbürgerliche Lokal aufgrund irgendwelcher lustigen Sternchen auf ewig ausgebucht wäre; es ist die Qualität, die eben ihre Freunde hat. Den Salat mit lauwarmem Ziegenkäse sollte man auf gar keinen Fall verpassen. Wer danach ein Fleischgericht bestellt, sollte auf einer ordentlichen Portion allioli bestehen, die hier mit geriebenem Apfel zubereitet wird. Das schmeckt man zwar nicht, weiß es aber. Und so fügt sich dem kulinarischen noch der intellektuelle Genuss hinzu.

Mas Constans verfügt übrigens auch über einige wenige Apartments mit Kamin, die ich nur empfehlen kann. Beim lodernden Feuer zu sitzen und der untergehenden Sonne zu zusehen, wie sie einen Gipfel nach dem anderen entzündet, ist schon ein ganz besonderes Spektakel.

Text + Fotos: Nil Thraby

Links:
Rathaus (leider nur auf Katalanisch) http://personal.readysoft.es/caballeria/revista0/queralbs
Information Vall de Ribes (auf Englisch) http://www.vallderibes.com/english/quer01.htm
Mas Constans (Unterkunft/Restaurant) +34 (972) 72 73 70





[kol_1] Filmprojekt: Die Session - ein Projekt von Annika Eriksson

In diesem Projekt, das in Säo Paulo, Brasilien, produziert wurde, wollte ich zwei verschiedene Musikarten zusammenführen: Rap und Repente. Die Musiker entstammen ganz unterschiedlichen Kontexten, Traditionen und Generationen, doch gemeinsam ist ihnen das Interesse am gesprochenen Wort und an der Improvisation.

Bei einem früheren Aufenthalt in São Paulo lernte ich die repentistas Pardal da Saudade & Verde Lins kennen und gewann den Eindruck, sie seien eine Art "Folklore Rapper". Ich schug ihnen vor, mit einer Rapband zusammenzuarbeiten. Später hörte ich von Z'Africa Brasil und lud sie ebenfalls ein. Zwischen den Musikern gibt es in thematischer Hinsicht vielerlei Gemeinsamkeiten.

Das Projekt umfasst einen Film, ein Poster und eine CD mit dem Soundtrack des Films. Es wird auch in der Galeria Vermehlo in Säo Paulo präsentiert werden. Derzeit (29. Januar – 27. März) kann man den Film "The Session" in Zürich in der Shedhalle im Rahmen der Ausstellung: Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske? sehen.


Pardal da Saudade & Verde Lins
Die Musikrichtung Embolada/Repente geht auf eine alte Tradition von Straßenkünstlern zurück, die mit Rhythmus und Text arbeiten. Ursprünglich stammen sie aus dem Nordosten Brasiliens, doch heute treten sie in nahezu allen großen brasilianischen Städten auf.

Ihre Werkzeuge sind Parodie, Humor und ein Rhythmus, mit dem sie der harten Wirklichkeit entgegen treten. Embolada/Repente gilt als die kritische Stimme des Volkes und das schon seit der Kolonialzeit.


Interview mit Pardal da Saudade & Verde Lins
Wie lange spielen Sie schon in São Paulo?
Verde Lins: Seit 1987.
Pardal da Saudade: Seit einem Jahr, Musik aber mache ich seit 1988.

Improvisieren Sie?
Verde Lins/Pardal da Saudade: Das hängt vom Publikum ab. Wenn man sich auf der Bühne befindet, hat man weniger Möglichkeiten, im Dialog mit dem Publikum zu improvisieren. Auf der Straße ist es einfacher, allerdings beeinflusst das Publikum mit seinen Wünschen, das Ausmaß der Improvisation.

Was ist in ihren Augen das ideale Publikum?
Verde Lins/Pardal da Saudade: Die Zusammensetzung des Publikums ist immer völlig unterschiedlich, aber im Allgemeinen handelt es sich um Leute, die neugierig und aufmerksam sind, weil sie unsere Werke verstehen und mit uns feiern wollen. Am wichtigsten ist es, eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts zu schaffen. Wenn wir das Publikum respektieren, respektiert das Publikum auch uns.

Was ist Ihnen an Ihrer Arbeit wichtig?
Verde Lins/Pardal da Saudade: Am Wichtigsten für uns ist es, unsere Arbeit gut zu machen, Menschen zufrieden zu stellen und mit ihnen zu kommunizieren. Wir müssen die Sprache der Menschen sprechen, damit sie verstehen, wovon wir sprechen. Denn ohne die Öffentlichkeit sind wir nichts. Die Musik bietet uns die Möglichkeit, die Kultur des brasilianischen Nordostens zu verbreiten, vor allem die aus dem Staat Pernambuco, wo wir herkommen.

Wie würden Sie Ihre Musik beschreiben?
Verde Lins/Pardal da Saudade: Wir sind sowohl repentistas als auch emboladores. Repente hat mehr mit Rhythmus zu tun und eine größere Bandbreite, während Embolada schneller ist, eine höhere Geschwindigkeit bei den Texten und im Rhythmus besitzt und so in einem gewissen Sinne lebhafter und fröhlicher ist. Sowohl Repente als auch Embolada basieren auf der Improvisation, auch wenn einige der Reime vorbereitetem Material entstammen.

Haben Sie irgendeinen Lieblingsort, wenn Sie in São Paulo spielen?
Verde Lins: Das Stadtzentrum nahe der Praça da Sé, wo wir schon 1987 gespielt habe.

Text: Annika Eriksson


Über Z´Africa Brasil
"Wir würdigen die Elemente des Hip Hop als die einer kulturellen Bewegung. Unser Ziel ist es, uns die gesamte rhythmische, verbale und farbliche Vielfalt anzueignen, um so den Schatz der oralen, rituellen und bewusstseinsmäßigen Traditionen unserer Ahnen zu bewahren. Z steht für Zumbi, den Führer unserer größten Widerstandsbewegung gegen die Zentralmacht. Es wurden quilombos errichtet, um der Unterdrückung durch die Sklaverei entgegen zu treten.

Diese befestigten Dörfer im Landesinneren boten flüchtigen Sklaven Schutz, blieben sie doch von den ständigen Angriffen verschont, die im 17. Jahrhundert von den Bauern und ihrer Armee ausgingen.


Es handelte sich um einen freien Parallel-Staat, der 100.000 Menschen umfasste. Heute leben am Rand großer Städte Millionen halbversklavter Menschen auf engstem Raum. Antigamente Quilombos, Hoje Periferia (Ehemals Dörfer – Heute Favelas)lautet der Name des ersten Albums. Der Reichtum der Favelas besteht in ihren mensch-lichen Beziehungen, ihrer Kreativität und der Improvisationsgabe, mit denen sie ein Leben, das aus enormen Gegensätzen zusammensetzt, meistern."

Z'Africa Brasil wurde 1995 von Gaspar und Fernando Beatbox gegründet. Gaspar, eigentlich Wagner de Oliveira, ist der Sohn eines Nordostbrasilianers, dessen Musikalität er geerbt hat. Seine Vielseitigkeit als Songwriter hat viel mit den Traditionen der spontanen Reimeschmiede auf den Straßen zu tun. Komponist, Dichter und Rapper, der er ist, fungiert er auf der Bühne als MC (Master of Ceremonies). In Zusammenarbeit mit örtlichen Gemeinden engagiert er sich für wichtige Sozialprojekte und veranstaltet Kulturworkshops zum Thema Komposition.

Funk Buia ist afrikanischer Herkunft und steht für die Energie des ragga. Auf der Bühne ist er für die batucadas (Percussionsrhythmen), die Sambaimprovisation, zuständig, weil er durch diese erstmals in Kontakt mit Musik kam. Als MC ist er an den Workshops in den Gemeinden beteiligt: Er fungiert als Komponist und Rap-Texter und kombiniert Freestyle mit populären brasilianischen Songs in Clubs.

Fernandinho Beatbox traf MC Gaspar im Enigma in São Paulo, einem der Clubs, in dem er mit einem Ghettoblaster Michael Jackson imitierte.

Pitchô begann seine DJ-Tätigkeit auf Partys in den Randgebieten der Stadt.


Als Freund Gaspars aus Kindertagen wurde er eingeladen, bei der Formation Z´Africa Brasil zunächst als DJ mitzuwirken. Das macht er nun seit zwei Jahren; außerdem teilt er sich den Gesangspart mit Gaspar.

DJ Tano, der Jüngste in der Gruppe, erfuhr seine musikalische Ausbildung in den Pionierworkshops im Casado Hip Hop von Diadema. Heute arbeitet er dort als Lehrer und beteiligt sich bei ähnlichen Projekten am Rande der Stadt.

Diashow: Auszüge aus The Session

Text: Rodrigo Bueno und Z'Africa Brasil

Projekt: Annika Eriksson
Fotos: Marcelo Soubhia + Amilcar Packer





[kol_2] Helden Brasiliens: Die runde Revolution
Walter Casagrande und die "Democracia Corintiana"

Selten gelingt es dem Fußball, der Gesellschaft mehr als nur pure Unterhaltung und kurzweiligen Zeitvertreib zu vermitteln. Und noch seltener sind die Fälle, in denen Spieler in schweren Zeiten einen politischen Impuls geben können. In Brasilien tauchte zu Beginn der 80er Jahre, inmitten der Militärdiktatur, eine Bewegung auf, die unter dem Namen "Democracia Corintiana" bekannt wurde. Sie entsprang dem damals populärsten brasilianischen Fußballklub, den Corinthians São Paulo, einem Arbeiterklub aus den Armenvierteln im Osten São Paulos. Spieler und Funktionäre des Clubs teilten sich die Verantwortung, ließen den Autoritarismus hinter sich und stimmten über alle die Spieler betreffenden Belange demokratisch ab.

Angeführt wurde die Bewegung von drei Spielern: "Doktor" Sokrates, rechter Mittelfeldspieler und Bohemien, zudem der beste politische Querdenker des brasilianischen Fußballs, Wladimir, Linksaußen und Kommunist und Walter Casagrande, ein junger offensiver Mittelfeldspieler und Rocker. Sie bereiteten das politische Spektrum für die "Diretas Já"-Bewegung von 1984, die direkte demokratische Wahlen forderte und das Ende der Militärdiktatur einleitete.

Doch nicht nur auf der politischen Bühne war die "Democracia Corintiana" erfolgreich, auch auf dem Spielfeld, das sie mit Slogans wie "Demokratie jetzt" auf ihren Hemden betraten, eilten sie von Erfolg zu Erfolg und gewannen die São Paulo Meisterschaft 1982 und 1983.

Wir sprachen mit Walter Casagrande über die "Democracia Corintiana". Es war sein erstes Interview nach einer langen und schweren Krankheit.

"Ich kam 1975 zu den Corinthians, mit gerade einmal 12 Jahren. Ich war etwas aufmüpfig, musste mich an den Dingen reiben. Schon als Kind hatte ich einen Draht zur Politik, las sehr viel darüber, und war 100 Prozent auf Seiten der Freiheit und des Rechts, zu sagen was man will, und der Pflicht, die Meinung der anderen zu respektieren. Ich habe niemals verstanden, warum man etwas nicht sagen darf, oder dass man aufgrund seiner Meinung Repressalien zu erleiden hat.

Die Corinthians hatten damals einen Direktor mit diktatorischen Zügen, sehr ähnlich der damaligen politischen Situation des Landes. Ich war zu der Zeit gerade mal 17 Jahre alt und geriet mit diesem Direktor ständig aneinander. Das war wohl auch der Grund dafür, dass man mich an Caldense, den Club aus Poço de Caldas, auslieh. Danach wollte ich auf keinen Fall zurück zu den Corinthians. Mein Bild von denen war das einer puren Diktatur, man konnte nichts machen außer Befehlen zu gehorchen. Man besaß Pflichten, aber keine Rechte. Da habe ich mir gesagt, dass ich hier nicht bleiben möchte.

Mein Entschluss stand also fest, als ein neuer Direktor auftauchte, Adilson Monteiro Alves. Er rief mich zu sich und sagte zu mir: "Lass uns einen Prozess der Freiheit starten, damit die Spieler sowohl an den Belangen des Klubs wie Diskussionen über Neuverpflichtungen teilhaben können als auch an dem, was sich in unserem Land abspielt. Machst Du mit?" Ich fand das Ganze etwas dubios und sagte ihm deshalb: "Okay, gib mir einen Drei-Monats-Vertrag. Wenn es mir gefällt, bleibe ich, wenn nicht, haue ich ab!"

Bereits im Januar 82 begannen die Dinge sich zu entwickeln. Es entstand ein Prozess, mit dem Ziel, eine demokratische Bewegung zu initiieren, den Spielern Mitspracherecht zu gewähren. Natürlich hatten wir unsere Pflichten, aber wir hatten auch unsere Rechte, so wie sie jeder Bürger haben sollte.

Das war unser Projekt. Doch wir wollten nicht einfach nur den Fußball verändern, wir wollten etwas wichtiges für das Land tun.

Die Demokratie war zum Greifen nahe, aber diejenigen die für sie gekämpft hatten, hatten viel erleiden müssen: Folter, Inhaftierung, Exil und viele Leute verschwanden und tauchten nie wieder auf. Wir fühlten, dass die Leute müde waren, verbraucht und aufgerieben von dem langen Kampf. In diesem Augenblick war es unsere Aufgabe, der demokratischen Bewegung neues Leben einzuhauchen, Gas zu geben… Ich glaube, dass das wichtigste an der "Democracia Corintiana" genau dies war: in exakt diesem Moment aufzutauchen, als die Kämfer müde und verbraucht waren.

Die "Democracia Corintiana" zeichnete sich aus durch zwei Charakteristika: zum einen den Fußball. Wir spielten unter einem Trainer, der letztendlich die Entscheidungen traf. Es war nicht jener chaotische Haufen von Anarchisten wie viele Leute behaupteten; aber wir diskutierten, wir vetraten unsere Meinung, sowohl zur Spieltaktik als auch über die Reisekonditionen - wann wir fliegen sollten, wann wir trainieren sollten. Wir stimmten ab über Neuverpflichtungen und Trainingslager und es gab stets eine direkte Abstimmung vor den Augen aller Beteiligten.

Die Spieler stellten sich gegen geschlossene Trainingslager, denn wir hielten sie für ein Symbol der Diktatur inmitten des Fußballs. Man zwang die Spieler, sich an einem Ort einzuschließen. Deshalb haben wir die geschlossenen Trainingslager abgeschaft und nur die Junggesellen blieben über Nacht im Trainingslager. Die Verheirateten bekamen bis zum Mittag vor dem Spiel Zeit, zur Mannschaft zu stoßen, um so mehr Zeit mit ihren Familien verbringen zu können. Wir Junggesellen erhielten Ausgang bis Mitternacht. So konnten wir das diktatorische Gewicht der Trainingslager etwas verringern.

Auf der anderen Seite erfüllte die "Democracia Corintiana" eine gesellschaftliche Funkton: wir verlangten Mitbestimmung. Wladimir und ich waren von Anfang an Mitglieder der oppositionellen Arbeiterpartei PT. Wir unterstützten Lula bereits 1982 während dessen Kandidatur für das Amt des Gouverneurs von São Paulo, und Socrates war damals Mitglied der PMDB.

So begannen wir, am politischen Prozess des Landes teilzuhaben. Wir machten bei der "Diretas"-Bewegung von 84 mit und kletterten sogar einmal auf eine Bühne an der Praça da Sé, vor über einer Million Teilnehmer. Socrates hielt eine Rede, ganz spontan und natuerlich, nichts war voher abgesprochen.

Doch wir zahlten einen relativ hohen Preis, wir alle wurden in gewisser Form angegriffen. Jeder mit unterschiedlicher Intensität, ein jeder auf unterschiedliche Art und Weise. Socrates und Wladimir waren respektierte und verheiratete Persönlichkeiten, und ich ein Junge von 19 Jahren. Ein Hippy. Ich habe immer alle Menschen gleich behandelt, ob Präsident oder Straßenkehrer, für mich besitzen alle den gleichen Wert, sind gleich wichtig. Über Socrates haben sie verbreitet, dass er Alkoholiker sei, kein professioneller Sportler, kein Athlet… "Guckt sie euch an, die Demokratie, so ist sie, immer nur besoffen!" Und über Wladimir redete man schlecht, weil er Neger war… "Schaut sie euch an, diese Demokratie! Die Demokratie ist ein Haufen Unfug, ein riesiges Durcheinander!" Ich war der Junge auf Drogen. Das war das Schema, das sie sich für mich ausgedacht hatten.

Ende 1982 kursierte das Gerücht, dass die Diktatur versuchen würde, etwas gegen uns einzufädeln, etwas, was unsere Glaubwürdigkeit untergraben, der "Democracia" den Respekt entziehen sollte. Ich war das schwächste Glied in der Kette, und in dieser Zeit repräsentierte ich die brasilianische Jugend. Ich war 19 Jahre alt und Torschützenkönig. Wir lebten vollkommen isoliert in unserem Hotel, zum eigenen Schutz. Als wir dann die Meisterschaft gewannen, dachten wir, dass sie jetzt nchts mehr gegen uns unternehmen konnten und entspannten uns. Das war der Moment, in dem sie mir eine Falle stellten.

Die Polizei griff mich auf, und sie gaben vor, mich nicht zu kennen. Sie nahmen meine Tasche und zogen ein Glasfläschchen mit einer Substanz darin heraus. Ich wurde festgenommen. Auf dem Weg zum Polizeirevier informierten sie sämtliche Fernsehstationen, und als wir eintrafen, wartete bereits eine Horde von Journalisten darauf, einen Riesenskandal loszutreten. Nun, mir wurde der Prozess gemacht, aber aufgrund fehlender Beweise und dermaßen schlechter Vorbereitung ihrerseits wurde ich freigesprochen.

Trotzdem handelte es sich um den Versuch, die demokratische Bewegung zu demoralisieren. Sie haben das zwar nicht geschaft, aber ich habe sehr darunter gelitten, und brauchte aufgrund dessen sehr viel länger, um in die Nationalmannschaft berufen zu werden. Und das Bild, das die Öffentlichkeit bis heute von mir hat, ist immer noch sehr durch diesen Vorfall geprägt."

Die "Democracia Corintiana" endete 1984 mit Socrates Weggang von den Corinthians. Casagrande blieb bis 1986 (er spielte 1984 für den Erzrivalen São Paulo, was bis heute kein Corinthians-Fan jemals verstanden hat), danach ging er zum FC Porto, mit dem er 1987 die Championsleague gewann. Ab 1987 spielte er in Italien, von 87 bis 91 in Ascoli und von 91 bis 93 in Turin, bevor er nach Brasilien zurückging und dort seine Karriere beendete.

Für die brasilianische Nationalmannschaft bestritt er die WM 1986 und absolvierte 19 Länderspiele, in denen er 8 Tore schoss. Heute schreibt Casagrande Kolumnen für eine Tageszeitung in São Paulo, arbeitet als Radiomoderator und kommentiert Fußballspiele als Sportkorrespondent für Rede Globo.

Text + Fotos: Thomas Milz





[kol_3] Grenzfall: Der Traum

Vorbei! Der Mann ist aufgewacht und blinzelt mit kleinen Augen gegen die Sonne. Es ist ein lauer Tag in Buenos Aires und die Stadt atmet spürbar durch. Die letzten Wochen waren unerträglich. Überall Hitze, Schweiß, unangenehmer Geruch und man beklagte sogar ein paar Tote aufgrund des akuten Wassermangels. Dabei handelte es sich natürlich nicht um wichtige Leute. Laut landläufiger Meinung herrscht in Argentinien kein Wassermangel und das ist auch bis zu einem gewissen Grad richtig, denn der patagonische Süden besitzt eine Menge Wasser, nur funktioniert die Umverteilung - wie in so manch anderem lateinamerikanischen Land - schlichtweg nicht. Dies allerdings tut für die vorliegende Geschichte nichts zur Sache, auch wenn sie von Hitze handeln wird.

Der Mann also, ein wenig bleich vielleicht, erhebt sich langsam und bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge, die ihn umgibt. Überall sind Menschen. Sie laufen, rufen, schreien und weinen. Auch Krankenwagen und Polizei sind vor Ort und ergänzen das Bild.

Santiago Bustos tritt nach etwa fünf ihm endlos erscheinenden Minuten durch die Menge an den Zaun. Gerade noch rechtzeitig, um niemanden in der Menge mit seinem Erbrochenen.... Aber es wird nur eine kurze Erleichterung sein und schließlich kommen all die Bilder in seinem Kopf wieder hoch und er übergibt sich ein weiteres Mal. Ihm ist so übel, wie nie zuvor in seinem Leben. Rauch war da, schreiende Menschen, Musik, Lärm, Angst und Zorn, das die Nacht durchdringende Heulen der Sirenen... Und immer wieder die verweinten Augen, die verrußten Gesichter. Es ging alles viel zu schnell.

"Plötzlich umgab uns dieser dunkle Vorhang, der uns das Atmen schwer machte und wie eine Horde Ratten versuchten wir ins Freie zu kommen." Santiago war dabei hingefallen und nun bemerkte er auch den Schmerz in seinem Rücken, weil viele, wenn nicht alle, die von hinten nachdrängten über ihn hinweg trampelten. Ohne Rücksicht, in panischer Angst. Nun ist es vorbei. Beinahe wenigstens, denn die Wunden klaffen auf, es schmerzt und es fehlen die Worte. Zumindest Santiago kann nichts mehr sagen. Hier und heute. Er hatte noch versucht, den jungen Mann zu finden, der ihm offensichtlich hochgeholfen hatte, als er wie von Kugeln niedergestreckt unter der Menschenmenge lag. Einen kurzen Augenblick nur konnte er sein Gesicht sehen. Wahrscheinlich, das wurde ihm jetzt mehr denn je bewusst, hatte er ihn nicht nur vor weiteren Fußtritten, sondern auch vor dem dichten, dunklen Rauch bewahrt. Ein schwarzer Tod. Alle hätten ihm entkommen können. Ja, können, wenn nicht müssen! Aber nichts dergleichen geschah! Santiago weint. Nie zuvor hatte er weinen müssen. Nicht einmal beim Tode seiner Großmutter. Heute ist einer dieser Tage, an denen sich Leben ändern, Werte sich zu verschieben beginnen, wo alles der Wirklichkeit weichen muss.

"Einer von ihnen hätte ich sein können. Einer von ihnen." Sekunden entscheiden über Liebe, über Leben, über Tod, über Endlichkeit. Verlust. Kann man würdig sterben? Oder: darf man unwürdig diese Welt verlassen? Diese Welt, in die wir alle geworfen werden, ohne dass wir jemals danach gefragt wurden. Mit der wir umgehen, in der wir uns bewegen. Wir finden nichts und suchen alles. Der Weg gabelt sich und dennoch ist es das Labyrinth, aus dem wir nicht herauskommen. Gestern Nacht war dieser Irrweg zum Greifen nahe und Minotaurus wartete auf viele von ihnen, um sie endlich, Opfern gleich, zu zerreißen.

"Die Körper säumen die Straße, es stinkt, es setzt mir zu. Ich übergebe mich, aber es ist nichts mehr in meinem Bauch. Ich bin leer. Der Kopf, der Körper, alles fällt von mir ab. Ein Gefühl der Taubheit macht sich breit."

Benommen wankt Santiago am Zaun entlang, aber findet keinen Ausweg. Heute nicht und morgen nicht.

Text: Andreas Dauerer

Die Nacht vom 29. auf den 30. Dezember vergangenen Jahres wird in der Hauptstadt Buenos Aires niemand so schnell vergessen. Im Barrio Once spielt die Rockband Callejeros. An sich nichts Ungewöhnliches, allerdings bricht während des Konzerts ein Feuer aus. Durch einen Feuerwerkskörper gerät die Decke in Brand und plötzlich finden sich alle inmitten dichten Rauches wieder. Panik bricht aus. Die Notausgänge sind verschlossen. Wohl aus Angst, dass jemand das Konzert besuchen könnte, ohne dafür zu bezahlen. 192 Menschenleben fordert diese Nacht im Boliche República Cromagnon. Bis zum heutigen Tage hat kein Nachtclub in Buenos Aires geöffnet. Die Verhandlungen, wer für das Blockieren der Notausgänge zuständig war, dauern noch immer an.





[kol_4] Lauschrausch: Sánchez vs Übersee

Die monatliche Kolumne zu Musik aus Lateinamerika, der Karibik, Spanien und Portugal. Hier findet ihr Folklore, Latinjazz, Rock und Elektroakustik neben Speedmetal, Funk und Kammermusik. Ob Tango, Kaseko, Guajira, Flamenco, Fado, Axé, Punta oder die Mischung aus allem, hier kommt es auf den Prüfstand. Vorgehört und serviert von Torsten Eßer.

David Sanchez
Coral
Sony Classical 517368

Der puertoricanische Tenorsaxophonist David Sánchez hat sich einen Traum erfüllt: Ein Album mit sinfonischer Unterstützung. Das kann in Schmalz enden, muss aber nicht. Bei "Coral" kann diese Entscheidung nur von Stück zu Stück getroffen werden. Zunächst einmal ist es jedoch eine gute Idee, Werke bedeutender Komponisten Lateinamerikas neu zu arrangieren und mit Jazzelementen zu vermischen, denn ihre Stücke werden viel zu selten außerhalb des Kontinents gespielt.

Im Falle von "Vidala" des Argentiniers Alberto Ginastera ist Sánchez die Gratwanderung gelungen, ebenso beim Stück "Coral" vom Brasilianer Heitor Villa-Lobos. Bei beiden wird das Prager Philharmonie-Orchester relativ sparsam eingesetzt. Die Ballade "Eu sei que vou te amar" von Tom Jobim und Vinicius de Moraes hingegen säuft in Streichern geradezu ab, Ginasteras’ "Panambi" bleibt ein Orchesterstück mit ein wenig Saxophonbegleitung.

Beste Stücke auf dem Album: Sanchez’ Eigenkompositionen "The Elements II" und "Canción del Cañaveral", in denen das Orchester nur eine kleine Rolle spielt. Eher ein Album für Fans des Symphonic-Jazz

Diverse
Echte Übersee Records Vol. 2
Übersee 011

Skadaddyz
Rude Boyz
Übersee 009

Nicht aus Übersee, sondern aus Hannover, kommt die zweite Compilation von "Übersee-Records" in meinen CD-Player. Diesem Label ist es hoch anzurechnen, Punk-, Ska- und Rockgruppen aus Lateinamerika in Deutschland durch Alben und Tourneen bekannt zu machen.

Auf "Echte Übersee Records Vol. 2" finden sich in Deutschland schon bekanntere Gruppen wie Panteón Rococó mit ihrem treibenden Skapunk und ihren sozialkritischen Texten - übrigens ein Kennzeichen aller Gruppen, die auf diesem Label erscheinen -, die Punker Attaque 77 und die "Gitarrenpopper" Los Auténticos Decadentes aus Argentinien.

Árbol, Kapanga u.a. machen auch gute Musik, haben ihren "Ruhm" aber noch vor sich. Aus dem lateinamerikanischen Rahmen fallen die Heavy-Metal-Band Sommerset aus Neuseeland und die Skadaddyz aus Kalifornien. Von Letzteren kann ich das auch bei "Übersee" erschienene Album "Rudeboyz" empfehlen: besonders hörenswert ist die Skaversion des Eagles-Klassikers "Hotel California".

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de





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