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[art_1] Spanien: Unterwegs auf der Vía de la Plata (Jakobsweg)
Steineichen im Nebelschleier, endlose Einsamkeit und ein adoptierter Hund
 
16. Juni 2015. Kurz nach 6 Uhr morgens habe ich das Hotel in Mérida, der Hauptstadt der Extremadura, verlassen und vor mir liegen die drei längsten Etappen, die ich auf der Vía de la Plata, dem Pilgerweg von Sevilla nach Santiago de Compostela zurück legen muss. In Mérida hatte ich kein Glück mit dem Wetter. Fast zwei Tage Dauerregen hatten die Stimmung etwas gedrückt und kurz vor meiner Ankunft in der Römer-Metropole machte ich tiefe Bekanntschaft mit dem roten Lehmboden eines Olivenhains. Nach ein paar Stunden Regen hat dieser Lehm eine Konsistenz wie Pudding - knietief versank ich darin und brauchte Stunden, um Schuhe, Strümpfe und Hose wieder einigermaßen sauber und trocken zu bekommen.



Gestern ließ der pausenlose Regen eine ausgiebige Besichtigung der spektakulären römischen Bauten in Mérida kaum zu. Aber heute scheint es der Himmel wieder gut mit mir zu meinen. Kurz vor 7 Uhr stehe ich am nördlichen Ortsausgang von Mérida vor dem 2000 Jahre alten "Aquädukt der Wunder" (Acueducto de los Milagros) und hinter den beeindruckenden, 26 Meter hohen und von Störchen bevölkerten Granitbögen kündigt ein zartes Morgenrot das Ende des Regens und einen sonnigen Tag an.



Die heutige 37-Kilometer-Etappe durch das Herz der Extremadura, der Toskana Spaniens, sollte die landschaftlich schönste, aber auch einsamste auf der langen Vía de la Plata werden. Die düstere Silhouette des Aquädukts hinter mir lassend, habe ich es eilig, um mich von der Stadt zu entfernen und schnell in die endlosen Weiten der Steineichenwälder vorzudringen. Nach anderthalb Stunden wird die Morgensonne, die schon die Wiesen ringsumher erleuchtete, plötzlich wieder verschluckt. Ich stehe vor einem rätselhaften See, über dem kreisrunde Nebelschleier schweben. Dann wird mir klar, es ist kein natürlicher See, sondern der schon von den Römern angelegte Stausee von Proserpina (die Staumauer ist römisch): von hier wurde das Wasser in ihre Hauptstadt Emerita Augusta (Mérida) geleitet.



Ein märchenhaftes Bild: die Sonnen hat sich nun "verdoppelt", leuchtet aus dem vernebelten Himmel und aus den Wassern des Sees, diffuse Lichtschleier wabern über der Wasserfläche, in der sich bizarre Baumschatten spiegeln. Während die Hügel ringsumher bei normalem Tageslicht in üppigem Grün leuchten und der Himmel darüber tiefblau ist, wird die ganze Talsenke des Sees von Proserpina von einer Nebelwolke bedeckt, die alle Farben verschluckt und in einen Schwarzweiß-Film verwandelt. Mystische Impressionen wie in einem Film von Andrej Tarkowski oder auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Wie in Trance gehe ich langsam am Seeufer entlang, bis plötzlich die Sonne den Nebelsee zerteilt und die Staumauer erleuchtet, die aus dem Schilf in den See hinein ragt und sich irgendwo im Nebel verliert.



Danach zeigt der gelbe Jakobsweg-Pfeil weg vom Uferpfad und ich marschiere ein paar Kilometer auf einem schmalen Landsträßchen, das wie ein einziges, lang gezogenes Schlagloch wirkt - die Stellen ohne Asphaltdecke überwiegen. Ich bin in Gedanken noch beim romantischen Nebelsee und der Nebel hat mich wieder eingeholt. Denn er wabert rechts und links des Sträßchens, umhüllt die Schatten knorriger Steineichen und gibt ab zu den Blick frei auf lebendige Schatten: grasende Kühe - oder sind es etwa Kampfstiere? Ich hoffe nicht, denn der Zaun, der die Weiden vom Weg trennt, ist sehr niedrig und wirkt nicht besonders stabil. Aus dem Nebel dringt der Klang von Kuhglocken, Hundegebell und ab und zu Kommandos von Hirten zu mir, offenbar wird eine Herde von beträchtlicher Größe von einem Weidegrund zum nächsten getrieben, aber sehen kann ich davon fast nichts. Beinahe hätte ich sogar den gelben Pfeil übersehen, der in einer Kurve nach links zeigt. Hier verlässt der Pilgerweg die Landstraße und führt Richtung Norden durch einen Hain von Steineichen, wo ich stundenlang keiner Menschenseele begegnen werde.



Plötzlich verzieht sich der Nebel, als hätte eine unsichtbare Hand einen Vorhang weggezogen, und die Morgensonne taucht das verdorrte Gras zwischen den Steineichen in goldenes Licht. Eine wunderschöne Landschaft von arkadischer Einsamkeit breitet sich vor mir aus, uralte Steineichen mit bizarr gewachsenen Baumkronen, die eher breit als hoch sind, spannen ihre Schutzschirme über die Weidelandschaft der Dehesas. Dieses landwirtschaftliche System funktioniert hier im Westen Spaniens seit Jahrhunderten unverändert und ist wohl das ökologischste, das man sich vorstellen kann. Dabei sind große Flächen Naturschutzgebiet, obwohl sie landwirtschaftlich genutzt werden. Auf den weiten Weidegründen (hier begegnet man wenn überhaupt nur alle 10 oder 20 Kilometer mal einem Zaun oder einer Mauer) werden Herden von Rindern, Schafen, Ziegen oder insbesondere von schwarzen iberischen Schweinen, die den teuersten Schinken der Welt liefern, halbwild und frei sich selbst überlassen. Entsprechend schmeckt das Fleisch der schwarzen Schweine, die sich im Herbst fast nur von Eicheln ernähren. Mit Fleisch aus Industrieproduktion hat dies nichts zu tun und in dieser Gegend ist so mancher Vegetarier wieder zum Fleischgenuss bekehrt worden.



Diese Landschaft wirkt in ihrer endlosen, sanfthügeligen Weite im Sommer, wenn das Gras verdorrt ist wie eine afrikanische Savanne. Wenn man mitten durch marschiert, bekommt man die Herdentiere oft gar nicht zu Gesicht, sondern nur Vögel, Schmetterlinge und Eidechsen. Und Hirtenhunde. Plötzlich ertönt hinter mir Hundegebell. Ich gebe zu, ich bin als Katzenliebhaber bekannt und mag Hunde eigentlich nicht besonders. Ein paar traumatische Erlebnisse in der Kindheit haben eine tief sitzende Angst vor den größeren Exemplaren dieser Tiergattung bei mir hinterlassen. Doch das, was da aus dem Gebüsch hervor getrippelt kommt, ist nun wirklich kein großes Exemplar, vor dem man Angst haben müsste, sondern eher winzig zu nennen. Ein Hirtenhund-Baby - so süß, dass es selbst ein versteinertes Herz mit einer Welle der Zuneigung überschwemmen würde. Ich beuge mich herab, um den Winzling zu streicheln und mit seiner rauen Zunge leckt er meine Hand und fixiert mich mit seinen großen Augen.



Nach ein paar Minuten gehe ich einfach weiter, aber das Hündchen folgt mir mit flinken Trippelschritten, bis wir zu einem Tor kommen. Da ich meinen kleinen Begleiter ja schlecht mit bis Santiago nehmen kann, hoffe ich, dass er auf der anderen Seite des Tores bleibt. Aber geschickt klettert er durch das Holzgitter und läuft weiter hinter mir her. Den werde ich wohl nicht mehr los. Und das tapfere Hundebaby scheint auch nicht müde zu werden. Irgendwann nach zehn Kilometern nehme ich es zur Belohnung auf den Arm und trage es einige Zeit. Mitten in der Einsamkeit beginne ich, auf meinen kleinen einzureden, erkläre ihm, dass ich ihn ja gern adoptieren würde, aber dass er unmöglich mit mir die noch fehlenden 750 Kilometer bis Santiago gehen könne. Ich will ihn ja gar nicht abwimmeln, aber ich muss!



Inzwischen steht die Sonne hoch und nach dem Temperatursturz der zwei letzten Tage von 40 auf 20 Grad wird sich das Thermometer heute wieder der 40-Grad-Marke nähern. Zum Glück erreichen wir Aljucén (30 Häuser, 200 Einwohner), wo der Wirt der einzigen Dorfbar zwar unfreundlich ist, aber mir zwei 1,5-Liter-Flaschen gefrorenes Wasser verkauft (wofür ich ihm noch dankbar sein werde). Als ich die Bar verlassen will, kommt eine Frau herein und ruft beim Anblick meines Hündchens: "Ach, das ist doch der Hund von Paquito, der seit gestern verschwunden ist!" Traurig und erleichtert zugleich überlasse ich ihr meinen Findling und setzte bei nun heftiger Hitze meinen Weg nach Norden fort.



Der führt mich durch das Naturschutzgebiet von Cornalvo. Und durch noch größere Einsamkeit. Vor mir liegen noch 20 Kilometer und geschätzte fünf Stunden Fußmarsch. Es ist bereits ein Uhr mittags, die Sonne brennt nun gnadenlos und das gefrorene Wasser in meinen Flaschen ist zwar geschmolzen, aber immer noch erfrischend kühl. Mit schnellen Schritten beginne ich mit der Durchquerung des Naturparks Cornalvo, aber dieses Tempo werde ich kaum halten können. Nach einer Stunde reduziert sich meine Marschgeschwindigkeit und ich muss öfter stehen bleiben. Der Blick schweift über die hitzeflimmernde Endlosigkeit der mit haushohen Felsbrocken übersäten Weidelandschaft und wenn mir jetzt jemand sagen würde, ich sei in der Serengeti, würde ich es auch glauben.



Denn mir ist schon leicht schwindelig vor Hitze und die Schirmkronen der Steineichen kommen mir vor wie Akazien, die in der Ferne entdeckten Rinder wie Büffel und die Schwarzstörche wie Geier, die auf meinen Tod warten. Ich habe Angst, in dieser Einsamkeit einen der gelben Pfeile zu übersehen, mich zu verirren in dieser Einsamkeit ohne Wasserquelle, und hätte jetzt gern wieder den kleinen Hirtenhund bei mir. Fast drei Stunden bin ich im Park schon unterwegs, habe den Grenzstein zur Provinz Cáceres längst passiert und bin mir nicht sicher, ob ich seitdem richtig gegangen bin. Denn das angekündigte Wegkreuz von San Juan will einfach nicht auftauchen und meine drei Liter Wasser sind aufgebraucht. Der Durst wird so dramatisch, dass ich die Schönheit der Landschaft nicht mehr würdigen kann. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, stehe ich vor dem Granitkreuz, jetzt sind es nur noch vier Kilometer bis Alcuéscar und die ersten Fincas tauchen links und rechts auf, verdursten werde ich nun nicht mehr.



Kurz nach 4 Uhr nachmittags betätige ich den Klingelknopf an der Tür der Klosterherberge, doch niemand öffnet. Eine andere Herberge gibt es nicht hier und der nächste Ort ist 15 Kilometer entfernt. Einigermaßen verzweifelt und am Ende meiner Kräfte stolpere ich in die Dorfbar gegenüber und obwohl die Essenzeit längst vorbei ist, serviert der Wirt mir einen üppigen Eintopf, der köstlich schmeckt und lebensrettende Limonade. Um halb 6 steht die Klosterpforte offen (die Mönche hatten Siesta) und unter dem Blick der schönen weißen Madonna, die über den ganzen Ort wacht, kommentiere ich mit ein paar anderen Pilgern die romantischen Strapazen der heutigen Wegstrecke, die (zumindest bis Salamanca) die schönste der ganzen Vía de la Plata sein wird.



Der Tag verabschiedet sich mit einem spektakulären Abendhimmel über den Hügeln der Extremadura, mit flammenden Purpur- , Gold- und Orangetönen. Eigentlich hätte ich draußen sitzen bleiben und den Himmel betrachten können, denn trotz aller Müdigkeit war an Schlaf nicht zu denken: die Glocken des Klosters schlugen bei jeder vollen und halben Stunde, und zwar direkt neben meiner Zelle. So verbrachte ich eine weitgehend schlaflose Nacht vor dem Marsch nach Cáceres und war doch erfüllt von arkadischem Frieden.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:

Die besten Reiseführer:
natürlich Cordula Rabe: "Vía de la Plata", Reihe Rother Wanderführer, München 2011
und Raimund Joos: "Spanien: Jakobsweg - Vía de la Plata", Conrad Stein Verlag, Welver 2014

Unterkunft in Mérida:
Hotel Cervantes, (nur einen Steinwurf von der Kirche Santa Eulalia entfernt), Calle Camilo José Cela 10, 06800 Mérida, Tel. 924-314961 und 924314901.
E-Mail: informacion@hotelcervantes.com
Website: www.hotelcervantes.com
Einfaches, zentrales Zweisterne-Hotel, Übernachtung 35 Euro, verfügt auch über Bar/Restaurant

Verpflegung in Mérida:
Tapas-Bar "Diana", direkt hinter dem römischen Diana-Tempel. Besonders zu empfehlen das Tapas-Menü, bei dem man sich 5 köstliche Tapas zusammen stellen kann (12 - 15 Euro). Absolut köstlich die frittierten Auberginen mit Honig, Kabeljau (Bacalao) mit Haselnuss-Soße, Rotwein-Gulasch vom iberischen Schwein.

Kirchliche Pilgerherberge in Alcuéscar:
Kloster der "Esclavos de Maria y los Pobres", einfache Doppelzimmer mit Stockbetten, Gemeinschafts-Duschräume, einfaches Abendessen, freiwillige Spende. Täglich Abendmesse um 19.30 mit den Bewohnern des vom Kloster betriebenen Behinderten-Heims, mit Pilgersegen. Von 14.30 bis 17 Uhr während der Siesta KEIN Einlass.

Verpflegung in Alcuéscar: in der Dorfbar schräg gegenüber dem Kloster auf der anderen Straßenseite

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