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[kol_2] Macht Laune: Mit dem Zug von Huancavelica nach Huancayo

Ich leihe meinem Sitznachbarn unsere Zeitung. Er nimmt das zum Anlass, um mit uns ins Gespräch zu kommen und reicht die Zeitung an jemand anderen weiter. Nachdem wir uns verabschiedet haben und er ausgestiegen ist, setzt sich ein anderer Mann zu uns mit den Worten: "So, jetzt bin ich dran" und der Dialog beginnt von vorne.

Als wir Stunden zuvor den Bahnhof von Huancavelica betreten, ist dieser menschenleer, obwohl es bis zur Abfahrt gerade mal zehn Minuten sind. Doch mit erstaunlicher Geschwindigkeit folgt die Belegung des Zuges, sodass wir letztendlich pünktlich und beinahe ausgebucht die Reise beginnen.


Da es pro Richtung nur einen Zug am Tag gibt, wird er für den Transport von Mensch und Ware genutzt. Bei den ersten paar Wagen direkt hinter der Diesellok handelt es sich um Güterwaggons; es folgen die Wagen der zweiten Klasse, in der sich ausschließlich Holzbänke tummeln; dann die der ersten, deren Sitze gepolstert sind und schließlich, nicht zugänglich vom Rest des Zuges aus, die Executive-Klasse, in der Essen serviert wird und die von fliegenden Händlern nicht betreten werden darf.

Das Spektakel in den einzelnen Waggons ist erheblich. An jeder Station, an der wir halten, wird der Zug von ambulanten Verkäuferinnen geradezu gestürmt. Angeboten werden Esswaren aller Art: mal süß, mal salzig, mal fettig, mal trocken. Wir kaufen an jeder Haltestelle eine Kleinigkeit, verschmähen jedoch die vom Kellner angebotene Mahlzeit, denn auch unsere Kapazität hat Grenzen.

Die Landschaft, durch die wir fahren, ist atemberaubend. Die Bahnstrecke führt durch ein schmales Tal, das von Huancavelica aus bis nach Huancayo zu reichen scheint. Dabei überwindet die Bahn immerhin mehr als 800 Höhenmeter. Wir starten auf knapp 3700 Metern, fallen bei M. Caceres bis auf 2819 Meter ab und kriechen dann wieder bis auf 3200 Meter. Bei Steigungen verlangsamt sich die ohnehin schon nicht sehr hohe Geschwindigkeit erheblich und schwärzester Rauch steigt in dicken, öligen Wolken aus dem Schornstein der Lokomotive.

Eine Zeit lang fesselt ein Vertreter unsere Aufmerksamkeit. Wie in fast allen Fernbussen, mit denen wir bisher gefahren sind, steigt neben den Fahrgästen auch hier in der Bahn einer dieser fliegenden Händler zu, der Naturmedizin anbietet. Dieser preist dann in einem viertelstündigen Monolog – "ich werde Sie nur einen winzigen Moment lang stören" – sein Produkt an.

Oft schildert er ein dramatisches Szenario: langatmige Begrüßung der Reisenden, Einleitung über ein ganz anderes, aber interessantes Thema, sehr kurze Überleitung, Exposition der Katastrophe (Nervenzerrütung, Impotenz, Schlafstörungen, Ausfall in der Schule) und Auflösung. Dann wird meist das Produkt herumgereicht – manchmal darf auch probiert werden –, der Preis genannt und schließlich der Verkauf durchgeführt. Dazu geht der Vertreter noch einmal durch den Bus, sammelt die Proben ein und versucht in Einzelgesprächen zum Kauf zu animieren.

In Erstaunen versetzt zumeist der zweite Teil, genauer die so ganz und gar nicht zum Produkt passende Einleitung. Hier sind der Kreativität keinerlei Grenzen gesetzt. So hielt uns einmal ein Zauberer eine ganze Busfahrt lang mit seinen ausgezeichnet vorgetragenen und wirklich guten Tricks in Atem. Eine außergewöhnliche Vorstellung. Der Verkäufer im Zug wechselt in seiner Erzählung vom Thema Sex, das er erstaunlich saftig behandelt, zu praktischen Vorführungen in einer nicht näher zu identifizierenden Kampfkunst.

Damit garantiert er sich die vollste Aufmerksamkeit zumindest der jungen Leute. In erster Linie sind es natürlich die Männer, die an seinen Lippen hängen. Ich warte die ganze Zeit gespannt auf die Überleitung zu seinem Produkt, denn immer noch hege ich die Hoffnung, dass Thema und Produkt irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Am Ende verpasse ich irgendwie seine Überleitung und erkenne das Kaufobjekt erst viel später, als sich die freundliche, ältere Dame, die sich zu uns gesetzt hat, um den jungen Lauschern zu entkommen, mit meiner Begleiterin berät. Der Gegenstand ihrer Ratlosigkeit ist eine absolut scheußliche Spieluhr in billigstem roten Samt ausgeschlagen, die dazu noch als Schmuckkästchen dient. Meine Freundin rät sehr vorsichtig aber bestimmt die verschiedenen Schwachstellen zeigend ab und unsere Reisebekanntschaft kauft nicht.

Der Zug nähert sich Huancayo und noch bevor das allgemeine Sammeln und Präparieren für den Ausstieg einsetzt, kehrt unsere Zeitung, die den gesamten Waggon durchlaufen hat, wieder säuberlich zusammengelegt zu uns zurück.

Text + Fotos: Nil Thraby

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