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[kol_2] Brasilien: Die Kunst der Empörung
Washington Arléo, Provokateur und Vektorenliebhaber

Che Guevara starrt auf eine nackte Frau. Die Frau hat eine Hand zwischen ihren Beinen und masturbiert. Mit der anderen Hand streichelt sie ihre Brust. PRIVILEGIORUM MATERIA!

Sinnlichkeit, Erotik und Pornografie gehen Hand in Hand mit mathematischen Formeln, bekannten Gesichtern wie Lula, Bob Dylan und Fidel Castro und Satzfetzen in den verschiedensten Sprachen. Die Bilder missbrauchen den Begriff des "Schönen", spielen mit den Gedanken des Betrachters, der sich schließlich in Arléos vornehmlich in Schwarz-Weiß gehaltener Welt verliert.

Er spricht nicht gerne über die Techniken, die er in seinen Bildern anwendet. "Ständig kommen Leute hier vorbei und fragen mich aus, um dann meinen Stil zu kopieren."


Zwei Galerien im historischen Zentrum von Salvador stellen seine Werke aus. Aber heutzutage verkauft er am meisten in wohlhabende Länder wie die Schweiz, Deutschland und die Niederlande. "Ich denke, dass die Leute dort mein Werk besser verstehen als hier."

Touristen gehen an dem Bild mit der masturbierenden Frau vorbei, auf dem Weg zum Pelourinho, dem zentralen Platz des historischen Stadtkerns. Neben dem für viele anrüchigen Werk kann man auch das Harmlose kaufen, mit kleinen bunten Häuschen drauf, Capoeira-Szenen und lächelnden Gesichtern typischer Baianos und Baianas. Aber das Schöne und Nette ist nicht die Sache von Arléo, Salvadors Nummer Eins Provocateur, dessen Hauptziel stets die vollkommene Verwirrung seiner Zuschauer ist.

Und er steht auf Frauen, besonders wenn sie verheiratet sind. Er liebt es, Skandale zu provozieren mit seiner seinen Geliebten gewidmeten pornografischen Poesie und den dazugehörigen Fotos derselbigen, die er auch im Internet veröffentlicht. "Und ich bin verrückt nach Vektoren. Die male ich besonders gerne."


Er zündet sich eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten. "Ich würde ja gerne aufhören zu rauchen. Aber es geht nicht.... dafür rauche ich viel zu gerne."

Arléo ist ein Alleskönner: Maler, Skulpteur, Bühnenbildner, Poet und irgendwie Allgemeinkünstler, Autodidakt, ohne jedwedes Studium. Dabei hatte er sogar ein Studium an der UFBA in Salvador begonnen, doch da verursachte er Polemiken und noch mehr Chaos. Bis er schließlich sogar verklagt wurde.

Wenn er über den Pelourinho schlendert, begrüßt er alle Welt. Und es sieht so aus, als ob die Leute unschlüssig sind, ob sie Angst vor ihm oder Mitleid mit ihm haben sollten. Er ist stets der Mittelpunkt jeglicher Gerüchte, zumeist der heftigeren Art. Und er ist stets eine Bedrohung für jede Art von Establishment; immer bereit, zu streiten, zu kämpfen, und vor allem seine Schimpfwörter der übelsten Kategorie lauthals über allen auszukippen. Er ist ein „alter Hund" Im Viertel, obwohl er für seine 52 Jahre buntes Leben äußerst jugendlich wirkt.

Aber was haben Che Guevara, Lula und Fidel Castro im Jahre 2007 gemeinsam auf einem Bild zu suchen? "Wir Latinos, wir Dritte-Welt-Kinder, müssen uns unsere eigenen Ikonen suchen. Und Che symbolisiert für mich jegliche Form von In-Frage-Stellung und Empörung."

Er zündet eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten. "Es gibt eine Tendenz nach Links in Lateinamerika, aber das ist nur ganz natürlich. Denn der große Antagonist der linken Politik sind nun einmal die USA. Sie sind Invasoren, und sie mischen sich ständig in das politische Leben der anderen Länder ein."


Eine sanfte Brise durchweht die kleine Bar und sorgt für etwas Erfrischung an diesem sonnig-heißen Sonntag. "Die kubanische Revolution war vielleicht nicht gerade DER große Erfolg, aber hat immerhin einen Weg aufgezeigt. Aber jede stagnierende Revolution verwandelt sich in etwas Konservatives und Reaktionäres – das passiert ganz automatisch. Man muss ihnen halt die Fehler vergeben, denn eine wirklich faire Chance zur freien Entwicklung haben sie nie gehabt."

Die kubanische Freundin an seiner Seite verdreht ihre Augen. "Das ist leicht gesagt – schließlich musst Du ja nicht in Kuba leben." Er zündet eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten.

Die Augen bleiben strikt hinter einer Sonnenbrille versteckt. Selbst drinnen in der Bar. Da lässt er nicht mit sich reden. "Aber niemand kann verneinen, dass die kubanische Revolution ein wichtiger politischer Meilenstein war. Und Che ist der Poet der Empörung – wo auch immer ein Mann auf dieser Welt Empörung verspürt, ist Che Guevara an seiner Seite."

Alter politischer Haudegen, ehemaliger Präsident der Vereinigung der Bildenden Künstler Bahias, Ex-Mitglied im Rat der Carnavals-Organisation. Heute ist er zutiefst empört über die Richtung, die der Carnaval in Bahia eingeschlagen hat: die von Unternehmen gesponserten Logen, die exklusiv den Reichen und den Stars vorbehalten sind, die unglaublich teuren „offiziellen" Verkleidungen der einzelnen Blocks, die Invasion der Touristen, die den Einheimischen ihre Plätze wegschnappen. „Und das Volk bleibt im Popkorn sitzen."


"Der Carnaval stammt aus dem Innersten des Volkes, aber heutzutage hat er sich in eine riesige Gelddruckmaschine verwandelt. Sobald das Großkapital einsteigt, und mit ihm das kommerzielle Interesse, gibt es kein Halten mehr. Keinerlei Sinn und Gespür für die Grenzen, für die Tiefe und Bedeutung des Events, das sie sich unter den Nagel gerissen haben. Und das komplette kulturelle Erbe reißen sie nieder, im Tausch gegen ihre sprudelnden Einnahmen. Der Preis hierfür ist sehr hoch, und manchmal ist der Prozess unumkehrbar."

Käufer für seine Werke auf dem heimischen Markt zu finden, wird mit der Zeit immer schwieriger. "Ich hab mit sehr vielen Leuten gestritten. Dabei versuche ich eigentlich, mich zu beherrschen. Aber wenn ich dann erst mal das Mikrofon in meiner Hand habe, werfe ich meinen ursprünglichen Diskurs über Bord und improvisiere blitzschnell. Und dann sage ich halt, was ich so denke." Er benutzt seinen beißenden poetisch künstlerischen Diskurs um öffentlich anzuklagen, wobei er auch schon mal alle Welt dabei verhöhnt und der Lächerlichkeit preisgibt.

So stellte er sich öffentlich gegen den Versuch, die Gay Parade mit öffentlichen Geldern aus der Kunstförderung zu finanzieren. Und das mit den Steuergeldern der einfachen Arbeiter! "Klar macht man sich damit hier keine Freunde. Denn die hier gültige Währung ist der Arsch, und wer den seinigen nicht zur Verfügung stellen will, kommt nicht weit." Direkt wie die Vektoren, die er so gerne mag.

Er zündet eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten. "Ich rauch ja schon weniger als früher... Und jetzt nur noch Zigaretten. Früher hab ich alles geraucht, nicht weil ich es so gerne mochte, sondern um die anderen zu retten. Ganz alleine habe ich versucht, das ganze Marihuana der Bahia aufzurauchen – um die Gesundheit der anderen zu schützen. Doch als ich etwa halb fertig damit war, merkte ich plötzlich, dass ich nicht mehr ganz richtig tickte."


Er denkt daran, nach Europa zu gehen, "Portugal wohl, wegen der Sprache – schließlich spreche ich ja nix außer dem Portugiesischen. Aber hier in Bahia hat es ja gar keinen Zweck mehr."

Selbst der Sieg der Arbeiterpartei PT in Bahia und das damit eingeleitete Ende der Ära von Antônio Carlos Magalhães kann ihn nicht aufheitern. "Bahia ändert sich niemals, trotz der PT-Regierung. Die Linke hier ist genau wie Magalhães, ist Carlista, oder besser gesagt, die Linke hier ist eigentlich eine Rechte. Das hier ist die Wiege Brasiliens, und hier gibt es immer noch die feinen Senhores und Senhorinhas, und die Leute verneigen sich vor den Mächtigen. Alles hier ist auf einem unmoralischen Fundament aufgebaut, und Gesetze zählen nicht. Das einzig gültige Gesetz ist das des Mächtigen. Selbst die Linke, wenn sie denn mal an die Macht kommt, kniet vor der Rechten nieder, die sie abgelöst hat, und bittet um Verzeihung dafür und um die Erlaubnis zum regieren." Er zündet eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten.

"Die Leute, die jetzt die ganzen Posten besetzen werden, würden niemals gegen die alten Strukturen vorgehen. Denn denen schulden sie ganz viel. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis die, die jetzt abgewählt worden sind, wieder zurückkommen. Die Verhärtung der hiesigen Dominanzen ist nicht zu verhindern. Denn die Bevölkerung hier reagiert überhaupt nicht, hat keinerlei tiefere politische oder philosophische Konzeption."

Er verharrt in einem gedankenverlorenen Schweigen. Dann nimmt er einen Schluck Bier, beobachtet die draußen über den Pelourinho schlendernden Personen. Es ist Sommer, Zeit der Touristenströme.

Und der Carnaval steht vor der Tür. Und fast alle freuen sich schon drauf. "Naja, Zirkus gibt es ja genug hier, und es ist ein hübscher Flecken Erde, gesegnet mit einer traumhaft schönen Küste."

"Und solange es Zirkus gibt, gibt man noch ein bisschen Brot dazu, und alle machen sich froh und lustig zum Samba auf. Das Leben geht weiter! Genau das ist die Art wie der Baiano lebt. Leider. Und das wird sich niemals ändern."

Er zündet eine weitere Zigarette an. Hollywood, die Roten.

Text + Fotos: Thomas Milz