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[art_1] Brasilien: Wer glaubt, der geht zu Fuß

Am 11. Januar zogen etwa 700.000 Menschen durch die Unterstadt von Salvador da Bahia. Sie nahmen teil an der traditionellen Prozession, die über acht Kilometer bis zur Bonfim-Kirche führt, die wie keine andere Institution in Bahia das Nebeneinander des Katholizismus und der afrikanischen Religionen symbolisiert. So sind es die "Baianas" des Candomblé, die die rituelle Säuberung der Kirchentreppen vornehmen. Nicht immer läuft das Neben- und Miteinander der verschiedenen Religionen jedoch so reibungslos ab. So nutzten viele Anhänger der afrikanischen Religionen die Prozession, um deutlich zu machen: "Auch die Anhänger des Candomblé werden von Gott geliebt!"

Ana Karina Rocha, geboren in Santo Amaro da Purificação und aufgewachsen in Salvador, erzählt von ihren Eindrücken während der bunten und lautstarken Prozession unter einer glühenden Sommersonne.



Der Kilometer lange Weg, der die Baianos, die Bewohner von Bahia, bis zur Colina Sagrada, dem "heiligen Hügel" führt, ist beschwerlich, doch die Anstrengung lohnt sich allemal.

Durch meine Erinnerung geisterte noch die letztjährige Messe im Instituto Feminino da Bahia, in Salvador, die von Monsenhor Sadoc gelesen wurde. Sie vermischte sich mit meiner ersten Teilnahme an der Bonfim-Prozession, als ich gerade 17 Jahre alt war. So viele Informationen auf einmal! Als ich klein war, erzählte mir meine Tante Alice von den Messen des Monsenhor in der Matriz da Purificação, und ich war begeistert und stolz ob der Fähigkeit dieses Mannes, genau die Dinge anzusprechen, die sonst niemand ansprach.

So erinnere ich mich deutlich an seine Worte, mit denen er die Messe im Instituto Feminino eröffnete: "Heute haben wir uns hier versammelt, um für all diejenigen zu beten, die sich zur Bonfim-Kirche aufgemacht haben. Denn egal, wen ihr fragt, wohin er unterwegs ist - alle werden sagen: zur Bonfimkirche. Also lasst uns für ALLE beten, die unterwegs sind." Und so beteten wir. Ein katholischer Priester bittet Gott um den Segen für alle, die sich Jahr für Jahr zur Bonfim-Kirche aufmachen. Unglaublich!


Aus meiner Jugendzeit sind noch viele Erinnerungen lebendig: das Flirten mit den Jungs, die Lautsprecherwagen mit ihrer Musik, die Gesellschaft meiner Cousinen, die immer noch meine besten Freundinnen sind. Und ich erinnerte mich jetzt wieder an die unvermeidlichen Schlägereien am Rande, an die Schüsse zum Ende der Prozession, und ich versuchte zu ergründen, wie sich seitdem dieses Fest verändert hat. Damals gab es die LKWs mit Live-Musik, die Carnaval-Blocks, und der Parcour war auf den als Comércio bekannten Stadtteil beschränkt. Heute können die, die nicht mitlaufen, sondern lediglich feiern wollen, im Hafen den "Bonfim-Light" mitmachen, eine VIP-Veranstaltung im Partyzelt. Warum man diese Veranstaltung Light nennt, hab ich noch nicht verstanden. Schließlich verbrennen die Leute dort, im Gegensatz zu den Teilnehmern der Prozession, kaum Kalorien. Eher das Gegenteil ist der Fall, betrachtet man die Unmengen an Bier, Schnaps und Fruchtgetränken, die hier fließen. Aber was soll`s? Für sie haben wir damals ja bestimmt auch gebetet.


Während der Prozession gibt es - genau wie früher - immer noch die unvermeidlichen Betrunken, die fliegenden Händler, die öffentlichen Proteste, die Kundgebungen von Parteien und Politikern und die allgemein herrschende Partystimmung, im Partymachen zumindest ist der Baiano ja bekanntlich unschlagbar. Was neu ist, ist die Ruhe und Gelassenheit der Menschen. Ich verstand, was der Monsenhor damals sagen wollte: Alle die dabei sind, egal ob als aktive Pilger oder Straßenhändler, egal ob sie hier kaufen oder verkaufen, ob sie beten oder protestieren, alle sind unterwegs zur "Sagrada Colina", um dem Herrn, dem "Senhor do Bonfim", zu danken für das, was man erreicht hat, und um alte Gelübde zu erneuern. Und all diese individuellen Wege führen zu einem einzigen Punkt: dem Glauben.

Der Glaube als zusammenführendes Element. Eine seltsame Kraft, von der niemand genau weiß, woher sie kommt, und uns trotzdem durch die tiefste Dunkelheit führt. Trotz der Mittagssonne, der Lichter der Stadt und der verrückten Energie, die durch die Straßen zog, gab es Dunkelheit. Ich ging viele Meter als ob ich blind sei.


Während ich einen Deutschen durch die Prozession führte und ihm die Wichtigkeit des Festes erklärte, vollzog ich in aller Stille meine eigenen Reflexionen. Es gab viel zu sehen und für mich viel zu erklären, aber das gehörte dazu. Überall waren die "Baianas", die festlich gekleideten Frauen des Candomblé, einige noch sehr jung und wohl auf ihrer ersten Prozession, und dann manche die schon seit 25 Jahren oder länger dabei sind. Wie viele Geschichten würden wohl in ihre schmuckvollen Umhänge passen, die sie mit solcher Schönheit präsentieren? Wie viele Information in jeder Wicklung des Kopfschmucks? Und wie viele Menschen sind sich dessen vollkommen unbewusst? Wie oft haben ihre Vorfahren die Stufen der Kirchen von Salvador mit Wasser und Seife gewaschen? Wie viel Stolz steckt in der simplen Aktion des Gehens bis zur Bonfim-Kirche, um dort die Stufen mit parfümiertem Wasser, Lavendel und Blättern symbolisch zu reinigen? Und wie viele Tage brauchten die Frauen, um das in Krügen mitgebrachte parfümierte Wasser herzustellen, auf das alle warten, um damit gesegnet zu werden? Wissen.


Segnung. Die Segnung. Eine Segnung, die nicht im Entferntesten etwas mit dem katholischen Patriarchat zu tun hat. Uma bênção que nem de longe está ligada ao patriarcado católico. Mãe, mães de santo - Mutter, Mütter der Heiligen, Würdenträgerinnen des Candomblé. Segne mich, Mutter! Oxalá, höchster aller Orixas, segne mich. Auf dass alle Heiligen mich beschützen mögen.

Wenn man die Prozession an der Conceição da Praia Kirche beginnt, weiß man nie, was einen erwartet. Wege voll Licht und Sonne. Wir sahen die Filhos de Gandhy losziehen. Axé! Afoxé, eine Kalebasse, die als Rhythmusinstrument benutzt wird, Agogô, zwei miteinander verbundene Metallglocken, die Triangel, blau-weiße Halsketten, die man heutzutage leider nicht mehr gegen einen Kuss eintauschen kann. Der Carnaval beginnt bald... und alle sind schon da, schöne, wundervolle Schwarze, ein Weg voller Frieden. Aber heute ist es anders! Die Wahrnehmung einer Blinden: Farben, Licht und Geräusche.


Noch immer liegt der Lavendelgeruch in der Luft, wir beschleunigen unsere Schritte, während ständig neue Farben um uns herum explodieren. Die Straßenverkäufer bieten und geben alles! Die typischen Bändchen des Senhor do Bonfim an Holzgestellen zur Schau gestellt, die Halsketten der "Gandhi", die Samenkörner des Pau Brasil Baums, die um den Hals, die Schultern und die Arme gehängten Muscheln, die eine menschliche Verkaufsvitrine bilden. Ah! Bahia... und da ist auch noch der, der einen Gringo um ein Foto bittet, ein nach ihm "internationales" Foto, das ihn demnach zu einem Helden machen kann; allerdings soll der Gringo dann bitte schön auch ein Bier kaufen... Der Junge hat mit Sicherheit Stil.


Wir gehen durch das Geschäftsviertel, wo die Menschen ihre Büros verlassen, um die Prozession vorbeiziehen zu sehen. Die Häuser sind geschmückt, und eifersüchtig buhlen die Verzierungen miteinander. Geschmücktes Bahia, mit Bändern voller Prosa. Wir gehen weiter.

Meer, das Ferryboat, Fotos von schwarzen Männern und Frauen, Teil einer stadtweiten Open-Air-Ausstellung mit dem Namen NEGROAMOR. Aber wir haben unsere eigene Live-Ausstellung, Bahia zeigt sich. Eines Tages werden wir wirklich "den Schwarzen" lieben lernen? Wird das eines Tages endlich erlaubt sein? Es geht voran.

Der Block Cortejo Afro zieht vorbei. Frauen trommeln, ORISHALÁ! Sie bereiten die Bühne für den amtierenden Gouverneur vor. Die Frauen trommeln mit männlicher Stärke, ohne ihre Weiblichkeit zu verlieren. Trommeln, tanzen, zeigen sich... durch die Gesänge der Schwarzen der Candomblé-Terrenos. Bahia wartet auf neue Zeiten. Mögen die Mitglieder von "Ghandi" vorbei ziehen,  mögen die Männer vorbei gehen und die Frauen ankommen. Fátima. Batalá.


Als wir am Largo de Roma ankommen, sehen wir die beliebteste Einrichtung der Stadt: die karitativen Einrichtungen der Geistlichen Irmã Dulce. Das Herz zieht sich zusammen, der Glauben wächst und erfüllt die Brust. An den Gittern des Gebäudes, das den Duft von Liebe verströmt, stehen die Alten, Kranken, Menschen mit Behinderungen und Angestellte feiern unseren Vorbeizug. Großartige Menschen, noble Gesten und Frauen. Das Herz einer Frau bewahrt Geheimnisse, die ein Mann niemals zu erdenken träumen würde. Ein Akt des Glaubens.


Weiter vorne sieht man das Schönste was man sich vorstellen kann, die Jungs vom Ylê-Block. Wundervoll, laut, imposant - niemals zuvor habe ich Menschen gesehen, die dermaßen von ihrem Verführungspotential überzeugt waren wie sie. Lindos! Gott schütze Ylê! Dreistigkeit, Verruchtheit, Dein Name ist Ylê Ayê!

Wir sind fast da! Eine lange Allee begrüßt uns mit einer Meeresbrise. Erfrischung, Mutmacher für den finalen Aufstieg. Der Hügel ist ein Meer aus hinauf und hinab schwappenden Menschen. Fluss und Rückfluss. Ich steige hinauf, kaufe meine Bändchen, bitte die Baiana, die neben mir geht, um Segnung. Obrigada. Ich denke an meine Familie, meine Freunde und an diese verrückte Menschenmenge. Ich blicke zur Seite, jemand geht an meiner Seite! Ich bin dankbar dafür. Ich grüße den "Senhor do Bonfim" mit der Gewissheit der erfüllten Pflicht. Du halte die Tränen zurück.


An dem metallenen Zaun knie ich nieder, bete und weine. Ich habe viel zu danken, und nichts zu erbitten. Träume, die wahr geworden sind. Gewonnene Kämpfe. Ich binde meine Bändchen an das Gitter. Die Kirche ist geschlossen, aber niemand braucht sie geöffnet, denn der Glaube ist dort, wo der Mensch glauben will. Ich bete.


Möge Gott, Jesus Christus, der Senhor do Bonfim und Oxalá meine Freunde beschützen, die nicht mehr hier in Salvador sind. Heute vertrete ich sie am Fuße der "Colina Sagrada". Und mögen sie meine Familie beschützen, denn es ist Zeit alleine weiter zu gehen. Und vielleicht können sie ja dafür sorgen, dass meine Freunde ab und zu meine Sehnsucht  erleichtern und mich besuchen mögen.

Die Raketen explodieren am Himmel, die Baianas segnen, weiße Ballons steigen auf und silberne Papierschnipsel regnen herab. Ich hab verstanden warum der, der glaubt, zu Fuß gehen muss. Denn "Gott liebt das Volk des Candomblé"!


Laroiê Exu! Atôto. Auf dass die Orixas uns beschützen mögen.

Text: Ana Karina Rocha
Fotos:
Thomas Milz