portugal: Die "Invasion" der Jesuiten in Äthiopien
Pedro Paez "bekehrt" 1620 Kaiser Susinios III.
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
brasilien: Gastspiel beim Noch-Weltmeister
Matthäus wird Trainer bei Atlético Paranaense
THOMAS MILZ
[art. 2]
guatemala: Schulfunk - Mathe via Radio
KARTHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
venezuela: Mit Esel und Seilbahn nach Los Nevados
DIRK KLAIBER
[art. 4]
grenzfall: Im Grunde ganz einfach
NICO CZAJA
[kol. 1]
pancho: Der heiße Hund
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
ausstellung: Schwarze Götter im Exil
Fotografien von Pierre Fatumbi Verger
INGA HARENBORG
[kol. 3]
lauschrausch: Traffic Sound trifft Jürgen Schwenkglenks
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Portugal: Die "Invasion" der Jesuiten in Äthiopien
Pedro Paez "bekehrt" 1620 Kaiser Susinios III.

Im Jahr 2003 versammelt sich eine spanische Reisegruppe am Tana-See in Äthiopien, unweit der Quellen des Blauen Nils in der ehemaligen Hauptstadt Gorgora um einen halb verwitterten Grabstein, der in einer Kirchenruine steht. Inzwischen ist der Grabstein vom Unkraut befreit und restauriert und zu Ehren des Toten, an den er erinnert, wurde eine Gedenktafel in spanischer und amharischer Sprache angebracht - anlässlich des 400. Jahrestags seiner Ankunft in Äthiopien (1603). Die Reisegruppe, deren Expedition 2003 unter anderem von der Tageszeitung "El Mundo" gesponsert worden war, folgte den Spuren des in Europa weitgehend vergessenen spanischen Missionars Pedro Paez. Inspiriert durch sein Leben und Werk publizierte der spanische Bestseller-Autor Javier Reverte 2001 seinen Roman mit dem Titel: "Dios, El Diablo y La Aventura" (Gott, der Teufel und das Abenteuer). Mit dem Erfolg dieses Romans dürften die Impressionen des Jesuiten Pedro Paez vor der Vergessenheit bewahrt werden.

[Äthiopischer Priester in der Kirche Bet Golgota in Lalibela. Er zeigt zwei der typischen Lalibela-Kreuze]


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Pedro Paez wurde 1564 in einem kastilischen Dorf mit dem schönen Namen Olmedo de las Cebollas in ein Ambiente hineingeboren, das nicht gerade eine glänzende Zukunft erahnen ließ. Doch nachdem er 1582 mit nur 18 Jahren dem Jesuitenorden beigetreten war und einige Jahre im portugiesischen Coimbra studiert hatte, bat er darum, zur "Heidenmission" nach Asien gehen zu dürfen. Von diesem Wendepunkt an entwickelt sich sein Leben zu einer idealen Romanvorlage und er sollte nie mehr nach Europa zurückkehren.

1588 erreicht er zunächst Goa. Diese indische Hafenstadt war seit 1510 portugiesische Kolonie und Sprungbrett für alle Expeditionen der Krone Portugals in Asien und Ostafrika und Ausgangspunkt für Missionsaktivitäten. Auch die Jesuiten gründeten ein Kloster in Goa um von dort aus Gebiete in Indien, China, Japan und Ostafrika zu missionieren. Nach etwa einem Jahr macht sich Pedro Paez auf den Weg nach Äthiopien. Unterwegs wird er von Arabern gefangen genommen und als Sklave verkauft. In einer Sklavenkarawane, zu Fuß und in Ketten, durchquert er als erster Europäer die Wüste Hadramaut im Jemen und verbringt viel Zeit in unterirdischen Kerkern, wie er später berichtet. Insgesamt sieben Jahre dauert seine qualvolle Gefangenschaft, die er dazu nutzt, fließend Arabisch zu lernen. Dann wird er freigekauft, erholt sich einige Zeit in Goa, bevor er erneut aufbricht und 1603 endlich Äthiopien erreicht. Er bleibt in der Nähe der Küstenstadt Massawa und lernt eifrig die äthiopische Landessprache Amharisch sowie die Kirchensprache Geez, das "äthiopische Latein", bevor er sich an den kaiserlichen Hof nach Gorgora am Tana-See begibt. Überraschend schnell gewinnt er die Freundschaft des Negus Negusti ("König der Könige"), wie sich die Kaiser Äthiopiens seit Jahrhunderten nannten. Kaiser Za-Dengel ist fasziniert von diesem seltsamen Fremdling, der seine Sprache perfekt spricht und einen sehr weiten Weg zurück gelegt hat, nur weil er sich gern mit ihm über Gott, die Heilige Schrift und den Papst unterhalten möchte.

[Pilger auf dem Weg ins einsame "schwarze Jerusalem" Lalibela]


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Warum war Paez in dieses entlegene Land gekommen, das er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen würde? Und was bedeutete sein Zusammentreffen mit dem Kaiser vor dem Hintergrund der langen Geschichte Äthiopiens?
Für die Europäer der frühen Neuzeit, die erstaunlich wenig über diesen Teil der Welt wussten, war Äthiopien das sagenumwobene Land des "Priesters Johannes" - so wird es von vielen portugiesischen und spanischen Entdeckern genannt. Man glaubte, dass diese geheimnisumwitterte Gebirgsregion im östlichen Afrika von einem Priesterkönig regiert würde. Und so falsch war diese Idee nicht. Denn obwohl die orthodoxe Kirche Äthiopiens nominell abhängig war vom Patriarchen im ägyptischen Alexandria, der wiederum den äthiopischen Patriarchen ernannte, entwickelte sie sich de facto spätestens seit der Zagwe-Dynastie im 12. Jahrhundert unabhängig. Oft waren die Kaiser im Falle eines schwachen Patriarchen auch die eigentlichen Führer der Kirche - und viele von ihnen trugen tatsächlich den Namen Johannes.

Pedro Paez berichtet in seinen Schriften von der Geschichte Äthiopiens und dem Gründungsmythos des Kaiserhauses, wobei er sich auf die Chroniken der Herrscher ("Kebra Naghast") bezieht. Alles begann der Legende nach tausend Jahre vor Christus mit der Liebe zwischen dem israelitischen König Salomon und der Königin von Saba, die aus Äthiopien kam. Alle äthiopischen Kaiser führten ihre Dynastien zurück auf die Nachkommenschaft von Salomon und der Königin von Saba (wobei keineswegs klar ist, ob es überhaupt zu einer Vereinigung der beiden kam - das Alte Testament bleibt hier unklar und lässt viel Spielraum für Interpretation). Und noch der letzte Kaiser Äthiopiens, RasTafari, der später offiziell Haile Selassie hieß, schmückte sich mit dem Beinamen "der Löwe von Juda". Es muss schon vor unserer Zeitrechnung enge Beziehungen zwischen Äthiopien und Israel gegeben haben, denn man pflegt im abessinischen Hochland bis heute erstaunlich viele jüdische Traditionen.

[Die "unterirdische" Kirche Bet Giorgis - das meist fotografierte Motiv in der heiligen Stadt Lalibela]


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Seit Kaiser Ezana im 4. Jahrhundert zum Christentum übertrat, gilt Äthiopien - zusammen mit Armenien - als ältester christlicher Staat der Welt. Aber das äthiopische Christentum hat auch zahlreiche jüdische Elemente bewahrt, z.B. die Beschneidung, die Feier des Sabbats, Speise- und Fastengebote (Verbot von Schweinefleisch). Gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstand während der Regierungszeit des Kaisers Lalibela an dem heute nach ihm benannten, einsamen Ort in 2800 Metern Höhe das "schwarze Jerusalem": die zwölf berühmten Felsenkirchen von Lalibela. Seit 1978 Weltkulturerbe, wurden sie gebaut als ein Abbild des Jerusalemer Tempels - wie man sich ihn in Äthiopien vorstellte - und durch einen gewaltigen architektonischen Kraftakt aus den Felsen gemeißelt. Der portugiesische Missionar Francisco Alvarez war im 16. Jahrhundert so erstaunt angesichts dieses Architekturwunders, dass er es mit der Kathedrale von Santiago de Compostela verglich und behauptete, es müssten wohl Weiße gewesen sein, die dies gebaut hätten - den Bewohnern des schwarzen Kaiserreichs traute er dies nicht zu.

[Die Kirche Bet Giorgis ist nur durch unterirdische Tunnel zu erreichen]


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Kontakte Äthiopiens zum christlichen Europa gab es verstärkt seit dem 15. Jahrhundert, nachdem Kaiser Zara Yacob (1434 – 1468), motiviert durch die islamische Bedrohung, die u.a. vom expandierenden Osmanischen Reich ausging, eine offizielle Bitte um militärische Hilfe an Portugal richtet. Es sollte Jahrzehnte dauern bis eine nennenswerte Reaktion aus Portugal erfolgte und der Kaiser selbst erlebte es nicht mehr. 1520 traf ein portugiesisches Schiff mit Soldaten und Missionaren ein und 1541 eilt Cristovao da Gama, der Sohn des Admirals und Entdeckers Vasco da Gama, den Äthiopiern gegen die Moslems zur Hilfe. Zunächst jedoch ohne Erfolg, denn die muslimische Invasion scheint voran zu kommen und Cristovao da Gama stirbt in der Schlacht. Aber zwei Jahre später werden die Moslems besiegt und wieder aus dem äthiopischen Hochland verdrängt.

Parallel zur halbherzigen Waffenhilfe entwickelten die Portugiesen - und Hand in Hand mit ihnen die Spanier (1580 - 1640 wurden Spanien und Portugal in Personalunion von den spanischen Habsburgern regiert) - noch andere, höchst interessante Aktivitäten im Kaiserreich Äthiopien. Etwa ein Jahrhundert lang, von 1520 - 1620, gaben sich iberische Missionare verschiedener Orden in den kaiserlichen Residenzen rund um den Tana-See die Klinke in die Hand - mit dem abenteuerlichen Ziel, das äthiopisch orthodoxe Kaiserhaus in ein römisch-katholisches zu verwandeln. Besonders hartnäckig wurde dieses Projekt von den Jesuiten verfolgt. Die ersten von ihnen, Vorgänger von Pedro Paez, kamen 1557 ins Land.

[Trommelnde Messdiener bei Freiluft-Gottesdienst vor der Kirche Bet Maryam in Lalibela]


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Nicht bekannt ist, wer den Auftrag zu den Missionen erteilte: König Philipp II. (1556 - 1598), Herrscher von Spanien und Portugal und bekannt für seinen Missionseifer, oder der Papst in Rom. Offenbar hatten beide, der Pontifex Maximus und Seine Allerkatholischste Majestät - ein nahe liegendes, machtpolitisches Interesse an einem katholischen Äthiopien. Jedenfalls war es ein Beispiel für europäische Arroganz, ausgerechnet das älteste christliche Land "missionieren" zu wollen, um den Einflussbereich des römischen Papstes auszuweiten. Christus hätte es wohl lieber gesehen, dass sich in jenen Tagen äthiopische Missionare auf den Weg ins dekadente Europa machten, wo sich machtgierige Päpste wie Klemens VIII. oder Paul V. mit mehr Hingabe der Eintreibung von Ablassgeldern oder der Versorgung ihrer Neffen mit Kardinalswürden widmeten, als sich um Glaubensfragen zu kümmern.

Pedro Paez vertritt im fernen Äthiopien zweifellos auch katholische Missionsabsichten und führt zahlreiche theologische Diskussionen mit Kaiser Za-Dengel, mit dem er Freundschaft schließt. Und er hat Erfolg: 1604 konvertiert der Kaiser offiziell zum Katholizismus. Aber noch im gleichen Jahr wird er während einer Rebellion getötet. Dieser Widerstand war vom äthiopischen Patriarchen unterstützt worden, der seinen Kaiser nun plötzlich als Ketzer verdammte. Denn für den "Abuna Salama" ("Vater des Friedens") - so der Titel der äthiopischen Kirchenführer - war der Übertritt zum Glauben des dahergelaufenen Fremdlings ein skandalöser Affront und ein plötzlich katholischer Kaiser eine Gefahr für das ganze Land.

Dennoch ist Pedro Paez als historische Person differenzierter zu beurteilen und verdient Respekt. Denn erstens symbolisiert er nicht nur die eher "negativen" Eigenschaften der Jesuiten (kritiklose Papsttreue und katholischer Universalanspruch), sondern er steht auch für die "positiven" Merkmale dieses Ordens: ein hohes Bildungsideal, Offenheit für fremde Kulturen und Synkretismus, der katholische und einheimische Traditionen zu vereinigen sucht.

[Die rosarote Felswand der Kirche Bet Gabriel in Lalibela mit Priester in der Türöffnung]


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Und zweitens interessierte er sich wirklich für das Land, das seine zweite Heimat wurde, und widmete ihm voller Bewunderung seine monumentale, tausend Seiten lange "Historia geral de Etiopia", die leider als unveröffentlicht gelten kann. Das Schicksal dieses so fundamentalen Werkes der Historiographie ist ein Trauerspiel, denn die einzige Ausgabe von 1945 mit winziger Auflage ist längst vergriffen und es gibt nur noch ein halbes Dutzend Exemplare, die in dunklen Ecken portugiesischer Archive dahin dümpeln. Es gibt bis heute weder eine spanische noch eine amharische Übersetzung. Dabei wäre es für die Äthiopier des 21. Jahrhunderts interessant zu lesen, was ein spanischer Mönch in portugiesischer Sprache vor 400 Jahren über ihr Land geschrieben hat.

Für die Europäer des 17. Jahrhunderts müssen seine Schilderungen höchst spannend gewesen sein. Denn der Jesuit Pedro Paez sammelt Eindrücke aus einem exotischen Land, die vor ihm noch niemand aus dem Abendland in Worte gefasst hatte. Dieser Abenteurer Gottes entdeckt bei einem Ausflug mit dem Kaiser als erster Europäer 1618 die Quellen des Blauen Nils. Er beschreibt seine Gefühle angesichts der Nilquellen mit den Worten: "Ich gebe zu, dass es mich sehr freute, etwas erblicken zu dürfen, das der König Kyros, der große Alexander und Julius Caesar (vergeblich) zu sehen wünschten."

Aber Pedro Paez macht eine für den Rest der Welt vielleicht noch wichtigere Entdeckung. Er berichtet - wahrscheinlich als erster Europäer - über das obskure Getränk, das ihm heiß serviert wird und seine Sinne stimuliert: Kaffee!

Trotz der Fülle von Eindrücken vergisst der Entdecker, Architekt (er baute mehrere Kirchen in Gorgora) und Historiker Paez nicht seine Hauptaufgabe. Auch mit Kaiser Susinios (Susneyos) III., der von 1607 - 1632 regiert, führt er lange theologische Gespräche. Dabei scheint jedoch sein Missionseifer immer mehr hinter einem echten religiösen Dialog zurück zu treten, der eher eine Union der beiden Kirchen anstrebt statt römische Missionierung. Und als der Kaiser ihm sagt, er wolle offiziell katholisch werden, gibt Paez ihm den Rat, damit zu warten, um nicht erneut einen Bürgerkrieg zu provozieren.

[Kaiserliche Residenz von Fasildas in Gondar]


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Am 20. Mai 1622 stirbt Pedro Paez unerwartet an einem Fieber - ein Jahr, nachdem Kaiser Susinios entgegen seinem Rat den Übertritt zum katholischen Glauben verkündet hatte. Die portugiesischen Nachfolger dieses außergewöhnlichen Missionars, die von nun an Einfluss auf den zweiten katholischen Kaiser ausübten, waren weniger tolerant als Paez. Der Jesuit Alphonsus Mendez will viele einheimische Traditionen verbieten, alle Einwohner neu taufen lassen und er lässt sich selbst zum neuen Patriarchen Äthiopiens ausrufen! Von 1622 - 1632 ist also nominell ein Jesuit äthiopischer Kirchenführer. Neben dem Habsburger Ferdinand II. wird Susinios III. der zweite katholische Kaiser der Welt. Es kommt erneut zu einem bürgerkriegsähnlichen Chaos, bis der Kaiser 1632 ein Einsehen hat und zugunsten seines Sohnes Fasildas abdankt. Der neue Kaiser macht kurzen Prozess und beendet abrupt das jesuitische Intermezzo: alle Jesuiten werden aus Äthiopien vertrieben, fünf von ihnen exekutiert. Während seiner langen Regierungszeit 1632 - 1668 lässt er ab 1636 die neue Hauptstadt Gondar aufbauen. Hier zeigt sich, dass die lange Präsenz der Jesuiten auch Vorteile hatte, denn Architekten, die von den Jesuiten ausgebildet worden waren, bauen die Kaiserpaläste von Gondar, die heute eine Touristenattraktion sind und in der Tat nicht sehr afrikanisch, sondern eher wie eine portugiesische Burg in Braga oder Evora aussehen.

[Palast von Kaiser Fasildas in der alten Hauptstadt Gondar, erbaut von Jesuiten-Schülern]


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Diese architektonische Bereicherung ändert jedoch nichts daran, dass seit der "jesuitischen Invasion" in Äthiopien ein tiefes Misstrauen gegenüber allen europäischen Einflüssen herrscht. Vielleicht hat dies sogar dazu beigetragen, dass das Kaiserreich als einziger Staat Afrikas nie europäische Kolonie wurde. Diese Gefahr wurde noch fast drei Jahrhunderte später von Kaiser Menelik II. abgewendet, der 1896 in der Schlacht von Adua die Italiener vernichtend besiegte - es war der erste und einzige Sieg eines afrikanischen Heeres gegen Europäer im 19. Jahrhundert. Das Kaiserreich Äthiopien fand mit der Ermordung des von der Rastafari-Bewegung als Messias verehrten letzten Kaisers Haile Selassie 1975 durch die sozialistischen Militärdiktatoren ein ruhmloses Ende.

[Ein Heiliger am Eingang zum Tempelbezirk von Lalibela: Urchristentum pur]


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Doch die Geschichte des Landes und seiner unabhängigen Kirche bleiben faszinierend. Und man darf hoffen, dass das monumentale Werk von Pedro Paez, das viel zum Verständnis von Äthiopien beiträgt, endlich neu veröffentlicht und übersetzt wird.

Text + Fotos: Berthold Volberg





[art_2] Brasilien: Gastspiel beim Noch-Weltmeister
Matthäus wird Trainer bei Atlético Paranaense

Kyocera Arena, Curitiba, Südbrasilien: Eine Putzkolonne fegt das Stadion von Atlético Paranaense noch einmal richtig durch. Der Rasen wird gewässert, und noch sind die funkelnagelneuen Sitzschalen der Trainerbank in Plastikfolie verschweißt. Alle warten auf Lothar Matthäus. Er wird hier am 01. Februar Platz nehmen. Der ehemalige Kapitän der deutschen Weltmeisterelf von 1990 und Weltfußballer des Jahres 1991 ist auf der Suche nach einer neuen Herausforderung als Trainer in Südamerika auf Atlético Paranaense gestoßen.


Spieler, Funktionäre und Fans von Atlético Paranaense sind stolz darauf, Loddar für sich gewonnen zu haben. Er soll dem Klub Titel bringen. Bisher schmücken erst zwei Sterne die rot-schwarzen Vereinstrikots. Ein silberner für den Gewinn der 2. Liga im Jahre 1995, der den erstmaligen Aufstieg des 1924 gegründeten Vereins in die erste Liga bedeutete. Und ein goldener für die 2001 errungene brasilianische Meisterschaft. Viel zu wenig für den aufstrebenden Klub.


Matthäus Name steht in Curitiba für Effizienz und teutonische Disziplin - klassisch deutsche Tugenden sollen dem Team im Wettbewerb mit anderen brasilianischen und südamerikanischen Mannschaften Vorteile bringen. "Trotz all der neuen Strukturen, die wir geschaffen haben, wie das neue Stadion und Brasiliens modernstes Trainingscenter, haben wir nicht so viele Titel gewonnen, wie wir vorhatten. Oder wie wir sie eigentlich verdient hätten", sagt Antonio Carlos Gomes, als technischer Leiter zuständig für die Trainingsplanung bei Atlético.


2004 wurde der Klub nur Vizemeister des Campeonato Brasileiro, der brasilianischen Meisterschaft, und letztes Jahr unterlag man im Finale der Südamerika Champions League, der Copa Libertadores, dem späteren Weltpokalsieger FC São Paulo. Das soll nicht wieder passieren.


Doch Atlético erwartet noch mehr von Matthäus als viele Titel: er soll auch helfen, den Export eigener junger Spieler ins Ausland, vor allem nach Europa, anzukurbeln. Man will seine weltweit guten Kontakte innerhalb der Fußballszene nutzen, um Atlético und seine Spieler bekannt zu machen. Atlético hat in den letzten Jahren konsequent auf Jugendarbeit und Talentförderung gesetzt. Ein Netz von vereinseigenen Fußballschulen überzieht das ganze Land. So sind Brasiliens Jugendnationalmannschaften seit den 90er Jahren mit Spielern Atléticos gespickt.


Wie Stürmerstar Dagoberto Pelentier, der bereits als neuer Ronaldinho gefeiert wird. Klubs wie der Hamburger SV haben sich schon um ihn bemüht. Doch noch gibt man ihn nicht frei. Zuerst braucht man ihn noch, um Titel zu sammeln. Zudem will Dagoberto noch in letzter Minute auf den WM-Zug aufspringen. Dass würde seinen Marktwert noch mal nach oben schießen lassen. Aber dafür muss er in den nächsten Monaten in Brasilien brillieren - und nicht in der deutschen Provinz.

Der Verein ist auf die Spielerverkäufe angewiesen. Der vereinseigenen Kyocera Arena, 1999 eingeweiht, fehlt noch die Tribüne der Gegengeraden. Bis Ende 2007 soll die Lücke geschlossen werden, was das Fassungsvermögen der Arena von 25.000 auf 40.000 Besucher ansteigen lassen wird.


Außerdem wird das vereinseigene Trainingscenter vor den Toren der Stadt noch einmal kräftig ausgebaut. Schon jetzt stehen acht Rasenplätze, ein Platz für spezielles Torwart- und Schusstraining, Krafträume und feinste sportmedizinische Einrichtungen zur Verfügung. 2002 bereitete sich hier Brasiliens Nationalmannschaft auf die Weltmeisterschaft in Japan und Korea vor.


Matthäus wird wohl lediglich auf Samba und Carnaval verzichten müssen. "Curitiba ist die Stadt in Brasilien, die Samba am meisten hasst. Es gibt starke kulturelle Bewegungen in der Stadt, die versuchen, den Carnaval und damit auch den Samba abzuschaffen", erzählt Toni Casagrande, Pressesprecher des Vereins. "Sie wollen Curitiba während der fünften Jahreszeit in eine carnavalsfreie Stadt verwandeln. Dann können all die Brasilianer, die den Carnaval nicht mögen, hierhin flüchten, und in aller Ruhe Jazz hören."

Ob Matthäus wohl Jazz mag?

Text + Fotos: Thomas Milz






[art_3] Guatemala: Schulfunk - Mathe via Radio

Pünktlich um 18.00 sitzt Melisa mit aufgeschlagenem Schulbuch in der ärmlichen Hütte ihrer Familie. Ein gackerndes Huhn macht es sich unter ihrem wackeligen Schreibtisch bequem. Melissa achtet nicht darauf. Konzentriert wartet die 14-jährige, dass Radio Asunción 92,3 FM ankündigt: "Bienvenidos a nuestro programma el maestro en casa." Das tragbare Radio knackt und rauscht. Aufmerksam beginnt Melisa die Lektion in ihrem Mathematikbuch mitzulesen. Überall in der Region Tacaná sitzen jetzt Schüler vor ihren Radiogeräten und lernen die Begriffe "Radius" und "Durchmesser", denn das Programm "Der Lehrer im Haus" ist für 243 Kinder und Jugendliche die einzige Möglichkeit, in ihren abgelegenen Dörfern einen Schulabschluss zu machen, der über die Grundschule hinausgeht.

Seit zwei Jahrzehnten gibt es das Radioschulprogramm IGER (Instituto Guatemalteco de Educación Radiofónica) in Guatemala, doch in die Region in den Bergen kurz vor der Grenze zu Mexiko kam es erst vor drei Jahren, denn dies ist eine der abgelegensten und ärmsten Regionen des Landes.


Der überwiegende Teil der rund 78.000 Menschen, die in der unwirtlichen Gegend auf gut 3.000 Metern Höhe leben, sind Indigenas, Nachfahren der Maya. Nur auf Betreiben der Diözese San Marcos und mit der finanziellen Unterstützung der deutschen Kindernothilfe wurde hier die Infrastruktur für die Radioschule geschaffen.

Melisa hat einen langen Tag hinter sich. Im Morgengrauen ist sie aufgestanden, um Holz für das Frühstück zu hacken und die Hühner zu füttern. Das Tageslicht hat sie genutzt, um mit ihrer Familie den Mais zu ernten. Erst mit Einbruch der Dunkelheit hat sie überhaupt Zeit, sich um ihre Ausbildung zu kümmern. "Diese Radiokurse und Bücher sind sehr gut gemacht, ich verstehe alles." Melisa ist nicht die einzige in der Familie, die dem Radioprogramm aufmerksam lauscht. Ihr 23-jähriger Bruder León, der eigentlich in einer kleinen Schreinerwerkstatt arbeitet, hört wie sie nach einem harten Tag die 1. Sekundarschulklasse, was in etwa unserer 7. Klasse entspricht.

"Als ich mit der Grundschule fertig wurde, gab es diesen Radiounterricht noch nicht. Jetzt nutze ich dieses Chance, um doch noch einen Schulabschluss zu bekommen, auch wenn ich schon älter bin.

Und selbst wenn ich nachher kein Zeugnis in der Hand habe, habe ich etwas gelernt, was ich für meinen Beruf gebrauchen kann", sagt León. Und noch jemand ist dabei, wenn das Radio den Unterricht ausstrahlt: Melisas Vater José hört oft gespannt zu und schaut manchmal sogar in die Schulbücher seiner Kinder, besonders dann, wenn es um Themen wie Haushaltsplanung und Kostenkalkulation geht.

Einen Lehrer bekommen Melisa und León nur am Wochenende zu Gesicht, und das auch erst nach einer guten Stunde Fußmarsch. Endlich ist ein einfaches Häuschen mit Wellblechdach in dem Dorf "La Reforma" erreicht. Dies ist das nächst gelegene "Centro de Orientación", eines der Lehrzentren, die in neun der insgesamt 148 Ortschaften der Region eingerichtet wurden. Auch die Lehrerin ist bereits eingetroffen – Herlinda Velasquez sieht noch etwas mitgenommen aus nach ihrer zweistündigen Fahrt auf der Ladefläche eines wackeligen Pickups, der über eine ausgewaschene Schotterpiste gebrettert ist. 26 Schüler haben sich eingefunden, um sich die Dinge erklären zu lassen, die sie in den Radiostunden nicht verstanden haben. Herlinda ist zufrieden mit ihren Schülern: "Schüler, die sich die Zeit nehmen, nach der täglichen Arbeit noch einen Radioschulkurs zu besuchen, sind ehrgeizig.

Sie wissen, wie wichtig es ist, etwas zu lernen, um im Leben voranzukommen. Und deswegen lernen sie, wann immer sie können." Für eine Lehrerin ist Herlinda mit ihren 21 Jahren sehr jung, was daran liegt, dass sie noch gar keine richtige Lehrerin ist.


Herlinda lernt das Lehrerdasein noch in der Hauptstadt der Region, Tacaná. Studieren muss man in Guatemala nicht, um den Titel "Maestro" verliehen zu bekommen. Noten geben darf sie trotzdem. Vier mal im Jahr teilt sie Prüfungsbögen aus, Multiple Choice Tests, mit denen überprüft wird, ob die Schüler den Stoff auch beherrschen. "Es hilft mir sehr, diesen Unterricht zu geben, dabei lerne ich selber viel für meine Zukunft", erklärt sie ihr Engagement.

Neun solcher Lehrzentren befinden sich in der Region, die etwas kleiner ist als der Stadtstaat Bremen, und so unwegsam, dass sie nur mit Geländewagen zu bereisen ist. Da nicht alle Dörfer von den Radiowellen erreicht werden, machen sich manche Schüler nicht nur am Wochenende, sondern jeden Tag, in die Lernzentren auf, um dort gemeinsam die Lektionen auf CD zu hören. Als Enrique Gonzales Perez, der Koordinator des Projektes und Mitarbeiter der Diözese damit begann, den Schulfunk in die entlegenen Dörfer zu senden, gab es gerade einmal fünf Lernzentren. "In diesem Jahr sollen es zwölf werden, wenn wir das Geld zusammen bekommen, um die Lehrer zu bezahlen", wie Enrique erklärt. Die Nachfrage nach Weiterbildung wächst: Jedes Jahr melden sich mehr Schüler zum Unterricht an – wenn sie ihn sich denn leisten können. Denn umsonst ist er nicht. Die Schüler müssen nicht nur ein Radiogerät und Bücher kaufen, sondern außerdem eine Gebühr von bis zu 100 Euro pro Semester für den vom Staat konzipierten Unterricht entrichten. In einer Gegend, in der das Jahresdurchschnittseinkommen bei 1.300 Euro liegt, ist das mehr Geld als viele Familien aufbringen können.



Melisa und León bringen dieses Geld irgendwie zusammen. Bildung, dass wissen die Geschwister, ist der einzige Weg, um einem Leben in einer windschiefen Hütte mit gestampftem Erdfußboden zu entkommen. Melisa würde gerne Ärztin werden, aber das wird wohl ein Traum bleiben, denn dass Kinder von landlosen Bauern eine Universität besuchen, das ist eine absolute Ausnahme. Sie weiß das und lernt trotzdem weiter. "Für irgendwas wird es nützlich sein", da ist sie sich ganz sicher.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
276 Seiten
36 detaillierte Karten und Ortspläne, Umschlagkarten, Register, Griffmarken, 120 Farbfotos ISBN 3-89662-338-9
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2005





[art_4] Venezuela: Mit Esel und Seilbahn nach Los Nevados

Unterwegs in Mérida, umgeben von den Gebirgen Sierra de la Culata und Sierra Nevada, vertieft in die Entdeckung der Stadt, der Plätze, der Kirchen, der gebrannten CD/DVD-Läden, der Saftstände und der Düfte nach frischgemahlenem Kaffee und Empanadas, blendet den Reisenden zwischen den Gebäuden oder den mit Bärten aus Moosgeflecht behangenen Bäumen der Parks hindurch der ewige Schnee des Berges.

Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Und dann scheint für einen Moment alles Leben und Treiben still zu stehen, denn der Pico Bolívar, mit 5007 Metern der höchste Berg Venezuelas, ruft.


Um dieser Aufforderung nachzukommen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man trekkt sechs Tage mit ausreichend Proviant und Zelt bepackt vom Tal La Mucuy den Lagunentrail hinauf und dann weiter von Gipfel zu Gipfel oder man löst wie im folgenden beschrieben ein Ticket für eines der Aushängeschilder Méridas, den Teleférico, die längste und höchste Seilbahn der Welt.

Früh am Morgen erfolgt der Start, denn ab mittags liebt es der Himmel, Méridas höchste Berge in Wolken zu hüllen, was den endlosen Blick in die Ferne verwehrt.



Die Seilbahnfahrt
Inmitten der Innenstadt Méridas, am Plaza las Heroinas, liegt die Talstation Las Barinitas auf 1577 Metern Höhe. Von hier aus startet die Seilbahn und erreicht nach 45 Minuten die Endstation Pico Espejo auf 4765 Metern. Die 12,5 Kilometer Wegstrecke legt man in Teilabschnitten zurück, wobei man vier mal die Gondel wechselt. Zwischen den Wechseln gibt es kleine Pausen zur Gewöhnung an die Höhe.

1. Abschnitt: Las Barinitas(1580m) nach La Montaña (2444m)
Schon nach wenigen Metern schwebt die Seilbahn über einem gewaltigen Abgrund, der den Río Chama beherbergt und die 500 Meter höher gelegene Ebene, auf der die Stadt Mérida liegt, von den Bergen der Sierra Nevada trennt. Mit jedem Meter, den sich die Gondel von Mérida entfernt, wachsen die Ausmaße der Stadt, die der Blick einfängt.

Die Landschaft ist zunächst geprägt von Zuckerrohr und Kaffee, geht aber bald über in einen dichten subtropischen Nebelwald. Dann nach 3450 Metern erreicht man die Station la Montaña.
Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

2. Abschnitt: La Montaña nach La Aguada (3450 Meter)
Auf diesem Teilstück wechselt der Nebelwald zum Elfenwald. Auffallend sind Bäume (Cecropien) mit hellen, fast weißen Blättern, die aus dem durch Grüntöne bestimmten Wald hervorstechen. Ihre Blätter sind mit phosphathaltigen Härchen überzogen, die die Sonnenstrahlen reflektieren und so den Eindruck erwecken, weiß zu sein. Der Stamm dieser Bäume ist von innen hohl und in Kammern unterteilt, in denen eine Ameisenart lebt, die sich von den Härchen auf den Blättern des Baumes ernährt. Die Bäume profitieren ihrerseits von den Ameisen, denn sie halten Brüllaffen und Faultiere fern.

3. Abschnitt: La Aguada(3440m) nach Loma Redonda (4045 Meter)
Der Pico Bolívar rückt zunächst erstmals ins Blickfeld und dann immer näher und zeigt sodann seinen Gletscher Cascada del Sol.

Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Der Wald wird spärlicher. Bäume jedoch finden sich in den Anden im Gegensatz zu den Alpen (Baumgrenze bei 3000 Meter, Vegetationsgrenze bei 4600 Meter) auch noch über 4000 Metern. Bestimmt wird das Landschaftsbild aber von den prägenden Frailejones (Espiletien).


Die Station Loma Redonda ist Ausgangspunkt für die Wanderung nach Los Nevados. Doch zuvor geht es weiter den höchsten Gipfeln Venezuelas entgegen.

4. Abschnitt: Loma Redonda nach Pico Espejo (4765 Meter)
Der Höchste Punkt der Seilbahn ist erreicht und man steht zwei der drei höchsten Gipfel Auge in Auge gegenüber: Pico Humbold (4940 Meter) und Pico Banplant (4880 Meter), die den Blick auf den bislang treuen Begleiter Pico Bolívar verwehren.

Hier oben wacht die Statue der Jungfrau des Schnees. Vor allem in den Monaten April bis Mai und August bis November ist die Chance den Pico Espejo und der gegenüberliegenden Gipfel schneebedeckt anzutreffen, keine Seltenheit.
Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Vor allem in den Morgenstunden, wenn sich noch keine Wolke am Himmel zeigt, reicht der Blick im Süden über die gesamte Sierra Nevada bis ins Tiefland, den Llanos, im Norden über das gewaltige Massiv der Sierra la Culata und im Westen bis zu den kolumbianischen Anden, der Sierra del Cocuy. Vom Pico Espejo geht es in der Gondel zurück zur Station Loma Redonda.

Website mit aktuellen Preisen und Zeiten: www.telefericodemerida.com/



Der Abstieg nach Los Nevados
Wenige Meter neben der Station steht ein zu allen Seiten offener Bretterverschlag, der Esel und Maultiere beherbergt, die man für 8-12 Euro samt Führer mieten kann.

Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Der indirekte Vorteil eines Begleittiers, selbst wenn man es nicht in Anspruch nimmt, ist der Draht zu Cristina, der Wirtin der vielleicht imposantesten Kneipe Venezuelas, die auf dem Weg eine halbe Stunde vor Los Nevados liegt.


Denn selbst, wenn man diese findet, müsste die Wirtin zunächst noch auf dem Felde aufgespürt werden, was wie in unserem Falle der Führer übernimmt.

An dem Bretterverschlag beginnt der Weg in Richtung des Andendorfes Los Nevados. Von der Station auf 4065 Metern Höhe führt der erste und gleichzeitig anstrengendste Abschnitt auf 4200 Meter zum Alto de la Cruz. Diesen Teilabschnitt sollte man unbedingt auch angehen, falls man später mit der Seilbahn wieder ins Tal nach Mérida zurückkehrt und nicht nach Los Nevados weiterläuft, da die Landschaft mit ihren niedrigen Bäumen und den großen Frailejones, die die Berghänge und die Täler bedecken, in das Reich der Phantasie entführt und die legendäre Caribay, Geist der wohlduftenden Andenvegetation und Tochter der Sonne und des Mondes, besonders diesen Landstrich mit ihrer großen Liebe bedacht hat.

Am Alto de la Cruz angekommen ist die Landschaft nicht minder reizvoll. Der Weg folgt zunächst leicht geschwungenen Serpentinen und führt dann einen wenig steilen Abhang hinunter.
Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Etwa eine Stunde später verläuft er entlang eines Hanges, der bald den Blick auf die zerklüftete Landschaft des Sierra Nevada Nationalparks frei gibt. Verstreut in den Tälern und den flachen Anhöhen findet sich eine Reihe von Höfen in der hier typischen Bauart, den Patio, den Garten um den das Haus herum gebaut ist, auf ein Minimum von einem bis wenige Quadratmeter reduziert.

Seilbahn Teleferico Merida Venezuela
Eine halbe Stunde vor der Ankunft in Los Nevados stößt man auf der rechten, der Hangseite auf ein fast unscheinbares Schild: “se vende refresco y chocolate” (hier erhalten Sie Erfrischungsgetränke und heißen Kakao).

Es dauert gut 10 Minuten bis die Wirtin Cristina vom Feld geholt ist und ihren kleinen Laden öffnet. Kaltes Bier sowie heißer Kakao und Kaffee werden im Hof verzehrt. Cristina selbst steht hinter einem geöffneten Fenster, das als Tresen fungiert und füllt den Raum dahinter zusammen mit einem Plakat, das Hugo Chávez abbildet, einer Kühltruhe und einem winzigen Regal, welches kleine Tüten mit Knabberkram, Zigaretten und natürlich Chimón, dem obligatorischen Kautabak, beherbergt.

Schon bald nachdem man die Freiluftbar wieder verlassen hat, erspäht man durch die sich ab und an liftenden Wolken zum ersten mal das Ziel der Tour, das traumhaft gelegene Andendorf Los Nevados.
Seilbahn Teleferico Merida Venezuela

Das überschaubare, vielleicht aus 60 Häusern bestehende, Dorf liegt an einem steilen Hang, wobei sich die zentrale Plaza Bolívar mit der schmucken Kirche gut 40 Meter unterhalb der oberen Häuser befindet. Gleich neben der Kirche steht die Posada Bella Vista, die ihren Namen Schöner Ausblick mehr als verdient.

Die Nacht auf 2900 Metern Höhe wird besonders in den Morgenstunden vor Sonnenaufgang kalt. Um sechs Uhr früh aber, wenn die Sonne das Dorf in gleißendes Licht hüllt, entfaltet diese auf einen Schlag ihre Wärme. Keine Wolke und und kein Nebel trüben dann den klaren Blick auf die Braun- und Weißtöne des Dorfes und die Oliv- und Grüntöne der Landschaft.

Nach einem ausgiebigen Frühstück erfolgt noch vormittags der Rückweg, für den es zwei Optionen gibt: Entweder per Begleittier auf dem Pfad des Vortages und anschließend mit der Seilbahn ins Tal oder per Jeep vier bis fünf Stunden einer sehr abenteuerlichen Schotterpiste folgend.





Unterkunft:
Neben der Bella Vista gibt es noch eine Reihe weitere Posadas, die alle einfach aber sauber sind. Preise bewegen sich für nur Übernachtung bei 3-4 Euro und 7-8 Euro für Übernachtung mit Abendessen und Frühstück.


Info:
Detaillierte Informationen zur Tour vorort:
Posada Casa Vieja, Tabay / Mérida
Die Casa Vieja ist übrigens auch ein guter Ausgangspunkt für Touren in Los Llanos, die Anden und das Catatumbo-Delta.

Bildergalerie (19 Fotos):

Los Nevados Merida Venezuela Los Nevados Merida Venezuela Los Nevados Merida Venezuela

Los Nevados Merida Venezuela
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Text + Fotos: Dirk Klaiber

Online Reiseführer Venezuela (reihe fernrausch)
Der Hauptteil des Reiseführers besteht aus Beschreibungen von Ausflugsmöglichkeiten in die Natur, in Form von ein- oder mehrtägige Touren, individuell oder mit Guide organisiert, und Abenteuertrips.






[kol_1] Grenzfall: Im Grunde ganz einfach

Die Stadt organisiert sich entlang zweier Hauptstraßen: Der Monumentalachse und der, frei übersetzt, Riesenachse. Die Monumentalachse verläuft von Osten nach Westen, der Rumpf des Flugzeugs. Die Riesenachse kreuzt die Monumentalachse von Nord nach Süd, sie bildet die Flügel, die Wohngebiete. Diese sind in dreistellig nummerierte Superblocks aufgeteilt. Ungerade erste Stellen (100, 300, 500 ...) liegen westlich, gerade erste Stellen (200, 400, 600 ...) östlich der Riesenachse. Je weiter weg von der Riesenachse, desto höher die erste Stelle. Die zweite und dritte Stelle der Nummer entsprechen der Entfernung vom Stadtzentrum, also der Kreuzung der beiden Achsen.

Große Straßen durchziehen die Wohnblöcke parallel zur Riesenachse. Im Westen der Riesenachse heißen sie W1 bis W3, im Osten L1 bis L3.

Wer mag und alles verstanden hat, kann jetzt den Fußweg ausrechnen, den ich am Montag mit vollem Gepäck werde zurücklegen müssen, wenn ich vom Hotel Superblock 704 Abteilung K Haus 3 in meine schnieke Wohnschlafküche am Stadtpark, Superblock 905 Abteilung D Apartment 216 umziehe, vorausgesetzt, ich bin zu geizig für ein Taxi.


Dieses feine Organisationsprinzip hat in den letzten Jahren so gut funktioniert, dass per Dekret der Regierung Fernando Henrique Cardoso 1999 beschlossen wurde, das System auf die Bewohner Brasílias auszudehnen. Ich war diesbezüglich nicht ganz sicher, aber nach wenigen Dutzend Amtsgängen (ich wollte ja alles richtig machen in der neuen Stadt) habe ich herausfinden können, dass diese Regelung auch für Temporäre bindend ist. Also habe ich meinen altmodischen Vor- und Nachnamen abgelegt und heiße jetzt 169mbraunbraunbart0147 (GrößeGeschlechtHaarfarbeAugenfarbeBesonderheitLaufendenummer - Laufende Nummer, weil man ja davon ausgehen kann, dass es in Brasília mehr als einen 169cm großen, braunhaarigen und -äugigen Mann mit Bart gibt).

Ich war zunächst natürlich eher skeptisch, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, und mal ehrlich, es macht wirklich viele Dinge simpler. So konnte ich meiner Chefin in nie gekannter Einfachheit und Präzision von meinem baldigen Umzug berichten: "704K003:169mbraunbraunbart0147->905D216:169mbraunbraunbart0147."
Darauf sie: "QI345:183wgraublau0023-702S34>905D216:169mbraunbraunbart0147-702S34." ("Ist doch toll, von meinem Haus beim See ist es viel zu weit zur Arbeit (702S34), da ist ja dann deine neue Wohnung viel praktischer gelegen!")

Damit hatte sie natürlich recht, und ich war froh, die Dinge so gut geregelt zu haben. Und weil das Wetter heute freundlich aussah, beschloss ich, zur Feier des Tages einen kleinen Spaziergang entlang der Prachtallee W3 zu machen. Was ich da alles zu sehen bekam! Das glaubt man gar nicht.


Ein langezogener, aus einem Stück Beton gegossener Klotz mit vielen kleinen Läden: Ein Computergeschäft. Ein Friseur. Ein Optiker. Haushaltsbedarf. Eine Saftbar. Eine Drogerie. Ein Kleidergeschäft. Dann, in einer Lücke zwischen dem Gebäude und dem nächsten, rechts neben zwei Telefonzellen, ein possierlicher Zeitungskiosk, darin ein Mann mit graugesprenkeltem Dreitagebart, Baseballmütze und freundlichen Augen, der sich gedankenverloren am Ohr kratzt. Im nächsten Gebäude verschiedene Banken und Kopierstuben. Dann ein Parkplatz voller Autos, Reifen auf Lehm. Dann eine große Videothek mit Plakaten der neuesten Film-Smash-Hits in den Schaufenstern. Dann eine Grünfläche, in die zahlreiche brasilianische Füße ein Netz aus roten Pfaden getrampelt haben. Dann ein langezogener, aus einem Stück Beton gegossener Klotz mit vielen kleinen Läden: Ein Computergeschäft. Ein Friseur. Ein Optiker. Haushaltsbedarf. Eine Saftbar. Eine Drogerie. Ein Kleidergeschäft. Dann, in einer Lücke zwischen dem Gebäude und dem nächsten, rechts neben zwei Telefonzellen, ein possierlicher Zeitungskiosk, darin ein Mann mit graugesprenkeltem Dreitagebart, Baseballmütze und freundlichen Augen, der in einem Groschenroman blättert. Im nächsten Gebäude verschiedene Banken und Kopierstuben. Dann ein Parkplatz voller Autos, Reifen auf Lehm. Dann eine große Videothek mit Plakaten der neuesten Film-Smash-Hits in den Schaufenstern. Dann eine Grünfläche, in die zahlreiche brasilianische Füße ein Netz aus roten Pfaden getrampelt haben. Dann ein langezogener, aus einem Stück Beton gegossener Klotz mit vielen kleinen Läden: Ein Computergeschäft. Ein Friseur. Ein Optiker. Haushaltsbedarf. Eine Saftbar. Eine Drogerie. Ein Kleidergeschäft. Dann, in einer Lücke zwischen dem Gebäude und dem nächsten, rechts neben zwei Telefonzellen, ein possierlicher Zeitungskiosk, darin ein Mann mit graugesprenkeltem Dreitagebart, Baseballmütze und freundlichen Augen, der sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck in der Nase bohrt. Im nächsten Gebäude verschiedene Banken und Kopierstuben. Dann ein Parkplatz voller Autos, Reifen auf Lehm. Dann eine große Videothek mit Plakaten der neuesten Film-Smash-Hits in den Schaufenstern. Dann eine Grünfläche, in die zahlreiche brasilianische Füße ein Netz aus roten Pfaden getrampelt haben.

Ich lief eine ganze Weile und bestaunte die Vielfalt wie ein Kind. Ich pfiff und hopste, denn ich war guter Dinge. Die Menschen, die mir begegneten, waren fröhlich und lächelten. Ich vergaß die Zeit und hörte nicht auf zu laufen, immer geradeaus, viele Stunden, wie es schien, obwohl die Sonne sich kaum vom Fleck bewegte.


Als ich mich schließlich auf den Heimweg zum Hotel machte, war ich an einer Abzweigung nicht ganz sicher, ob ich nicht eine oder zwei oder drei oder vier Straßen früher oder eine oder zwei oder drei oder vier Straßen später hätte einbiegen müssen, aber zu meiner Erleichterung stand ich schon nach wenigen Minuten vor dem Haus, in dem ich die letzten Tage verbracht hatte. Ich konnte mich gar nicht mehr genau erinnern, wie viele es gewesen waren... Natürlich fand ich mein Zimmer genau so vor, wie ich es verlassen hatte. Ganz genau so. Nehme ich an. So genau hatte ich es mir ja nicht eingeprägt, bevor ich gegangen war.

Was mich jedenfalls ein wenig irritiert, sind die Bewegungen, die ich aus dem Augenwinkel zu sehen glaube, während ich hier sitze. Unsinn, sicherlich. Die kleinen Geräusche, wie Schatten von wirklichen Geräuschen. Die flüchtigen Gerüche, wie Echos von wirklichen Gerüchen.

Vielleicht ist es nichts.
Vielleicht ist es niemand.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0146.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0145.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0144.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0143.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0142.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0141.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0140.
Vielleicht ist es 169mbraunbraunbart0139.

Ich bin nicht einmal annähernd damit fertig, mir vorzustellen, wer es alles vielleicht sein könnte, als ich hinter mir eine laute Stimme poltern höre.
"Was machen Sie in meinem Zimmer?", fragt erzürnt der dicke nasse Mann, der soeben nur mit einem Handtuch bekleidet das Bad verlässt.

Richtig, fällt mir plötzlich ein, ich hatte ja gar keine zwei Betten, und auch kein Badezimmer, und auch kein Fenster zur Waschküche, und auch keinen Tisch, und auch keinen Stuhl, und auch keinen Computer, an dem ich diesen Text hätte schreiben können. Ich entschuldige mich hastig, gehe nach nebenan, Nummer 5206, nicht 5602, ich Trottel, lege mich in mein Bett und schlafe augenblicklich ein. Was für ein Tag!


Was ich nicht weiß und vermutlich nie erfahren werde: In Zimmer 5602 lässt 169mglatzebraunbart(dick)0147, nun allein und unbeobachtet, sein Handtuch fallen, damit er die Hände frei hat, um sie genüsslich aneinander zu reiben. Nackt und tropfend steht der dicke Mann im Raum, das kalte weiße Licht der Neonröhre an der Decke fällt auf den unbehaarten Kopf und den Stiernacken und bringt sie kalt und weiß zum Glänzen, seine kleinen Schweinsäuglein funkeln diabolisch, und seiner Kehle entringt sich ein tiefes, böses, selbstzufriedenes Lachen, erst leise, dann immer lauter.

Was das bedeuten soll, könnte ich nicht einmal erklären, wenn ich davon wüsste.

Text + Fotos: Nico Czaja






[kol_2] Pancho: Der heiße Hund

Letzte Woche wurde ich von einigen Argentinos eingeladen. Zum "Pancho-Essen". Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, aber dennoch verbirgt sich da weit mehr als nur ein Schnellimbiss mit Freunden und Bekannten. Wir konsultieren also das Diccionario del lunfardo:

Pancho. Lenguaje popular. Tipo de salchicha alemana que se popularizó hace algunas décadas entre nosotros y se come con mostaza, mayonesa y ketchup en trozos o en sandwich.

Jetzt haben wir es. Das gute alte Wienerwürstchen (oder auch Frankfurter genannt) ist also gemeint - eine Fleischwurst eben. Und das Ganze garniert mit Senf, Mayonnaise und Ketchup. Im Brötchen oder in kleinen Scheiben. So ähnlich, wie sie hier im Rheinland wohl die Currywurst servieren. Und weiter:

Es el clásico hot dog estadounidense.

Das verwundert mich jetzt schon, warum gerade die Argentinier sich an die USA ernährungstechnisch anlehnen, wo sie dem nordamerikanischen Kollegen doch sonst in allen Lebenslagen gerne die Stirn bieten. Uns ist das in diesem Moment egal und wir beginnen unser Essens-Zeremoniell, das doch noch ein klein wenig erweitert wird.

Um einen gelungenen Pancho zu servieren, geht man wie folgt vor: Die kleinen, leicht gesüßten weißen Brötchen werden erst mal getoastet. Anschließend wird das heiße Würstchen in das Brötchen gelegt und dann gehts richtig los. Ketchup, Senf, Mayonnaise, Gürkchen, Tomaten, Peperoni (normal und eingelegt), Mais, geraspelter Käse und dann, das darf gar nicht fehlen, Chips oben drauf. Salz und Pfeffer sollten ebenfalls bereit stehen.

Das wunderbare an diesem einfachen Mahl ist die mannigfaltige Belegung des Panchos. Je nach Gusto können natürlich auch alle anderen Zutaten auf der argentinischen Ausgabe des Hot Dogs landen. Sehr gut eignen sich diese "Pancho-Essen" dann, wenn es weitere Reste zu verwerten gibt. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt. Außer durch die Abmessung des zu belegenden Brötchens vielleicht.

Natürlich wird dazu gut gekühltes Bier serviert, der Wein muss brav im Regal bleiben, denn der passt da gar nicht zu! Denkt man streng national, dann bitte Quilmes. Ob als Premium oder als dunkler Bock ist herzlich egal. Auch Isenbeck kommt in die engere Wahl, zumal es sich dabei um deutsches Bier handelt - die Familie wanderte im späten 19. Jahrhundert nach Argentinien aus, um dort ihre Braukunst an den Mann zu bringen. Tja, das einzige was dann noch fehlen kann, sind nette Tischgespräche, die mit gefüllten Bäuchen noch leichter zu bewerkstelligen sind!

In Buenos Aires selbst findet man den Pancho an vielen Ecken und er ist super lecker. Vom einfachen Laden bis zum unübersichtlichen Schnellimbiss-Durchschleif-Restaurant, mit zig Eimerchen, die die verschiedensten Garnierungsmöglichkeiten bieten, ist für jeden Geschmack etwas dabei.

Text + Fotos: Andreas Dauerer






[kol_3] Ausstellung: Schwarze Götter im Exil
Fotografien von Pierre Fatumbi Verger


Unter der Schirmherrschaft des brasilianischen Kulturministers Gilberto Gil
Fotoausstellung mit Rahmenprogramm

München: 22. Februar - 14.Mai 2006
Staatliches Museum für Völkerkunde München

Schwarze Götter im Exil ist die erste Tournee-Ausstellung mit Arbeiten des französischen Fotografen Pierre Fatumbi Verger (1902-1996) in Deutschland. Mit bislang sehr erfolgreichen Stationen im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem, im Museum der Weltkulturen in Frankfurt a.M. und im Lindenmuseum Stuttgart ist sie seit gut einem Jahr hierzulande zu sehen. Der vorläufig letzte Ausstellungsort ist das Staatliche Museum für Völkerkunde in München, wo sie am 21. Februar um 19.00 Uhr eröffnet wird.

Der Fotograf Pierre Verger drang tief in die Glaubenswelt der Afrobrasilianer ein und dokumentierte auf faszinierende Weise die kulturellen Praktiken und religiösen Rituale der "Schwarzen Amerikas". Er zählt heute zu den bedeutendsten Fotografen Lateinamerikas, dessen Bilder u.a. auch auf den Internationalen Kunstbiennalen São Paulo, Mercosur und Dak’Art zu sehen waren.


Vor genau 200 Jahren wurde die Sklaverei auf Haiti abgeschafft und die erste "Republik schwarzer Bürger" in der Neuen Welt errichtet. Aus diesem Anlass thematisiert Schwarze Götter im Exil den kulturellen Austausch zwischen Europa, Afrika und den Amerikas von der Sklavenzeit bis in die Gegenwart. Der haitianische Voudou, die kubanische Santería und der brasilianische Candomblé erscheinen hier als kulturelles Bindeglied zwischen beiden Seiten des Atlantiks.

Für die mehr als 12 Millionen verschleppten Sklaven und ihre Nachfahren boten die afrikanischen Religionen in ihrer neuen Heimat Strategien der Identitätsfindung und Konfliktbewältigung. Mit seiner direkten Herangehensweise und gleichzeitig sensiblen fotographischen Handschrift hielt Pierre Verger die Bedeutung dieser alltäglichen Rituale für die modernen kreolisierten Gesellschaften fest. 40 Jahre vor der Formulierung einer Theorie des Postkolonialismus setze er deren Ansätze bereits in seinem persönlichen Lebensentwurf um. Durch seinen interdisziplinären und universellen Ansatz vermittelte er einer Generation von Forschern aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen völlig neue Einsichten in das Funktionieren multiethnischer und religiös vielfältiger Gesellschaften. Während Pierre Verger in Lateinamerika als einer der bedeutendsten Fotografen und visuellen Anthropologen des 20. Jahrhunderts gilt, blieb er in Europa, das er während des Zweiten Weltkriegs verließ, weitgehend unbekannt.


Diese umfangreiche Ausstellung von Pierre Verger versammelt über 200 Aufnahmen aus fünf Jahrzehnten und bietet einen einzigartigen Einblick in die afro-brasilianische Lebens- und Glaubenswelt. Die Aktualität dieser Arbeiten liegt darin, dass sie zu einem neuen Verständnis von Religion und ethnischer Zugehörigkeit in modernen, multikulturell zusammengesetzten Gesellschaften beitragen können.

Ein interdisziplinäres Rahmenprogramm aus Filmen, Vorträgen, Diskussionspodien, sowie einer Performance und einer Lesung thematisiert die kulturellen Transfers im ‚transatlantischen Dreieck’ (Afrika, Amerika, Europa) von der Sklavenzeit bis in die Gegenwart.

Pierre Verger bereiste als international bekannter Fotoreporter für Daily Mirror, Match-Magazine, LIFE, O Cruzeiro, Paris-Soir, La Prensa, Unesco Kurier u.a. alle fünf Kontinente. 1946 trifft er in der Küstenstadt Salvador da Bahia ein, die ihm 50 Jahre lang zur neuen Heimat wird. In seinem Wohnhaus befindet sich heute die Stiftung Pierre Verger mit seiner Bibliothek und einem Nachlass von rund 62.000 Fotografien. In Deutschland wurde Verger über Hubert Fichte und Eleonore Mau bekannt, deren Bücher "Xango" und "Petersilie" mit seiner Hilfe entstanden.


Gilberto Gil, weltbekannter Musiker, Komponist und jetziger Kulturminister Brasiliens hat die Schirmherrschaft für "Schwarze Götter im Exil" übernommen. Gilberto Gil war Pierre Verger Jahre lang freundschaftlich verbunden und dokumentierte dessen Leben und Werk in seinem viel beachteten Film MENSAGEIRO ENTRE 2 MUNDOS (Botschafter zwischen zwei Welten), der im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung gezeigt wird.

Information und Kontakt:
Website: www.schwarze-goetter-im-exil.de

Goethe-Institut München:
Forum Goethe-Institut, Inga Harenborg, Tel:+49 (0)89-15921-396, harenborg@goethe.de

Staatliches Museum für Völkerkunde:
Stefan Eisenhofer, Tel.: +49 (0)89- 210136-138, stefan.eisenhofer@extern.lrzmuenchen.de

Kuratorischer Beirat München:
Dr. Stefan Eisenhofer (Staatliches Museum für Völkerkunde München) und Michael M. Thoss (Allianz Kulturstiftung)

Symposium:
11. März 2006, 10.00 Uhr
Territorium und kulturelle Identität - Schwarze Diaspora in den Amerikas und in Europa
Mit Ausschnitten des Dokumentarfilms "Black Deutschland" von Oliver Hardt

Im Anschluss
Podiumsdiskussion:
Territorium Europa - Schwarze Diaspora in Europa

Teilnehmer: Paul Gilroy, Soziologe und Kulturwissenschaftler
Anthony Giddens Professor of Social Theory an der London School of Economics
Durch sein 1993 erschienenes Buch The Black Atlantic, Modernity and Double Consiousness gilt er als eine der wichtigsten Stimmen eines Paradigmenwechsels im europäischen Denken zwischen Moderne und Transnationalismus. Der von ihm geprägte Begriff Black Atlantik ist inzwischen zu einem festen Bestandteil im heutigen Diskurs über Schwarze Identität geworden. Seine Arbeiten waren mitbestimmend für das Entstehen der Black Art-Szene in Großbritannien und sind wegweisend für eine Reflexion der Bedeutung Schwarzer Kulturen im Kontext europäischer Kultur-Politiken und -Praxen.
Tina Campt, Historikerin
Associate Professor und Interim Director of Womens Studies an der Duke University in Durham, North Carolina.
Gloria Wekker, Anthropologin
Professorin und Direktorin des Center of Expertise on Gender, Ethnicity and Multiculturality an der Universität Utrecht.
Sérgio Costa, Soziologe
Professor für Soziologie an der Universidade Federal de Santa Catarina, Privatdozent für Soziologie an der FU Berlin und zugleich Forscher am CEBRAP in São Paulo.
Jacques Toubon, ehemaliger Minister für Kultur und Frankophonie, Europaabgeordneter und Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates, ist zudem Leiter des zukünftigen "Museums für Immigration". Seine Funktionen gaben ihm einen äußerst vielschichtigen Einblick in die kulturelle Welt.
José António Fernandes Dias, Sozial- und Kulturanthropologe
Professor für Kunstanthropologie und Alltagskultur an der Universität Lissabon.
Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Beziehungen zwischen Kunst und Postkolonialismus; zwischen Alltagskultur und Identität.Für die Calouste Gulbenkian Stiftung in Lissabon übernahm er die Leitung des Projekts artafrica.
Oliver Hardt, Filmemacher
Er ist Regisseur des Dokumentarfilms "Black Deutschland" (www.blackdeutschland.de) und Initiator des arte-Themenabends "Schwarze Haut, weiße Angst" zur Situation der Schwarzen in Frankreich und Deutschland (Erstsendung 24. 1. 2006).

Moderation: Sabine Broeck, Amerikanistin
Professorin für Amerikanistik an der Universität Bremen, Vorstandsmitglied des Collegium of African-American Research (CAAR), Mitglied des Instituts für Postkoloniale und Transkulturelle Studien (INPUTS). Von 2000 bis 2005 amtierte sie als Konrektorin für internationale Angelegenheiten an der Universität Bremen.

Vortragsreihe:
Mittwochs im Staatlichen Museum für Völkerkunde München
22. Februar, 19 Uhr
Transit-Götterwelten in Bewegung: Religionen der afrikanischen Diaspora in Kuba und Brasilien
Vortrag von Dr. Natale Göltenboth, Ethnologin (Institut für Ethnologie und Afrikanistik - Ludwig-Maximilians-Universität München)

01. März, 19 Uhr
Pierre Verger, Hubert Fichte, Eleonore Mau und die afrobrasilianischen Religionen
Vortrag von Dr. Stefan Eisenhofer, Ethnologe (Leiter der Abt. Afrika am Staatlichen Museum für Völkerkunde München)

08. März, 19 Uhr
Afrikanische Strukturen und Performance in der Musik Brasiliens
Vortrag von Prof. Dr. Tiago de Oliveira Pinto, Musikwissenschaftler (Professor für Sozialanthropologie an der Universidade de São Paulo, Brasilianisches Kulturinstitut Berlin ICBRA)
 
15. März, 19 Uhr
Ikonen der Sklaverei: Afrobrasilien in der Fotografie des 19. Jahrhunderts
Vortrag von Dr. Margrit Prussat, Ethnologin (Institut für Ethnologie und Afrikanistik - Ludwig-Maximilians-Universität München)

22. März, 19 Uhr
Sakrale Landschaft: München als Heimat afroamerikanischer Gottheiten
Vortrag von Joanna Michna, M.A., Ethnologin und Filmemacherin (München)

Performance:
10. März, 19 Uhr, Museum für Völkerkunde München
Candomblé: Tanz und Musik der Gottheiten

Lesung:
29. März 2006, 20 Uhr, Goethe-Forum
Ortszeit "Bahia"
Ein literarisches Stadtporträt

Film-Wochenende:
Samstag, 1. April, Museum für Völkerkunde München
18 Uhr
Dokumentation: PIERRE FATUMBI VERGER - MENSAGEIRO ENTRE 2 MUNDOS
Luiz Buarque de Hollanda, 82 Min., Brasilien, 1998, PortOmenglU
Gilberto Gil setzt Pierre Verger - dem "Botschafter zwischen zwei Welten" - mit diesem Film ein sehr persönliches Denkmal. Er erzählt von Vergers Leben, seiner Leidenschaft für die Menschen und von der Freundschaft der beiden Künstler.

20.30 Uhr
Spielfilm: Orfeu Negro
Marcel Camus, 100 Min., Frankreich/Brasilien, 1959, PortugOmdtschU
Rio de Janeiro in den 50er Jahren. Mitten in den Karnevalsvorbereitungen begegnet Euridice, ein einfaches Mädchen vom Land, dem Strassenbahnfahrer und Frauenheld Orfeu. Obwohl Orfeu mit Mira verlobt ist, verlieben sich die beiden leidenschaftlich ineinander. Die eifersüchtige Mira schwört Rache und möchte Euridice umbringen… Angelehnt an die griechische Tragödie "Orpheus und Euridike" erzählt Marcel Camus die Ballade zweier Liebender als poetischem Rausch von Farbe und Rhythmus.

Sonntag, 2.April, Museum für Völkerkunde München
18 Uhr
Dokumentation: Voodoo - Mounted by the gods
Alberto Venzago, 92min., Schweiz/Deutschland, 2001, OmenglU.
Ouidah, Benin. Die Hafenstadt im ehemaligen Königreich Dahomey war Jahrhunderte lang eine der größten Verlade-Stationen für Menschen, die als Sklaven in die "Neue Welt" verschifft wurden. Monument des Schmerzes - virtueller Heimatort für Millionen Afroamerikaner. Hier hat der afrikanische Voodoo heute eines seiner wichtigsten Zentren. Bildgewaltig inszeniert der Film die Geschichte eines jungen Mannes, der unerwartet schnell vom Novizen zum Priester wird. Viel zu früh liegen in seinen Händen Macht und Mächte, die es zu lenken gilt.

20.30 Uhr
Dokumentation: Fala Tu - Lives of Rhyme
Guilherme Coelho, 74 Min., Brasilien, 2003, PortmenglU
Der Film begleitet drei Rapper aus den Favelas von Rio de Janeiro - unter ihnen eine alleinerziehende Mutter. Aus der "Strassen-Perspektive" gewährt der Film dem Zuschauer einen Einblick in die Kultur des brasilianischen Hip-Hop - abseits von Klischees à la MTV.

Text: Inga Harenborg
Fotos: Pierre Fatumbi Verger





[kol_4] Lauschrausch: Traffic Sound trifft Jürgen Schwenkglenks

Traffic Sound
Yellow Sea Years 1968-71
Vampisoul 061


In der weltweiten Aufbruchstimmung von 1968 gründete sich in Lima Traffic Sound. Nach dem damals üblichen Start als Coverband begannen sie bald eigene Songs zu schreiben, die begeistert vom Publikum aufgenommen wurden und womit sich die Gruppe landesweit einen Namen machte.

Ende des gleichen Jahres putschte in Peru das Militär und installierte eine linke, anti-us-amerikanische Regierung, die den kulturellen Einfluss der USA zurückdrängen wollte: so verbot sie zum Beispiel den Weihnachtsmann und ersetzt ihn durch eine Inkafigur.

Schlechte Zeiten für eine Band, die Psychedelic und Blues Rock mit englischen Texten spielte. Aber Traffic Sound ließen sich nicht beirren und machten erfolgreich weiter: 1969 brachten sie das meisterhafte Album "Virgin" heraus, eine Mischung aus Psychedelic und Hard Rock mit einem Hauch Latin und provokativen Texten, das sich hinter denen angelsächsischer Bands nicht verstecken braucht. 1971 begannen Traffic Sound als erste peruanische Band regional zu touren. Nach ihrer vierten und letzten LP, die unter Einfluss des von Santana erschaffenen Latin Rock mehr lateinamerikanische Elemente enthielt als die vorherigen, lösten sie sich auf. Auf dieser Kompilation finden sich Stücke aller LPs und einiger Singles der Band. – Wer psychedelische Klänge (und einige poppige Töne) liebt und mal deren Kombination mit Andenflöten hören möchte, kauft hier richtig.


Jürgen Schwenkglenks
Porteños y gringos
Danza y Movimiento 3106


Die Kompositionen des Passauer Gitarristen Jürgen Schwenkglenks kommen mir vor wie alte Bekannte: tausendmal gehört, doch immer wieder gibt es neue Seiten zu entdecken. Meistens dringen ungewöhnlich fröhliche Klänge aus den Boxen an mein Ohr (in "Tango protesta" sogar ein funkiger Bass).

Für sein aktuelles Album hat sich der Tangomusiker nach Buenos Aires begeben, um mit dem Bandoneonisten Fernando "Quena" Taborda und anderen Musikern zusammen zu arbeiten. Das hat seinen Stücken den letzten Kick gegeben, aber nicht in die traditionelle Richtung, sondern hin zu einer gelungenen Mischung aus Tango-Genres und Modernität.


Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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