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[kol_1] Amor: Kleine Mystik für deutsche Auswanderer

In diesen Tagen jährt sich nun zum 10. Mal der Beginn meiner privaten Odyssee (Berlin Neapel · Barcelona) und da erlaube ich mir einfach mal, mich in den Stand eines Auswandererveteranen zu erheben. Leider gibt es dafür keine etablierte Zeremonie, so dass ich hiermit erkläre, dass die Veröffentlichung dieser Zeilen im caiman eine dahingehende rechtsgültige Wirkung hat.

Bekanntermaßen machen Veteranen nichts anderes als den ganzen Tag das Jungvolk mit der (wiederholten) Erzählung längst vergangener Schlachten zu langweilen und dabei an den richtigen Stellen den Zeigefinger zu erheben. (Der vorstehende Satz gilt nicht für die USA, wo Veteranen sich vor allem damit beschäftigen, vor Gericht um längst vergangenen Schlachten zu streiten. Ich glaube nicht, dass man einem amerikanischen Tribunal ungestraft den erhobenen Zeigefinger entgegenstrecken darf.)


Nachstehend habe ich als frisch gebackener Veteran einige Punkte zusammengestellt, die der Neuauswanderer besser hilfreich und interessant finden sollte, denn ich gedenke diese Punkte bis zum Erbrechen zu wiederholen.

Ist ja nur für ein Jahr…
Eine der beliebtesten Einstiegslügen für Auswanderer. Stimmt einfach nicht, ist auf jeden Fall gelogen. Wer das Auswandern im Blut hat, der bleibt niemals nur ein Jahr. Und der Rest, das sind Touristen, die einen längeren Urlaub machen.

Herrlich hier!
Kleine Notlüge, die gegenüber Besuchern aus der Heimat immer angebracht ist. Schließlich müssen die ja nicht merken, dass man gerade vor Heimweh umkommt!

Die Leute hier sind ja sooo offen…
Achtung Neuauswanderer: bloß nicht auf diese oder ähnliche Behauptungen reinfallen. Der Satz mag überall dort stimmen, wo ich persönlich noch nicht gewohnt habe, aber… Ihr versteht schon.

Ach, guck doch, diese Deutschen da!
Wie sagt doch meine Mutter: Familie sind auch Menschen. Dasselbe gilt für unsere Landsleute.

Yo hablar sempre solamente espanol.
Nichts ist peinlicher als das zwanghafte Aufzeigen, wie unglaublich integriert man ist. Eine kleine Anekdote mag das verdeutlichen: Geburtstag mit 10 Gästen. Davon einer (in Zahlen 1), der kein Deutsch sprach. Preisrätsel: welches war die Konversationssprache?
Man möge das bitte nicht mit einer übergroßen Höflichkeit gegenüber der Gastkultur verwechseln: es geht einzig und allein darum zu zeigen, wie unglaublich integriert man ist und wie total natürlich man sich in der fremden Sprache bewegt.

Das können Spanier einfach nicht.
Ulkigerweise hört man Sätze wie diesen häufig in der Nähe von Aussagen wie der des vorherigen Abschnitts. Dieser Cocktail aus Integrationssucht und gleichzeitiger Verachtung des Gastlandes ist hochmerkwürdig. Vor allem wenn man die Liste der am meisten genannten Gründe für die Minderwertigkeit des Spaniers im Allgemeinen betrachtet:
a) Heizungsrohre werden nicht exakt parallel verlegt (Abweichung von bis zu 1,235 Grad(!) sollen beobachtet worden sein.)
b) Telefónica hat – ganz im Gegenteil zur Telekom – einen miserablen Service
c) Autobusse haben keine festen Abfahrtszeiten, sondern nur Frequenzen (alle 5-7 Minuten)
d) der Schuhladen macht ganze 10 Minuten später auf als angekündigt
Die rein deutschen Siedlungen an der Küste, auf Mallorca oder rund um die deutsche Schule in Barcelona sind keine besonders gute Werbung für uns.

Die haben mich glatt für einen Spanier gehalten!
Vergiss es einfach. Man denke nur an die Türken in Deutschland, die nach wie vor als solche bezeichnet werden, obwohl sie bereits in dritter Generation in Deutschland leben und arbeiten. (Der vorsichtige Versuch, ein –stämmig an das Adjektiv türkisch anzuhängen, wird von mir wegen dümmlich einfach ignoriert.)

Keiner fragt mich mehr, woher ich komme!
Das liegt einfach daran, dass es schon alle wissen. Man sollte sich besser darüber im Klaren sein, dass man immer ein eigenartiges Zwitterwesen bleiben wird. Und jetzt kommt der gute Part: das muss nicht schlecht sein. Mimikry ist nicht gleich Integration.

In Deutschland machen wir das so und so.
Vorsicht! Als Auswanderer sollte man nie vergessen, dass der Expertenstatus bezüglich des eigenen (?) Landes auf einer langsam dahin schmelzenden Basis aufsetzt. Gesellschaften entwickeln sich und das sogar in unserer Abwesenheit!

Wenn man erst die Sprache kann, ist alles einfach.
Jeder echte Emigrant weiß, dass der Aufenthalt in einem Gastland einer Fahrt auf der Psychoachterbahn gleicht: hoch und runter, hoch und runter rast das Gemütswägelchen. Und uns Emigranten ist die meiste Zeit dabei zum Schreien zumute. Ich bin seit langem der Meinung, dass eine Art Exildepression existiert, die an unser aller Nerven rüttelt. Das klingt erstmal wenig appetitlich, aber wenn man bedenkt, dass in der anderen Waagschale die totale Horizonterweiterung liegt, ist das vielleicht nicht zu teuer bezahlt.
(Fairerweise sollte man hier auch noch das Wetter erwähnen: immer wenn ich meine Berliner Freunde besuche und wir dann freudlos Johanniskrautpillen kauend vor der Lichttherapielampe sitzen…)

Wenn ich will, kann ich ja jederzeit zurück.
Ha ha. Ha ha ha. Ha ha ha ha… Der war echt gut!
Das soll fürs erste reichen. Sicher werde ich im Verlauf der nächsten Zeit noch weitere geistreiche Aphorismen von mir geben, oder einfach die oben stehenden wiederholen.
Zur Feier meines neuen Status möchte ich aber den Artikel nicht beenden, ohne einen Toast ausgesprochen zu haben:
Danke, dass ich freiwillig auswandern durfte und nicht musste.
Danke, dass ich aus dem reichen Europa komme.
Danke, dass man mich überall gut aufgenommen hat.
Danke, dass meine Freunde mich in all den Jahren nicht verlassen haben.

Prost Neujahrzehnt!

Text + Fotos: Nil Thraby

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