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[art_3] Brasilien: Das Maß aller Dinge - Belgien

Wenn in Brasilien über die Zerstörung des Regenwaldes berichtet wird, schleicht sich auf seltsamen Wegen immer wieder ein kleines europäisches Land in den Kontext: Belgien. Meist geht es darum, die im letzten Jahr abgeholzte Fläche mit der Größe Belgiens zu vergleichen. Erst vor wenigen Tagen konnte der interessierte Leser in der Folha de S. Paulo erfahren, dass "Der Bundesstaat Mato Grosso noch zwei Belgien verlieren wird". Die Fläche von 70.000 Quadratkilometer, die in den nächsten Jahren abgeholzt wird, entspreche mehr als der doppelten Größe des Beneluxstaates.

Nun, wie reagiert man in Brasilien, wenn man mit solch einer Nachricht konfrontiert wird? Ich frage meinen brasilianischen Mitbewohner, der schon ausgiebig durch die Welt gereist ist und weiß, dass Flamengo oder Flämisch, nicht bloß ein Fußballclub aus Rio ist, sondern dass man es auch in Belgien spricht, was ihm einfällt, wenn man ihm vollkommen unvorbereitet das Wort "Belgien" entgegenbellt.

Seine Antwort: "Ich kenne nur Brüssel, und das fand ich ein bisschen schmutzig. Aber es hat viel Geschichte, Reichtum, tolle alte Gebäude und ne Menge Kultur..." STOP! Sollte sich hier etwa die Lösung versteckt halten?

Geht es dem um den brasilianischen Regenwald besorgten Journalisten etwa darum, seine Landsleute mit der grauenhaften Assoziationskette wachzurütteln, dass im Amazonasgebiet das Äquivalent ganzer Straßenreihen toller alter Gebäude abgerissen wird, dass eine Jahrhunderte, ja Jahrtausende alte Kultur einfach so per Motorsäge zerstückelt wird, um Viehherden und Sojafeldern Platz zu machen? Eine grausame Umkehr der Evolutionskette? Schon kommt einem "(Nothing but) Flowers" von den Talking Heads in den Sinn: "The highways and cars were sacrificed for agriculture" und dann erst der Refrain "This was a discount store, now it`s turned into a cornfield"! Immerhin kennen viele Brasilianer den Flughafen von Brüssel, der ein beliebter Umsteigeplatz unzähliger Europareisen ist. Klar, dass es bei diesen Menschen größte Bestürzung auslöst, wenn sie lesen, dass der auf dem teuren Flugticket abgedruckte Ziel- oder Transferflughafen von nomadisierenden Bauerntrupps einfach so und bei jeder Gelegenheit gleich mehrfach abgefackelt wird.

Wenn es dem Journalisten jedoch darum gehen sollte, seinen zeitungslesenden Landsleuten die Größenordnung der Verwüstungen im nördlichen Brasilien plastisch-drastisch vor Augen zu führen, muss man sich fragen, ob man Belgien hierzulande für ein besonders großes oder kleines Land hält.

Okay, immerhin hat es 30.510 Quadratkilometer. Aber warum nimmt man zur Abwechslung nicht mal das nette Bhutan, das mit 47.000 Quadratkilometern mehr als 50% größer ist, und dokumentiert, dass die demnächst abgeholzte Fläche nahezu die doppelte Fläche Bhutans ausmacht? Wäre den Menschen die drastische Verschlimmerung der Situation klar, die die Wahl Bhutans anstelle Belgiens impliziert? "Leute, bisher ging es immer nur um das kleine Belgien. Aber jetzt hat es mittlerweile schon die bedrohlichen Ausmaße Bhutans angenommen. Wir müssen handeln." Außerdem würde man mit dieser Wahl die Alliterationskette aufrechterhalten: Brasilien - Belgien - Bhutan. Perfekt! Andererseits hat der internationale Flughafen Bhutans nicht unbedingt den Ruf eines essenziellen Drehkreuzes im europäisch-südamerikanischen Flugverkehr, was dann wohl letztlich doch für die Wahl Belgiens spricht.

Welch wichtige Rolle jedoch solche Alliterationen im Unterbewusstsein spielen, darf übrigens nicht unterschätzt werden. Ein befreundeter Journalist, seit Urzeiten in Brasilien tätig, erzählte neulich die wunderbare Geschichte von Ex-Präsident Ronald Reagans Brasilienbesuch. Hier angekommen, begrüßte er die Presse mit den Worten: Hallo Bolivien! Auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht, versuchte er sich ehrenvoll aus der Affäre zu ziehen: Die Reise sei lang und beschwerlich gewesen, und da habe er Brasilien mit dem nächsten Ziel seiner Südamerikatour verwechselt. Morgen fliege er nämlich nach Bolivien weiter. Und so bestieg er am nächsten Tag die Air Force One und flog nach - Bogota!

Nur aufgrund von allgegenwärtigen Alliterationen denken so viele Menschen überall in der Welt, dass die Hauptstadt Brasiliens natürlich – Buenos Aires sein muss. Wer kann es ihnen verübeln?

Ich habe mal wieder einen Artikel über die Abholzung des Regenwaldes entdeckt, dieses mal in der "Gazeta Mercantil". Die Regierung des Bundesstaates Amazonas hat beschlossen, im Süden einen Grüngürtel aus Naturschutzparks zu schaffen, um so die von Süden vordringenden Brandrodungen aufzuhalten.

Die drei Millionen Hektar des Projektes würden, so die Zeitung, der Größe Belgiens entsprechen. Während ich verwundert meinen Kopf schüttele, taucht der meines Mitbewohners in der Zimmertür auf. "Mir ist noch was zu Belgien eingefallen: Die haben die beste Schokolade überhaupt. Unübertroffen." Und im Weggehen fügt er noch hinzu: "Die habe ich allerdings damals in Deutschland gekauft, weil sie da billiger war."

Ob die Belgier auch nur annähernd eine Ahnung davon haben, was hier in ihrem Namen vor sich geht?

Text + Fotos: Thomas Milz