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[art_4] Brasilien: Der Wilde sieht mich an

In der Tiefe seiner Augen funkelt eine unendliche Weisheit. "Woher kommst du?", fragt der Wilde. "Aus Deutschland", sage ich, und sehe einen Funken von Verständnislosigkeit in seinem Blick. "Jaja, ich weiß!", antwortet er, ein wenig ungeduldig, "Aber von wo da? Marburg, hast du gesagt, oder? Ist das nicht in der Nähe von Frankfurt? Frankfurt kenne ich, Hannover, Berlin und Köln auch, aber in Marburg war ich noch nicht. Schön da?"

Obwohl ich nicht zum ersten Mal mit brasilianischen Indianern zu tun habe, mache ich immer noch hin und wieder denselben Fehler: Ich unterschätze ihre Weltgewandtheit.


Als Crocodile Dundee in die Kinos kam, war ich jung genug, um den Film toll zu finden. Da gibt es eine Szene, die mir immer wieder einfällt, seitdem ich mich mehr oder weniger professionell mit dem Fremden beschäftige: Die weiße Frau richtet ihre Kamera auf den halbnackten Aborigine. Der sagt ganz aufgeregt, dass sie ihn so nicht fotografieren könne. Darauf fragt sie, ob das sei, weil er glaube, dass der Apparat ihm dann die Seele stehlen würde. Und er antwortet, nein, weil sie den Deckel noch nicht vom Objektiv genommen habe. Eigentlich ein billiger Witz. Aber diese Art Begegnung zwischen vermeintlich Zivilisierten und vermeintlich Primitiven ist heute nach wie vor aktuell, kommt öfter vor als man denkt und kann immer noch verblüffen, weil sie mit mächtigen Klischees bricht.

Die Indianer, mit denen ich diesmal zu tun habe, sind Politiker und Diplomaten. Sie bereisen ihr Land und andere, begegnen sich auf internationalen Kongressen und haben mehr Ahnung von verschiedenen Handymodellen als ich (was allerdings nicht viel heisst).

Einer der ersten ihrer Art, und sicherlich einer derjenigen, die am meisten Aufsehen erregt haben, war der Xavante Mário Juruna. Juruna hatte Ende der siebziger Jahre, zur Zeit der Entstehung der Indianerbewegung, mehrere hohe Funktionäre der brasilianischen Indianerbehörde über ihre Verfehlungen zur Rede gestellt und deren - teils recht lächerliche - Ausflüchte mit einem Diktiergerät festgehalten, und zwar aus folgendem Grund:

"Die Weißen versprechen viel. Dann vergessen sie alles gleich wieder. Und die Indianer haben keinen Beweis in der Hand. Deshalb habe ich mir ein Tonbandgerät gekauft. Alle Weißen sollten ebenfalls ein Tonbandgerät benutzen. Aber die Zivilisierten sind dumm: Sie haben gute Sachen, machen aber keinen Gebrauch davon." [*]

Mit seinen Aufnahmen und durch sein Aufnehmen - denn dass ein Indianer eine Errungenschaft der Weißen gegen sie wandte, war auf so öffentlicher Bühne noch nicht vorgekommen - erregte Juruna die Aufmerksamkeit der Presse, wurde berühmt und in kurzer Zeit zu einer Leitfigur der Indianerbewegung. Später war er der erste indianische Abgeordnete im brasilianischen Parlament. Was Diktiergeräte angeht, so kann man vermuten, hat seine Erfolgsgeschichte unter politisch aktiven Indianern eine neue Tradition begründet.


Nach einer gewissen Zeit als Held des indianischen Widerstandes fiel er allerdings wegen eines Korruptionsskandals in Ungnade, jedenfalls wenn ich Paulo Titiá glauben darf, einem Pataxó-Hãhãhãe aus Bahia, der mir erzählte, dass Juruna aufflog und das Geld zurückgeben musste; dass seine Frau ihn rausschmiss und ihm all sein Geld wegnahm; dass seine zweite Frau ihn ebenfalls rausschmiss und ihm nochmal all sein Geld wegnahm; dass ihm eine Kuh in den Rücken trat und er schließlich arm und im Rollstuhl starb.

Dass Indianer, die eine Karriere in der Indianerbewegung einschlagen, und sei es auch, um die Situation in ihrem Heimatdörfern zu verbessern, in den Dörfern in Ungnade fallen, ist kein Einzelfall. Dass sie sie sich im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten in eine Welt begeben, deren Bedingungen sie vom dörflichen Alltag und seinen Realitäten entfernen, ist fast die Regel.

So kommt es oft zu Verständigungsproblemen zwischen indigenen Organisationen und den Dorfbevölkerungen, die von ihnen repräsentiert werden sollen. Dabei kann auch eine Art Generationenkonflikt eine Rolle spielen: In den Dörfern waren es die alten Eliten, die das Sagen hatten, wohingegen in den politischen Organisationen der Indianer es eher die jüngeren Jahrgänge waren, die außerhalb der Indianergebiete Macht ansammelten. Damit der Konflikte nicht genug: Diese erste Generation der Indianerbewegung ist nun im Begriff von einer zweiten abgelöst zu werden, die ihre Ziele auf wiederum andere Weise verfolgt.

Manch einem Funktionär der staatlichen Indianerbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio) fällt es schwer, den nach westlichem Muster politisch organisierten Indianern über den Weg zu trauen. Das ist insofern nicht völlig unberechtigt, als dass man ohne ausgiebige Besuche in den Dörfern selbst nie ganz genau wissen kann, inwieweit eine indigene Organisation tatsächlich mit der Stimme der Gruppe spricht, die sie repräsentiert - ganz abgesehen davon, dass die "Stimme der Gruppe" oftmals so einstimmig ohnehin nicht ist, da indianische Gemeinschaften meist komplexer und uneiniger sind, als man gemeinhin annimmt.

Die Form, in der ebenso Regierung wie Hilfsorganisationen die Lebensqualität in den Dörfern zu verbessern suchen, ist in den meisten Fällen das "Projekt" - eine zeitlich begrenzte Maßnahme, die zwar auf Nachhaltigkeit abzielt, diese aber selten erreicht. So wird "Projekt" zu einem Zauberwort, zu dem Angelpunkt, um den sich die Beziehungen zwischen indigenen Organisationen, Indianerbehörde und NROs drehen.

Manchmal besucht uns ein Anführer der Xavante aus Mato Grosso hier im Büro, der irgendwelche Angelegenheiten mit der FUNAI zu regeln hat. Er plaudert ein wenig, und bevor er wieder geht, nimmt er mich beiseite, jedesmal, und sagt mir in verschwörerischem Tonfall, dass ich doch Dirk anrufen soll und ein Projekt für die Xavante klarmachen. Ich kenne keinen Dirk, aber der Xavante hat mich wissen lassen, dass Dirk bei der UNO ist und auch Deutscher. In den Augen des indianischen Anführers heißt das scheinbar, dass a) Dirk und ich uns kennen müssen und b) ich einen gewissen Einfluss auf Dirk habe. Tatsächlich ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig: Auf dem Parkett der internationalen Zusammenarbeit in Brasilien, auf dem ich mich zur Zeit bewege, kennt man sich. Der Xavante hat nur das Pech, dass er mit mir an einen unbedarften Praktikanten der GTZ geraten ist, der schon froh ist, gerade mal die Hälfte der wichtigen Namen und Abkürzungen verinnerlicht zu haben und inzwischen den Gesprächen seiner Kolleginnen und Kollegen einigermassen folgen zu können.


Jedenfalls: Um den komplizierten verwaltungstechnischen und gesetzesbedingten Vorgaben für den Empfang von Projektgeldern gerecht zu werden, braucht es eine juristische Person. Eine indigene Gemeinschaft kann keine juristische Person sein, dafür braucht es einen eingetragenen Verein, also eine indigene Organisation. So entsteht manch eine solche Organisation erst im Rahmen der Ausarbeitung eines Projektes zwischen indianischen Anführern, Repräsentanten der Indianerbehörde, ethnologischen und sonstigen Beratern und NROs. Und manch eine verschwindet dann auch wieder oder wird zur Karteileiche, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Andere dagegen haben eine lange Geschichte des Kampfes um indianische Rechte, so die FOIRN (Federação das Organizações Indígenas do Rio Negro) aus dem Rio-Negro-Gebiet im äußersten Nordwesten des Landes.

Je umfassender das Gebiet ist, das eine solche Organisation unter ihrer Schirmherrschaft vereinigen will, desto mehr machen sich interkulturelle Verständigungschwierigkeiten bemerkbar - und zwar nicht zwischen Weißen und Indianern (die gibt es natürlich weiterhin auch), sondern zwischen Indianern und Indianern, die untereinander kulturell durchaus verschiedener sein können als, sagen wir, Dänen und Iraner. So will die Koordination der indigenen Organisationen des brasilianischen Amazonasgebietes (COIAB) zwar ihrem Namen gerecht werden und alle Indianerorganisationen Amazoniens unter einer Flagge vereinen, aber einige ihrer Vertreter selbst lassen durchblicken, dass sie zum Beispiel mit den Gruppen der Gê-Sprachfamilie (zu denen unter anderen die Xavante gehören) nicht besonders gut zurechtkommen. Hier tut sich womöglich ein neues Arbeitsfeld für Ethnologen auf, die es ja bekanntermaßen mit der Arbeitssuche ohnehin nicht besonders leicht haben: Es gilt, im Auftrag der indigenen Organisationen dem einen Indianer zu erklären, wie der andere Indianer tickt, und umgekehrt.

Bisher begegnet man den Schwierigkeiten der Verständigung in diesem überaus komplizierten Gefüge aus Beziehungen zwischen weißen Brasilianern, internationalen Weißen, verschiedenen brasilianischen Indianern und den jeweils unterschiedlichen Organisationskulturen einer jeder dieser Gruppen mit einer großen Zahl von Seminaren, Kongressen und Treffen.

Auf einem solchen befinde ich mich, als ich in die Augen des Wilden blicke. "Gehen wir mit den anderen Indianern sprechen", sagt dann der Wilde und deutet auf die angeregt den Verlauf des heutigen Workshops diskutierende Gruppe am Ende des Ganges. "Vielleicht können wir ein kleines Stückchen Land für dich rausschlagen. Da kannst du dann Sauerkraut pflanzen."

Text + Fotos: Nico Czaja

[* Mário Juruna, zit. nach De Sousa (1978): Juruna, der Wilde mit dem Tonband oder: Die unvernünftige Zivilisation. In: Münzel (Hg.) Die indianische Verweigerung. Lateinamerikanische Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 42]

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