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[art_3] Brasilien: Jetzt wirds ernst! - Ein Ausblick auf die Fußball-WM 2014
 
2014 ist da, das Jahr der angeblich größten, der Mutter aller Fußballweltmeisterschaften. Endlich!

Es war ja auch schon nicht mehr zu ertragen, diese ewigen Berichte über infrastrukturelle Verspätungen, und dann die ständigen sinnlosen Kommentare über die Favoriten auf den WM-Sieg - ist doch sowieso alles klar wie Kloßbrühe. (Trotzdem sag ichs noch mal ganz langsam für alle...): Zum ersten: es sind sowieso immer die gleichen Teams, die von den sogenannten Experten besserwisserisch aufgelistet werden: natürlich zuerst Brasilien, die haben schließlich schon fünfmal gewonnen! Und zudem spielen sie angeblich auch noch daheim (böse Zungen meinen allerdings, dass sie zuletzt viel öfter in London, Moskau oder der Schweiz aufgetreten sind – und könnten somit in Brasilien Probleme mit dem Klima bekommen...) – klarer Favorit also, da muss man kein Einstein für sein.


Danach ist direkt Argentinien zu nennen, weil die ja praktisch auch zuhause spielen. Zudem haben sie mit Messi den Zwerg unter den Kickergiganten mit an Bord. Und alle um Messi herum spielen zudem auch nur bei den Sahneklubs. Und natürlich Italien, einfach weil es Italien ist, das heißt, dass sie umso gefährlicher werden je schlechter sie spielen. Und spielen sie mal gut, hauen sie auch alle weg.

Dazu kommt noch Spanien, weil die ja alle drei Turniere gewonnen haben, an denen sie in den letzten Jahren teilgenommen haben. Und Deutschland, die ja immer bis ins Halbfinale kommen (und dann dort scheitern) mit ihren Jungtalenten – das scheint vielversprechend (oder nur viel versprechend?). Und die Franzosen – warum? Weil die ständig die Brasilianer aus den Turnieren werfen.

Manche setzen noch auf Uruguay und Belgien, weil sie entweder schon einmal Brasilien daheim den Titel geklaut haben (1950 im Maracanã, für alle Ungebildeten) oder aber derzeit über äußerst außergewöhnliche Spieler verfügen. Außergewöhnlich gut dafür, dass sie Belgier sind, meine ich. Mal sehen, obs bei denen was wird.

Und die besagten Bauprojekte der WM, das angebliche wirkliche Erbe der WM, das dem "Land des Fußballs" auf ewig erhalten bleiben wird? Um mal mit den Stadien anzufangen: die sind (fast) alle sterbens schön. Mit Ausnahme des Itaquerão in São Paulo, das eher wie ein Schuhkarton aussieht. Stadien müssen rund sein, der Ball ist es ja auch. Sechs, setzen!


Aber die Fonte Nova, jenes spektakuläre Stadion in Salvador, mit eingebauten Blick auf die „Dique do Tororó" Laguna, oder das Maracanã in Rio und die umgebauten Mineirão, in Belo Horizonte und Castelão, in Fortaleza, alles wunderbare Arenen mit einem chick-modernen Charme und ganz eigenem Charakter.

Eine Schande nur dass die wunderschönen Stadien in Brasília, Natal, Manaus und Cuiabá einer ungewissen Zukunft entgegen sehen. Ohne gutes Team und ohne Fans kann man sich nicht vorstellen, wozu man die Betonklötze nach der WM brauchen könnte.

Und der Rest der ganzen Infrastruktur, die Flughäfen und Hotels? "Jetzt können mich die Airports mal, und auch der Taxifahrer, der kein Englisch spricht – alles total egal. Jetzt wird der Fußball herrschen, und wie wir alle wissen, macht Liebe schließlich blind!" Solch interessante Worte schrieb zuletzt Nizan Guanaes. Ob er da Recht hat? Die Zeitschrift Veja schrieb gerade, dass Brasilien die WM zwar durchaus auf dem Rasen gewinnen, sie aber gleichzeitig außerhalb des eckigen Grüns verlieren könne. Kann so etwas sein? Schließlich ist Brasilien ja als "Land des Fußballs" bekannt, und nicht als "Land der exakten Planungen und der tollen Infrastruktur". Der anreisende Tourist wird mehr Wert auf die Bauprojekte als auf den Fußball legen? Glaub ich mal nicht. Und woher stammt eigentlich die seltsame Idee, dass Menschen, die gut gegen einen Ball treten können, gleichzeitig Baumeister ägyptischen Rangs sein müssen? Die haben ja auch Jahrhunderte für ihre Pyramiden gebraucht und hatten dabei kein kontinental großes Land mit schreienden sozialen Problemen in ein deutsches Autobahnkreuz zu verwandeln.


Vielleicht stammt diese verquere Idee ja aus dem Kopf des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der der Welt gerne ein Brasilien zeigen wollte, das so gar nicht existiert. Aber solch ein Megaevent zu organisieren, wird halt leicht zur Frage nationaler Ehre. Klar, dass mit solch einer Denke die Proteste gegen die Geldverschwendung nach FIFA-Auflagen nur stören. Was da beim ConFedCup im Juni 2013 auf den Straßen des Landes geschehen ist, muss für solche Leute eine glatte Schande sein. Ich persönlich denke da anders, hat sich die Zivilgesellschaft doch endlich mal bewegt und aufgezeigt, wo die Prioritäten liegen sollten. Mehr bewegt sogar als die Regierung, die lieber "Hossa, Hossa" brüllt. Solche Proteste während der WM wären für Brasilien mittelfristig wohl wichtiger als der WM-Titel.

Aber das sagt natürlich ein Deutscher. Brasilianer sehen das bekanntlich anders. So schrieb doch der brasilianische Anthropologe Roberto DaMatta tatsächlich, dass die Niederlage bei der Heim-WM 1950 "wohl die größte Tragödie der brasilianischen Gegenwart" gewesen sei. Ähem? Ich denke da an die sozialen Probleme und die Gewalt, die jedes Jahr 50.000 Menschen in den Großstädten dahinrafft. Das erscheint mir doch etwas tragischer, Herr DaMatta, oder? Wie ein Anthropologe, der ja eigentlich die menschliche Existenz in seiner Totalität erkunden soll, seinen Job einem einzigen Fußballspiel opfern kann, bleibt mir ein Rätsel.


Vielleicht sollte man mal die Deutschen fragen, ob die Niederlage daheim 2006 die größte Tragödie der Neuzeit war oder die Italiener, die 1990 auch nicht auf dem eigenen Rasen gewinnen konnten. Nach einem Jahrhundert voller gruseliger Weltkriege dürften die ihre Meinung über Tragödien grundsätzlich geändert haben.

Wir wollen mitreißende Spiele sehen, viele Tore, hohe Fußballkunst. Mögen die Besten gewinnen. Fußball ist letztendlich bloß ein Spiel, oder sollte es sein. Ein Land danach zu beurteilen, wie gut oder schlecht es gegen eine Lederkugel treten kann, ist dann doch zu viel. Aber im Fall von Brasilien liegt das ja bekanntlich anders – "Land des Fußballs" nennt man sich ganz bescheiden, und da muss ich dann ernsthaft um die geistige Gesundheit der Brasilianer fürchten. Bitte denkt daran, dass Fußball nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, genau wie Telenovelas. Daher: bitte ein weniger Dramatik, sonst wird euch das Jahr 2014 noch die zweitgrößte Tragödie eurer jüngsten Geschichte bescheren, auf dem Platz oder daneben. Oder beides. Mögen die Spiele beginnen!

Text + Fotos: Thomas Milz

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