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[art_4] Bolivien: Zu Gast beim Kallawaya-Arzt

Don Eugenio legt Wattenester auf den Opfertisch und platziert in diese Cocablätter, Nelkenblüten, Lamafett, Kopalharz und Figürchen aus Zucker. Er wird eine Zeremonie für uns durchführen. Die Vorbereitungen dafür sind zeitaufwändig und erfordern hohe Konzentration.


Don Eugenio ist Medizinmann. Er gehört dem Volk der Kallawaya an, das in der Cordillera Apolobamba im Nordosten Boliviens lebt. Die Kallawaya sind für ihre außergewöhnliche Heilkunst bekannt. Im Jahr 2003 hat die UNESCO sogar ihre andine Kosmovision zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. Auf der Suche nach neuen Heilpflanzen zogen früher Kallawaya-Ärzte durch Südamerika. Deshalb kennen die Heiler heute die medizinischen Wirkungen von über 900 Kräutern und Gräsern. Sie kombinieren dieses Wissen in Ritualen mit Zaubersprüchen und Massage. Don Eugenio hat die Gabe zu heilen von seinem Vater geerbt. Er ist überzeugt davon, dass die Menschen dann krank werden, wenn das Seelenleben aus dem Gleichgewicht gerät. "Ich gebe meinen Patienten die Lebenskraft zurück, indem ich die Balance zwischen Körper und Seele wiederherstelle", erklärt Don Eugenio.


Wir haben früh am Morgen seinen Hof verlassen und sind zu einem abgelegenen Opferplatz gewandert. Von hier aus sieht man den Schnee bedeckten Akhamani, den heiligen Berg der Kallawaya. Als Assistentinnen hat Don Eugenio seine Frau Arminda und seine Schwägerin Juana mitgenommen. Cocablätter kauend haben sie geholfen, den Opfertisch herzurichten. Nun tunkt Don Eugenio einen Nelkenstrauß in Portwein, besprenkelt mit diesem die Opfernester und murmelt Gebete in der Ritualsprache Machchaj-Juyai. Auch wir werden aufgefordert, den Berggöttern Alkohol verspritzend unsere Wünsche anzuvertrauen. "In welcher Sprache?", möchten wir wissen. "Das ist egal. Auf deutsch, wenn ihr wollt", erwidert Don Eugenio selbstsicher. Er ist ein Mittler zwischen Göttern und Menschen. Als solcher erfährt er hohe Anerkennung und ist eine Autorität in seinem Dörfchen Llajlla Pampa.


Plötzlich liegt eine nervöse Unruhe in der Luft. Don Eugenio nimmt eine Walnuss vom Opfertisch und öffnet sie vorsichtig. Unsere Gastgeber beginnen zu strahlen. Der Kern ist hellbraun und gesund. "All eure Wünsche werden in Erfüllung gehen", verkündet Doña Juana erleichtert. "Wäre die Walnuss innen schlecht, würde euch Unglück drohen."


Um positive Energien anzulocken und negative zu vertreiben, verbrennt Don Eugenio abschließend alle Opfergaben in einem kleinen Feuer. Er kontrolliert die Flammen. Dem aufsteigenden Rauch entnimmt er göttliche Botschaften. Don Eugenio hat die Zeremonie mit viel Hingabe zelebriert. Inklusive der vorbereitenden Handlungen wurden zwei Stunden benötigt. Leider verlieren die Jahrtausende alten Rituale der Kallawaya an Bedeutung, weil immer mehr Indígenas in die Städte abwandern.


Die Cordillera Apolobamba ist eine der abgelegensten Regionen Boliviens. Zwar besticht die Andenlandschaft mit spektakulären Gletscherriesen, das Leben in Höhen über 3500 Meter ist aber entbehrungsreich und hart. "Wir leben vom Kartoffelanbau und der Lamazucht", erzählt Don Eugenio. Gemeinsam mit seiner Familie bewohnt er ein Steinhaus, das mit Ichu-Gras gedeckt ist. Strom gibt es nicht und gekocht wird über dem offenen Feuer.


Zurück auf seinem Hof lädt uns Don Eugenio zum Kartoffelessen ein. Die gegarten Erdäpfel liegen auf einem Tuch auf dem Boden und wir sind von ihrer Vielfalt begeistert: Es gibt große und kleine, runde und längliche, gelbe und braune, manche sind innen sogar lilafarben. Keinen Gefallen finden wir an Chuños, gefriergetrockneten Kartoffeln, die bitter-erdig schmecken und ein wichtiges Nahrungsmittel der Andenbevölkerung sind. Beim Gefriertrocknen verlieren die Kartoffeln Dreiviertel ihres Wassers. So können sie mehrere Jahre gelagert werden und bei Missernten den Indígenas das Überleben sichern.


Zwischenzeitlich hat Doña Juana vor ihrem Haus einen Webstuhl aufgebaut. Sie arbeitet momentan an einem Gürtel, den die Frauen zu ihren farbenfrohen Trachten tragen. "Alle Webwaren zeigen Motive, die unsere andine Weltanschauung widerspiegeln", erklärt Doña Juana stolz. Unvermittelt dringt aus der Tasche ihres Faltenrocks ein Geräusch, das überhaupt nicht hierher passen will: Handy-Klingeln! Langsam hält der Fortschritt Einzug in Llajlla Pampa. Nach dem Telefonnetz hofft Don Eugenio nun auch auf Elektrizität, denn nur so kann seines Erachtens die Landflucht gestoppt werden. "In der Hoffnung auf ein komfortableres Leben verlassen vor allem junge Menschen die Cordillera Apolobamba. Ich will nicht, dass unsere Traditionen verloren gehen. Deshalb bleibe ich mit meiner Familie hier wohnen", so der Kallawaya-Arzt. Wir aber müssen weiter, bedanken uns für die Gastreundschaft und wünschen Don Eugenio aus ganzem Herzen viel Erfolg beim Bewahren der Bräuche seiner Vorfahren.

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de

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