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[art_3] Peru: Ayacucho und seine Vergangenheit
 
"Hier muss man großes Vertrauen in Leute haben, die man nicht kennt", meint meine Begleiterin während ich mit einem bangen Gefühl im Magen in den Abgrund jenseits der Fensterscheibe des Busses schaute. Vor etwa zwei Stunden ist die asphaltierte Straße von Huancayo nach Ayacucho zur steinigen Piste geworden, die in einen Berghang oberhalb eines Canyons gemeißelt ist. Alle paar Kilometer sind Kreuze am Fahrbahnrand aufgestellt, die uns daran erinnern, dass wir uns auf einer der gefährlichsten Routen des peruanischen Hochlands befinden.

Doch bisher wurde keine Leitplanke installiert und so trennt uns nur die umsichtige Fahrweise des chofers in Verbindung mit ausbleibendem Gegenverkehr von größeren Panikattacken. Ziemlich durchgeschüttelt kommen wir eine Reifenpanne sowie einen halben Tag später wohlbehalten in Ayacucho (150.000 Einwohner) an.

Ayacucho entpuppt sich als gemütliches Andenstädtchen, dessen Bewohner uns ähnlich freundlich-unaufdringlich begegnen wie die Huancayos. Aber im Gegensatz zu Huancayo sind die Straßen Ayacuchos mit Vergangenheit gepflastert. So wurde die Region im Laufe der Jahrhunderte mehrfach an die Oberfläche der peruanischen Nationalgeschichte geschwemmt – und hat manche Narbe davongetragen, die man in Anbetracht der Freundlichkeit der Bewohner nicht vermuten würde.

1. Zu Zeiten, als Europa im dunklen Mittelalter verharrte, war die Region rund um Ayacucho Sitz einer Hochkultur. Die Wari errichteten zwischen 500 und 1100 nach Christus ein Imperium, das zu seiner Blütezeit zwei Drittel der Fläche des heutigen Perus umfasste.

Wenn die Überlieferungen wahr sind, war der Antrieb der Wari nicht Größenwahn, sondern das Bestreben, neue Märkte für ihre Produkte zu erschließen. Ihre 50.000 Einwohner große Hauptstadt hatte der Händlerstamm auf einer Bergschulter einige Kilometer vom heutigen Ayacucho entfernt errichtet.

Heutzutage ist von der Wari-Hauptstadt nur noch ein 1.500 Hektar großes von Mauerresten, die im Laufe der Jahrhunderte von Kakteen überwachsen und vom Wüstenwind erodiert wurden, übersätes Gebiet übrig geblieben. Beim Spaziergang durch die Ruinen fühlt man sich dennoch in die damalige Zeit zurückversetzt. Für einen kurzen Moment konnte ich mir vorstellen, wie hier einst eine pulsierende Handelsmetropole dem rauen Hochlandklima trotzte.

2. Nicht unweit der Wari-Ruinen, am Rande des kleinen Dörfchens Quinua, wurde ein weiteres Stück peruanischer Geschichte geschrieben. Auf einem Hügelkamm, der das Tal von Ayacucho überblickt, besiegten im Jahr 1824 5.000 Peruaner 8.000 Royalisten und besiegelten damit die Unabhängigkeit Perus vom spanischen Imperium.

Ein 40 Meter hoher Obelisk erinnert an die Schlacht, die sich wie kaum eine andere ins peruanische Nationalgedächtnis eingebrannt hat. Auf dem ehemaligen Schlachtfeld durchstreift der Wind vertrocknetes Gras und Kinder lassen Drachen steigen. Auch hier konnte ich mir  ausmalen, wie an dieser Stelle einst gelitten und getötet wurde. Viele Peruaner scheinen sich zu dem Denkmal hingezogen zu fühlen – die Stätte war von einheimischen Touristen regelrecht überlaufen.



3. Das letzte geschichtsträchtige Kapitel Ayacuchos liegt nicht mal drei Jahrzehnte zurück. Die maoistischen Guerillas des Leuchtenden Pfades überzogen in den 80er Jahren (nach dem Ende der Militärdiktatur und der Etablierung einer demokratischen Regierung) die zentrale Andenregion mit einer blutigen Terrorkampagne. Anfang der 90er Jahre weitete sie sich auf ganz Peru aus. Ihren Ursprung nahm der bürgerkriegsähnliche Konflikt in Ayacucho, dessen Umland auch einen Großteil der über 60.000 Opfer zu beklagen hatte. Die Schuld ist hierbei nicht alleine den Rebellen zuzuschieben, denn die 1982 ausgesandte Armee wütete auf der Suche nach Guerillas mindestens genauso schlimm, besonders unter der indigenen Bevölkerung. Bis zur Verhaftung der Führungsriege des Sendero Luminoso im Jahr 1992 wurden Provinz-Politiker ermordet, Hilfsprojekte zerstört, etliche Menschen verschleppt und gefoltert sowie ganze Dörfer ausgelöscht. Die Aufarbeitung dieser traumatisierenden Epoche hat erst in diesem Jahrtausend begonnen.

Initiierend dabei war unter anderem der von Witwen gegründete Anfasep-Verein (Asociacion Nacional de Familiares de Secuestrados Detenidos y Desaperacidos del Peru), der ein Museum in Ayacucho betreibt.

Einen sehr guten, obgleich etwas skurrilen Einblick gibt auch das Buch "Tod in den Anden" des peruanischen Literatur-Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa.

Obwohl wir zuvor schon mehrere Wochen in Peru unterwegs waren, bekamen wir erst durch diese "Geschichtsstunde" einen Einblick in die peruanische Seele. Es schien uns eine stolze Seele zu sein, die das Leid der Vergangenheit mit Fassung trägt, neben der lateinamerikanischen Gastfreundschaft aber auch einen Funken Skepsis in ihrem Inneren einschließt. Erst nach Ayacucho glaubten wir verstanden zu haben, weshalb das so ist.

Text + Fotos: Robert Gast

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