[art_7]
Venezuela: Spaß durch Improvisation
Im Interview mit der Pianistin Gabriela Montero
Die Venezolanerin Gabriela Montero gehört zu den besten Pianistinen weltweit. In der klassischen Musik ist sie die einzige, die mit Improvisation arbeitet. Vor allem darauf basiert ihr großer Publikumserfolg. Torsten Eßer sprach mit ihr über Musik für Eliten, El Sistema und Improvisation.
Sind Sie eigentlich, wie so viele venezolanische Musiker, in der Jugendorchesterbewegung ausgebildet worden?
Nein, ich bin nicht in El Sistema ausgebildet worden, aber ich trete schon sehr viele Jahre immer wieder mit dem Orchester auf, zwei- bis dreimal jährlich. Ich bewundere die Leistung des Gründers José Antonio Abreu und bin mit Gustavo Dudamel befreundet.
|
|
In meiner Familie gibt es keine Musiker; klassische Musik wurde zuhause nicht gehört. Ich hatte Privatunterricht und erst als die Musiklehrer meinen Eltern sagten, dass ich Talent hätte und das wichtig für mich sei, kauften sie einige Platten.
Gibt es überhaupt Musikunterricht an den staatlichen Schulen in Venezuela?
Selten, es fehlt an Lehrern und Material. Klassische Musik ist in staatlichen Schulen kein Thema.
Wie kam es zu der Idee, am Ende der "normalen" Konzerte mit dem Publikum zu interagieren?
Ich habe schon als Kind improvisiert, das war für mich völlig normal. Dann habe ich das viele Jahre nicht gemacht, weil mir eine Lehrerin davon abgeraten hatte. Erst vor sieben, acht Jahren habe ich wieder damit angefangen, nachdem die große Pianistin Martha Argerich mich dazu ermutigt hatte. Und dann kam die Interaktion automatisch hinzu, denn in der Welt der Klassik existiert ja keine Improvisation und wenn man dann so vor sich hin spielt, versteht keiner, was man da macht. Also habe ich es dem Publikum erklärt und es dann gebeten, mir Themen vorzusingen, die ich für meine Improvisation nutzen kann.
Wieso ist die Improvisation in der Klassik verloren gegangen?
Vielleicht, weil durch weniger Freiheit mehr Ernsthaftigkeit erreicht wird. Aber im Grunde nimmt es der Musik den Sauerstoff. Wenn man sich vorstellt, dass Beethoven, Bach, Mozart usw. alle große Improvisationstalente waren, dann macht es keinen Sinn, dass die Freiheit nicht auch Teil des kreativen Prozesses in der klassischen Musik sein soll.
Glücklicherweise haben die Jazzer diese Fähigkeit gerettet...
Ja, das stimmt.
Könnten Sie sich vorstellen, ein Jazzalbum einzuspielen?
Eher nein, denn die Klassik ist mein Metier; auch wenn viele meiner Improvisationen jazzig sind, weil mir diese Art Musik gefällt. Aber als Jazzpianistin aufzutreten, hieße in einer anderen Haut zu stecken, das geht nicht.
Improvisieren Sie über alles?
Ja, da ich über alles improvisieren kann. Manchmal bitte ich das Publikum allerdings, nicht so seltene Themen auszuwählen, da es wesentlich schöner ist, wenn alle mitmachen können und etwas davon haben.
Reagiert das Publikum je nach Land unterschiedlich?
In einigen Ländern brauchen die Leute etwas länger, aber meistens ist die Begeisterung nach der ersten Improvisation so groß, dass es von alleine läuft. Auch hier in Deutschland ist die Reaktion immer überschwänglich. Dann singen hunderte Besucher ein Volkslied mit mir.
Mit etwas mehr Spaß kann man vielleicht auch andere Schichten als immer nur die Elite für klassische Musik interessieren?
In meinen Konzerten sitzen jung und alt gemischt, Musikkenner genauso wie einfache Leute, die vielleicht zum ersten Mal ein Werk von Brahms hören. Das ist nicht beabsichtigt, es ist lediglich die Konsequenz aus der Art meiner Konzerte. Wenn ich Spaß habe, dann hat das Publikum auch Spaß.
Das ähnelt sehr der Idee von Sr. Abreu!
Das liegt am venezolanischen Wesen. Wir begeistern uns für jede Art von Musik und wenn wir sie spielen, sind wir dabei sehr expressiv. Diese Freude und Spontaneität überträgt sich auf das Publikum und alles wird zu einem Fest der Musik.
Besitzen venezolanische Pianisten auch den tumbao, wie die Kubaner?
Als Latina habe ich zwar viel Rhythmus im Blut, aber wenn ich die Klassiker interpretiere, kommt das nicht zum Vorschein. Allerdings habe ich ja auch in Europa und den USA studiert. Doch wenn ich improvisiere, habe ich natürlich den
tumbao; es gefällt mir, ihn dann rauszulassen.
Sie sind eine Bewunderin des Pianisten Friedrich Gulda…
Martha Argerich hatte noch bei ihm studiert und erzählte oft von ihm. Sie sagte immer zu mir, wie schade es sei, dass ich ihn nicht kennen lernen konnte. Ein großer Pianist, einige seiner Aufnahmen sind unglaublich. Außerdem hat er immer gemacht, was er wollte, egal, ob anderen das gefiel oder nicht. Ein bißchen exzentrisch und verrückt halt, das finde ich gut.
Sie haben zu Barack Obamas Amtseinführung gespielt?
Ja, das war ein sehr bewegender Moment. Er ist für mich eine wichtige Figur im Hinblick auf eine Veränderung der Welt. Intelligent, würdevoll und aufrichtig. Ich setze große Hoffnungen in ihn.
Sehen Sie das bei Hugo Chávez auch so?
Hier kommen wir vom Positiven zum Negativen. Mehr fällt mir dazu nicht ein...
Aber er beruft sich auf Simón Bolívar...
Bolívar war ein großer Politiker, der heute in einigen Aspekten wohl missverstanden oder -gedeutet wird. Ein Mann mit Visionen und Willenskraft, der meines Wissens immer zu Ende brachte, was er sich vorgenommen hatte...
Text + Foto: Torsten Eßer
Cover: amazon
[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]